Joachim Raschke war von 1975 bis 2001 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und ist heute in der Agentur für Politische Strategie (APOS) tätig. Raschke hat 1985 die erste umfassende politikwissenschaftliche Monographie zum Thema Soziale Bewegungen verfasst, die Frank Nullmeier für Politik 100×100 besprochen hat. 1993 erschien seine Studie über Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind und 2007 (zusammen mit Ralf Tils) Politische Strategie. Eine Grundlegung.
Kai-Uwe Schnapp ist seit 2008 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Methoden an der Universität Hamburg und langjähriger Programmdirektor des Fachgebiets Politikwissenschaft. Schnapp leitet seit 2010 das Projektbüro Angewandte Sozialforschung am Fachbereich Sozialwissenschaften. Eine Besprechung seiner Monographie Ministerialbürokratien in westlichen Demokratien. Eine vergleichende Analyse (2004) für Politik 100×100 ist in Vorbereitung.
„Die Grünen“ (korrekt Bündnis 90/Die Grünen, seit 2012 so auch in Hamburg) feierten Anfang des Jahres 2020 ihren 40. Geburtstag. Und weil die Universität Hamburg im Jahr zuvor ihr 100-jähriges Bestehen beging und anlässlich dessen hier und da auf sich selbst schaute, ergibt sich ein doppelter Grund, sich ein Buch vorzunehmen, das die erste Dekade der Entwicklung der Grünen und ihren Übergang in die zweite beschreibt. Raschkes an der Universität Hamburg verfasstes „Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind.“ beschreibt nicht nur die frühe Entwicklungsphase der Grünen; das Buch steht in seiner Arbeitsweise auch, wie gleich zu zeigen sein wird, exemplarisch für eine bestimmte Phase der Politikwissenschaft.
Es ist schwer, einem Buch von 900 Seiten mit wenigen Worten gerecht zu werden, erst recht, wenn es nicht nur Geschichte beschreibt, sondern als (Wissenschafts)geschichte beschrieben werden soll. Aber vielleicht liegt darin der Ausweg; nicht eine klassische Rezension zu schreiben, die andere zum Lesen oder Wiederlesen anregen soll, sondern das Buch vor allem als Zeugnis der Politikwissenschaft seiner Zeit zu lesen und damit als Produkt eines bestimmten Wissenschaftsstils, den man vom Werk ausgehend auf seine heutige Relevanz hin befragen kann.
Bevor jedoch über den Wissenschaftsstil und seine Folgen gesprochen werden kann, muss das Werk selbst inhaltlich zu Wort kommen. In aller Kürze, versteht sich, mehr ist bei seinem Umfang ohnehin nicht zu leisten. „Die Grünen“ ist die akribische Zeitgeschichte der Entstehung und Entwicklung einer neuen Partei, die sich von den K-Gruppen bis zu konservativen Umweltinitiativen aus unterschiedlichsten organisatorischen und vom Maoismus über den Feminismus bis zum Ökolibertarismus aus den unterschiedlichsten inhaltlichen Quellen speist und versucht, sich als politisch, und das heißt in Deutschland immer noch vor allem als parlamentarisch erfolgreiche Kraft zu etablieren. Überdeutlich wird der Detailgrad des Werkes auf den 136 Seiten, in denen die Entwicklung und die Hauptcharakteristika der elf Landesverbände der alten Bundesrepublik (Raschke selbst schreibt sehr konsequent von der „BRD“) skizziert und analysiert werden (S. 244–394). Dabei kommt dem Landesverband Hamburg aus naheliegenden Gründen die meiste Aufmerksamkeit zu. Faszinierend ist zu beobachten, wie Raschkes Kenntnis der Hamburger Verhältnisse nicht nur in der Länge des Abschnittes zum Ausdruck kommt, sondern auch in der Zahl und Ausführlichkeit der Fußnoten, und eben der intimen Vor-Ort-Kenntnis dessen, was die Partei im Innersten zusammenhielt oder auseinanderreißen wollte. Weitere „wichtige“ Landesverbände werden ebenfalls sehr ausführlich behandelt (Hessen, Baden-Württemberg, Berlin), andere bekommen wesentlich weniger Raum und die entsprechenden Abschnitte werden von Co-Autoren verfasst, nicht von Raschke selbst (Niedersachen, Schleswig-Holstein). Die Akteursgruppen Frauen, Jugend und Kommunen werden nicht minder detailliert beschrieben, das gleiche gilt für die organisatorische Strukturierung und das organisationale und institutionelle Umfeld der aufstrebenden Grünen.
