Der Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg hat am 14. Dezember 1989 Jürgen Habermas die Ehrendoktorwürde verliehen. Udo Bermbach ging in seiner Rede auf die bisher unabgegoltenen politikwissenschaftlichen Anregungen in Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns (1981) ein. Wir veröffentlichen im Folgenden einen Ausschnitt aus seiner Laudatio.
Udo Bermbach war von 1971 bis 2001 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Hamburg und gehört zu den Gründern der Sektion für Politische Theorie und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Sein Aufsatzband Demokratietheorie und politische Institutionen erschien 1991. Bermbach hat in einer Reihe von Publikationen seit den 1990er Jahren das Musiktheater, insbesondere das Gesamtkunstwerk Oper bei Richard Wagner, für die politische Ideengeschichtsschreibung erschlossen.
Es ist hier nicht der Ort, sich erneut mit der „Theorie des kommunikativen Handelns“ auseinanderzusetzen – das ist zudem inzwischen in einem Ausmaße geschehen, national wie international, daß die Ergebnisse mehrere Bücher füllen. Erstaunlich freilich bleibt die Tatsache, daß es in dieser breit geführten Debatte nur wenige, spezifisch politikwissenschaftliche Beiträge gibt. Das mag damit zu tun haben, daß – wie schon erwähnt – die Politikwissenschaft, mehr noch als die Soziologie, sich in policy-Analysen verbraucht und den Glauben an die Formulierbarkeit weitgespannter Theoriekonzepte offensichtlich längst verloren und aufgegeben hat; es mag vielleicht auch damit zu tun haben, daß in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ die philosophisch-theoriensystematischen Argumentationslinien dominieren und dort, wo aktuelle politologische Fragestellungen in den Vordergrund treten – vornehmlich in der Beschreibung der „Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie“[1] – die dem Politologen wichtige Analyse von Institutionen, der Organisation von politischer Artikulations- und Entscheidungsfindung ein wenig am Rande der analytischen Aufmerksamkeit stehen. Wie auch immer – ich denke, gerade die heutige Politikwissenschaft in ihrer policy-Versessenheit hätte gewiß allen Anlaß, sich ihrer alten Bestimmung, „Demokratiewissenschaft“ (Fraenkel) sein zu wollen, erneut und mit Nachdruck zu erinnern; und sofern sie dies tut, auch zu fragen, an welchen theoretischen Diskussionszusammenhang sie anschließen müsste, um ihrer Theoriebildung die verlorengegangene Normativität in einer angemessenen Weise wieder zurückgewinnen zu können. Ein solcher Anschluß freilich dürfte, wie die Normenbegründungsdebatte der späten siebziger Jahre gezeigt hat, nur dann einigermaßen aussichtsreich sein, wenn er als Versuch einer kommunikationstheoretischen Grundlegung unternommen wird.
Dafür nun bieten Ihre Arbeiten, vornehmlich die „Theorie des kommunikativen Handelns“ konstitutive Anknüpfungsmöglichkeiten, von denen ich hier, ohne sie ausführen zu können, doch kurz, vier Punkte andeuten möchte – wobei ich hoffe, daß meine Verkürzungen nicht allzu viele Mißverständnisse hervorrufen werden.
Man muß heute wohl davon ausgehen, daß demokratietheoretische Konzepte in normativer Absicht sich nicht mehr auf Naturrecht, auf Geschichtsphilosophie oder Metaphysik berufen, sondern die Gründe ihrer Rechtfertigung im wesentlichen nur noch aus zwei Richtungen beziehen können: zum einen aus der Idee, daß ihre strukturellen Bedingungen der gesellschaftlichen Organisation von Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen an das Prinzip des Argumentierens gebunden sind, zum anderen, daß diese Bindung selbst sich einem historischen Prozeß verdankt. Dieser letzte Gesichtspunkt verweist auf die von Ihnen – etwa in der „Rekonstruktion des historischen Materialismus“ – vorgetragenen lern- und sozialisationstheoretischen Annahmen eines evolutionären Entwicklungsmodells, in dem die jeweiligen Stufen der geschichtlichen Entwicklung im Sinne normativer Festlegungen von gesellschaftlichen Standards identifiziert und als nicht ohne weiteres hintergehbar ausgewiesen werden können. Es scheint mir dies ein Modell zu sein, das – erwachsen aus der Skepsis gegenüber einer hegelianisch eingefärbten Geschichtsmetaphysik – die politischen Institutionenkonzepte der Neuzeit so auszulegen erlaubt, daß sie Demokratie eröffnen und in eine demokratische Entwicklung selbst eingebunden werden können. Die moderne Demokratie erweist sich in dieser Perspektive als eine Konsequenz des historischen Prozesses der Moderne, durchaus gefährdet zwar, aber doch prinzipiell angelegt in den systemischen Strukturen moderner Gesellschaften, einigermaßen gesichert in deren durch Institutionen sich vollziehenden Mediatisierungen, schließlich auch im Bewußtsein der handelnden Subjekte verankert. Wenn dies zutrifft, dann hätte Demokratietheorie – und dies ist ein erster Gesichtspunkt – die in den jeweiligen Stufen der Entwicklung eingelassenen Standards als eine normative Ausgangsbasis zu thematisieren.
