Elvira Rosert über Andreas von Staden, Strategies of Compliance with the European Court of Human Rights. Rational Choice Within Normative Constraints (2018)

Andreas von Staden ist Juniorprofessor für Politikwissenschaft, insbesondere Global Governance, an der Universität Hamburg und Leiter des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „On the Causal (In)Significance of Legal Status: Assessing and Explaining Compliance with the ‘Views’ of the UN Human Rights Treaty Bodies“. Nach seiner Promotion in Princeton war er unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Technischen Universität Darmstadt und Assistenzprofessor für Internationale Organisation an der Universität St. Gallen tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind internationale Institutionen, Recht und Politik sowie Menschenrechte.

Elvira Rosert ist Juniorprofessorin für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Beziehungen, an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Sie wurde 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt promoviert, und hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Gießen, an der Professur für Internationale Institutionen und Friedensprozesse an der Goethe-Universität Frankfurt sowie an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung geforscht und gelehrt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind internationale Institutionen und (humanitäres) Völkerrecht.


Von liberalen Demokratien können wir erwarten, dass sie internationale Normen in der Regel einhalten werden. Doch es gibt verschiedene Optionen, was die Einhaltung – Compliance – umfassen muss, sollte oder kann. Wie und warum Demokratien sich für welche dieser Optionen entscheiden, ist die Leitfrage des Buches von Andreas von Staden. Der Autor formuliert eine „hybride Compliance-Theorie“, in der der Konstruktivismus Compliance-Motive, und der Rationalismus Compliance-Muster erklärt. Damit schließt er sich einerseits der vorherrschenden konstruktivistischen Auffassung an, dass internationale Normen das Akteursverhalten tatsächlich beeinflussen: Sie fungieren als normative Beschränkungen („normative constraints“) und erhöhen die Compliance-Neigung, indem sie Non-Compliance als Handlungsoption ausschließen. Andererseits integriert von Staden auch das rationalistische Paradigma in sein Argument: Akteure halten Normen zwar ein, streben jedoch danach, die Kosten von Compliance, sprich das Ausmaß von gesetzlichen Änderungen und politischen Maßnahmen, zu reduzieren – im Ergebnis kommt es zur sogenannten „minimalist compliance“; die Normen werden also nur zu einem gerade noch hinreichenden Mindestmaß eingehalten. Fälle der Normeinhaltung über dieses Mindestmaß hinaus werden nur dann vorkommen, wenn sich die Präferenzen der Akteure entsprechend ändern, Zwei-Ebenen-Spiele stattfinden, oder innerstaatliche Interessensgruppen Compliance durchsetzen (enforcement).

Um die Erklärungskraft der Theorie empirisch zu illustrieren, untersucht der Autor gründlich, wie Großbritannien und Deutschland auf Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) reagieren, die Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention feststellen. Die Studie bestätigt das Argument; zudem legt sie die Strategien offen, die die Staaten anwenden, um die Umsetzung der Urteile zu minimieren. So beschränken sie die ergriffenen Maßnahmen auf den jeweiligen Einzelfall oder Politikbereich, entschädigen für die Normverletzungen statt ihnen vorzubeugen oder führen Gegenreformen durch, die die Effekte der Urteile abmildern.

Die besondere Stärke des Buches ist sein bestechend klares Argument, das theoretisch gut begründet und empirisch überzeugend nachverfolgt wird. Von Stadens Theorie bietet interessante Einsichten über Compliance, sei es die Differenzierung zwischen verschiedenen Abstufungen von Compliance, die die binäre Compliance/Non-Compliance-Logik überwindet; die Relativierung der Bedeutung von Normdurchsetzung für Compliance; die unterschiedlichen Kosten verschiedener Compliance-Maßnahmen, oder die Erzeugung minimalistischer Compliance durch konfligierende Normen und innerstaatliche Institutionen. In den empirischen Kapiteln gelingt es dem Autor elegant, seine systematische, hypothesentestende Herangehensweise in interessanten Fallnarrativen zu verpacken und dabei ein Spektrum verschiedener menschenrechtlicher Probleme abzudecken. Darunter sind die Meinungsfreiheit, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung, der Schutz der Kinder vor körperlicher Bestrafung, das elterliche (insbesondere väterliche) Umgangs- und Sorgerecht, faire Gerichtsverfahren, das Wahlrecht für Gefangene oder die Sicherheitsverwahrung. Zwar werden in dem Buch auch gravierende Verstöße gegen die körperliche Unversehrtheit, etwa Folter(drohungen) und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, thematisiert – doch es sticht für etwas anderes heraus, nämlich für seinen Schwerpunkt auf dem Ausbau bürgerlicher, sozialer und politischer Rechte, der auf hohem Niveau in Demokratien mit hoher Menschenrechtsorientierung und mit einem guten Menschenrechtsausweis stattfindet (und nicht auf der Beendigung schlimmster, regelmäßiger und massiver Menschenrechtsverletzungen in nicht-demokratischen Regimen).