Neben überaus detaillierten Beschreibungen enthält das Buch sehr weitsichtige Analysen. So skizziert es vor dem Hintergrund von Annahmen über die weitere Entwicklung des deutschen Parteiensystems ab S. 847 Entwicklungsperspektiven und -potenziale der Grünen, die immer noch, oder wieder, erstaunlich aktuell anmuten. Dabei werden ganz nebenbei frühe und immer noch plausible Erklärungsansätze für den heute in voller Entfaltung zu besichtigenden Niedergang der SPD entwickelt. Auf einen kurzen Nenner gebracht, ist es die Fragmentierung der SPD in einen industriell-traditionalistischen Flügel, ein Bündel linksliberal postindustrieller Positionen und einen Konservatismus der sozialdemokratischen Landesregierungen (S. 891), mit der die SPD aus Sicht des Jahres 1993 wird kämpfen müssen, und mit denen sie aus Sicht des Jahres 2020 unvermindert zu kämpfen hat. Raschke spricht auch über das Ende der Volksparteien, als der Idee einer kurzen Phase stabiler Prosperität und stellt alternativ den Begriff der „Sektorenparteien“ in den Raum. Die Sektorenpartei bedient weder Klientelen oder Wählerbasen, noch macht sie umfassende Angebote für alle Wählerschichten. Sie ist spezialisiert auf bestimmte Policysektoren, Wirtschaft bei den einen, Sozialstaat und -politik bei den anderen sowie Umweltschutz und Nachhaltigkeit bei den Dritten (S. 853). In dieser Spezialisierung hängt ihr Erfolg dann vor allem von Themenkonjunkturen ab.
Auf der Basis dieser Analysen wechselt Raschke ins dritte Fach, das von dem Buch bedient wird, und dem er sich in der Folge und bis heute vor allem widmen wird, der politischen Strategie. Er zeigt vor dem Hintergrund der beschriebenen und analysierten Entwicklung mehrere Entwicklungspfade auf und erzeugt so fast ein strategisches „Menü“, aus dem die Grünen (oder der historische Prozess) wählen können (S. 882 bis 893). Überzeugend wirken diese Strategien, weil retrospektiv der Eindruck entsteht, Raschke habe die erfolgreiche Elitenbildung und Professionalisierung bei den Grünen sowie die Sektoralisierung der Partei (im oben beschriebenen Sinne) tatsächlich vorzeichnen können. Genauso lässt das weitere Schaffen des Autors den Eindruck hoher Konsistenz entstehen, denn ein Begriff wie Strategiefähigkeit, der in „Die Grünen“ bereits ganz vorn (S. 32) das erste Mal auftaucht, wird zunächst zur Leitschnur weiterer Analysen, wie etwa in „Die Zukunft der Grünen“ (Raschke 2001), und schließlich zum Hauptthema in „Politische Strategie“ (Raschke u. Tils 2013).