Eine weitere Grundlage ließe sich finden im Konzept der ‚Lebenswelt‘, wie es in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwickelt worden ist. Definiert als „unproblematisierte Hintergrundüberzeugungen“[2], könnte ‚Lebenswelt‘ politiktheoretisch so aufgenommen werden, daß sie als ein normativer Bezugshorizont fungiert, der infolge der Ablagerung historisch gewachsener und alltäglich stabilisierter Traditionen einen relativ festen Rahmen für individuelle wie kollektive Handlungs- und Verhaltensorientierungen bereitstellt. Die in der Lebenswelt sedimentierten Sozialerfahrungen eines gesellschaftlichen „Kollektivbewußtseins“[3] geben gleichsam das materielle Fundament ab, auf dem demokratische Institutionen aufruhen und aus dem sie in erheblicher Weise ihre politische Legitimität beziehen. Dies unterstellt, wäre dann der Gesichtspunkt zu thematisieren, daß die politischen Institutionen einer Demokratie wesentlich ihre Anerkennung ziehen aus dem Kongruenz- bzw. Korrespondenzerlebnis ihrer organisatorischen Beschaffenheit wie ihrer politischen Handlungsbestimmungen mit den lebensweltlichen Kontexten alltäglicher Kommunikation.
Eine solche Thematisierung lenkt dann den Blick auf das Problem der Institutionen selbst. Sie finden in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ als Scharniere zwischen System und Lebenswelt ihren systematischen Ort; aber die mit ihnen verbundenen Probleme stehen, gemessen etwa am vorliegenden Bestand von Institutionentheorien, nicht wirklich im Zentrum des theoretischen Interesses. Bestimmt als jene organisatorischen Verdichtungen, „die jeweils einen neu auftretenden Mechanismus der Systemdifferenzierung in der Lebenswelt verankern“[4], werden sie primär aus einer systemischen Perspektive gesehen. Zu fragen wäre aber doch auch, ob demokratietheoretisch diese Perspektive nicht umgekehrt werden kann und sollte? Können politische Institutionen nicht ebenso als jene Transferinstrumente aufgefaßt werden, die die normativen Orientierungen innerhalb der Lebenswelt an das System weitergeben, die dafür sorgen, daß dessen Funktionieren der Lebenswelt verpflichtet bleibt? Können sie nicht so verstanden werden, daß die Chancen eines demokratietheoretischen Entwurfs konzeptionell offengehalten werden? Gewiß: das ist zunächst eine Perspektive, die derjenigen der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ entgegensteht – aber ist sie wirklich völlig ausgeschlossen?
Schließlich: für diesen konzeptionellen Aspekt der institutionentheoretischen Formulierung von Demokratietheorie steht – neben der emphatischen Würdigung der Rechtsidee – mit dem Diskurs-Gedanken das entscheidende Modell zur Verfügung, und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen als „Projektion einer Willensbildung unter den idealisierten Bedingungen eines universellen Diskurses“, als „Leitfaden“[5], oder anders formuliert: als regulative Idee für Institutionalisierungsprozesse einerseits, zum anderen für immer wieder erneut zu bestimmende Verhaltensorientierungen des Einzelnen und der sozialen Akteure gegenüber den existierenden demokratischen Institutionen. Damit wird die Diskursidee, in gewißer Weise eine Strukturparallele zum Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit, zu einem tragenden Konstruktions-und Strukturprinzip einer normativ auftretenden Demokratietheorie.
Es mag hier mit diesen Hinweisen auf einen denkbaren politikwissenschaftlichen Theorieanschluß, der zentrale Überlegungen der „Theorie des kommunikativen Handelns“ aufnimmt, sie aber unter politikwissenschaftlichen Aspekten anders akzentuiert, sein Bewenden haben. […] Daß wir Sie heute in dieser Weise ehren dürfen, ist deshalb auch -und dessen sind wir uns sehr bewußt – Auszeichnung wie Verpflichtung für diesen Fachbereich.
[1] Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M 1981, Bd. II, S. 584ff.
[2] ebenda, S. 191
[3] ebenda, S. 203
[4] ebenda, S. 249
[5] ebenda, S. 145