Das Argument der minimalistischen Compliance ist intuitiv nachvollziehbar, solide in zwei etablierten Theorietraditionen eingebettet und detailreich empirisch demonstriert – und doch bin ich nicht ganz überzeugt, ob seine beiden Annahmen, sprich die grundsätzliche verhaltensmotivierende Wirkung von Normen und der gleichzeitige Versuch, ebendiese Wirkung auf ein Minimum zu begrenzen, wirklich so gut miteinander vereinbar sind, wie das Buch suggeriert. Wenn die Akteure intrinsisch von der Angemessenheit derjeniger Normen, deren Verletzung ihnen vorgeworfen wird, überzeugt sind, ist dann die Annahme möglichst geringer Verhaltensänderungen mit dem Ziel minimal hinreichender Compliance tatsächlich plausibler als die Annahme einer möglichst vollumfänglichen Verhaltensanpassung, um dem eigenen Selbst- und Fremdbild zu entsprechen?

Zu weiteren Überlegungen lädt auch die Frage ein, wie Akteure mit den tiefen Widersprüchen zwischen ihren abstrakten normativen Einstellungen und der bruchstückhaften und widerwilligen Umsetzung in konkrete Verhaltensweisen umgehen. Der Autor deckt zwar eine Reihe von Mechanismen auf, die in minimalistischer Normeinhaltung resultieren (etwa Beschränkungen durch andere politische Institutionen oder die öffentliche Meinung, Pfadabhängigkeiten oder die Unterbestimmtheit von Normen, die ein Interpretationsspektrum eröffnen, nicht aber klare Handlungsanweisungen geben). Dennoch wäre es lohnenswert, einen Schritt zurückzugehen und zu theoretisieren, wie sich aus der Normakzeptanz die Absicht formiert, die Normeinhaltung zu beschränken.

Positiv hervorzuheben ist die (wenn auch eher implizite) normative Untermauerung dieses Buches, das eigentlich in klassischem theoriegeleitet-empirischen Gewand daherkommt. Andreas von Staden lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Menschenrechte von Individuen und Gruppen, denen es an Lobbys und Fürsprechern mangelt. Er schärft damit das Problembewusstsein und verleiht ihnen eine Stimme. Der Autor gesteht zwar zu, dass die Menschenrechtsverletzungen, um die es dem EGMR geht, in der Regel weniger schwerwiegend sein mögen als etwa systematische Verletzungen der Rechte auf Leben und Freiheit – nichtsdestotrotz, das betont er wiederholt, sind die Urteile des EGMR und die daraus resultierenden Umsetzungsmaßnahmen für die Betroffenen von enormer Bedeutung und beeinflussen ihr Leben maßgeblich. Angesichts der politischen Tragweite der Ergebnisse kommt das versöhnliche Ende des Buches – der Autor verweist auf die demokratische Legitimität minimalistischer Compliance – indes überraschend. Denn die Befunde hätten nicht nur eine etwas nachdrücklichere normative Positionierung erlaubt, sondern auch politische Handlungsempfehlungen nach sich ziehen können, wie die Herausforderung minimalistischer Compliance zu überwinden sei. Hierin, wie auch in Versuchen, die Theorie auf andere Politikbereiche und andere Demokratien zu übertragen, liegen mögliche Richtungen für die Weiterentwicklung dieser exzellenten Studie.

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