Soweit der Inhalt. Was hat es nun mit dem Wissenschaftsstil auf sich, mit dem das Werk erarbeitet wurde? Raschke verfolgt eine sehr idiosynkratische Methodologie, die er selbst im Vorwort so beschreibt: “Das Wesentliche ist das Dabeisein …” (S. 13). Der Autor arbeitet und versteht sich, dies sind meine Worte, als „embedded scientist“; seine Vorgehensweise ist die einer immersiven Sozialwissenschaft. Das folgende Zitat aus „Die Zukunft der Grünen“ beschreibt das, und auch Raschkes Wahrnehmung einer sich ändernden Politikwissenschaft, noch plastischer: „Ich fuhr zum Länderrat (im September 1998 – KUS), dachte, die jüngeren Politologen drängeln sich […] . Ich sah mich um, aber ich war der einzige Politologe. […] Interessieren sich die Jüngeren überhaupt nicht mehr für die Grünen?“ Um dann noch zu schließen: “[…] die nachfolgenden Wahlen geben auch darauf eine Antwort: Tatsächlich, die Grünen lassen immer mehr Jüngere kalt.” (Raschke 2001, 11). Man möchte dazwischenrufen: Nein, geschätzter Kollege Raschke, Wahlen signalisieren nichts darüber, welches wissenschaftliche Interesse eine Generation an einem Gegenstand (einer Partei) hat. Und genauso wenig sagt das Fernbleiben von Veranstaltungen wie Länderräten etwas über ein wissenschaftliches Interesse. Wenn es überhaupt für etwas steht, dann dafür, dass „die Jüngeren“ ihr Fach und seine Arbeitsweisen anders verstehen, als die Generation davor. Und damit bin ich bei der Frage, wie ich Raschkes Buch methodisch wahrnehme und aus heutiger Sicht einordne.
„Die Grünen“ ist eine sehr dichte, inhaltspralle zeitgeschichtliche Beschreibung. Das Buch vermittelt uns viel über die noch junge Partei und hat das Potenzial, wirklichkeitsrelevante und eingreifende Politikwissenschaft zu sein. In „Politische Strategie“ (Raschke u. Tils 2013) werden die Autoren von „praktischer Politikwissenschaft“ sprechen, die sie von einer empirischen Politikwissenschaft abgrenzen möchten (ebd. S. 31 ff.) Was Raschkes Werk aus meiner Sicht oft fehlt, ist die wissenschaftliche Distanz zum Gegenstand. Das Buch ist immer wieder subjektiv, interpersonale Nachvollziehbarkeit der empirischen Arbeit ist vielfach nicht einmal abstrakt gegeben, weil das Leben des eingebetteten Sozialwissenschaftlers dazu zu wenig dokumentiert ist. Vor dem Hintergrund heutiger Methodenreflexion würde man ein Forschungstagebuch fordern, Forschungsmemos zu analysierten Texten und Beobachtungsprotokolle erwarten usw. Diese fehlen, und dadurch ist die Möglichkeit, den Beobachter Raschke beim Beobachten zu beobachten und in dieser Beobachtung zweiter Ordnung auch die Perspektivität seiner Beobachtung in den Blick zu bekommen, kaum gegeben. Was man allenfalls findet, ist eine Situierung des Autors, und auch die erfolgt vor allem implizit.
Natürlich ist diese Kritik ahistorisch. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, der Entstehungszeit des Werkes, war der sozialwissenschaftliche Diskurs noch weit weniger methodisch orientiert und reflektiert als heute. Standards, die heute bei empirisch-analytisch wie bei hermeneutisch-interpretativ Forschenden breit anerkannt sind, begannen damals erst, ihre Breitenwirkung zu entfalten. Wendet man es so, gewinnt das Buch einen eigenen Wert als herausragendes Beispiel der Wissenschaftskultur seiner Zeit, und als Möglichkeit, ihre Vor- und Nachteile auf den Punkt zu bringen.
Raschke gelingt auf der Basis seiner hochdetaillierten Gegenstandskenntnis eine ausführliche wie auch lebendige Beschreibung der Entstehung einer Partei. Das Buch zeichnet historische Prozesse bis in kleinste, dann oft auch schon gar nicht mehr wesentliche gruppenpsychologische Details nach. Was dabei fehlt, sind empirische Systematik und die Replizierbarkeit der Ergebnisse. Wissenschaftliche Analyse und aktive Politik- oder Strategieberatung sind oft nur schwer voneinander zu unterscheiden; das wird bereits mit der Formulierung der vierten Leitfrage des Buches nach Reformmöglichkeiten und Perspektiven der Grünen deutlich (S. 19 und 20). Mangels rigoroser Theoriebildung entsteht nach meiner Ansicht auch wenig abstraktes Wissen. Begriffe werden entworfen, wie etwa der der „postindustriellen Rahmenpartei“ (S. 29), ohne dass dafür ein systematisches theoretisches Hinterland sichtbar würde. Im Beispiel erfolgt im abschließenden Kapitel 15 eine inhaltliche Füllung, die den Begriff „postindustrielle Rahmenpartei“ eventuell für die Diskussion politischer Strategien tauglich macht, das analytische und abstrahierende Potenzial fehlt jedoch weiterhin. Das liegt aus meiner Sicht daran, dass der Begriff keinem bestimmbaren Universum an Parteitypen zugeordnet werden kann, sondern in einem einbeschriebenen Universum eine einzelne Objektgruppe herausgreift. Betrachtet man Begriffs- und Typenbildung als Instrumente erkenntnisermöglichenden Vergleichs, so wird diese Funktion in Ermangelung fehlender Vergleichsobjekte hier verfehlt. An anderen Stellen, etwa bei der Darstellung der Historie der Landesverbände (S. 244–394), werden Leitbegriffe genutzt, um analytische Struktur und Reflexionsmöglichkeit zu schaffen. Auch hier sind es aber vor allem heuristische Perspektiven, nicht theoriegestützte Kategorien oder theoriebildende Konzepte, die herauskommen. Am wenigsten systematisch erscheint das Konzept der „vormobilisierten Einheiten“, mit dem die organisatorische Basis erfasst werden soll, die den Grünen vorausging. Die Analyseabschnitte, die auf der Basis des Begriffes entwickelt werden, sind denn auch nur eine Fortsetzung der Erzählung der Entwicklungsgeschichte der Landesverbände als Prequel, keine Analyse. Systematisch, und hier offenbart sich der Langzeitparteienforscher, wird vorrangig der Begriff des Parteiensystems genutzt. Er bietet Kategorien und schafft Einordnungsmöglichkeiten, mit deren Hilfe die Entwicklung der Grünen analytisch fruchtbar in den Kontext der konkreten Gestalt der Parteiensysteme der einzelnen Bundesländer gesetzt wird. Die Darstellungen zu Bayern (S. 266-273) und Hamburg (S. 295–327) seien als Lesebeispiele empfohlen, die zeigen, was diese Perspektive an Einordnung leisten kann.
Das größte Problem an Raschkes Arbeitsweise ist aus meiner Sicht aber die hochgradige Anfälligkeit für Situationsänderungen. Das zeigt sich massiv im Folgebuch „Die Zukunft der Grünen“ (Raschke 2001). Hier sieht Raschke das totale politische Scheitern der Grünen als Partei voraus, auch wenn er vorsichtig hinzusetzt, dass alles noch anders kommen könne. Die SPD habe dagegen offenbar den Turnaround geschafft. Drei Jahre später muss er alles zurücknehmen und konstatieren, dass das finstere Bild, das er für die Grünen malte, möglicherweise das Negativ (im Sinne der klassischen Analogfotografie) einer Entwicklung war, die dann sehr schnell einsetzte, nämlich die Entwicklung einer starken, nach Raschke lange abwesenden Strategiefähigkeit der Partei (Raschke 2004). Stattdessen steht nun (wieder) die SPD schlecht da und tut es seitdem. Sie war im Buch von 2001 die strahlende Heldin erfolgreichen strategischen politischen Handelns gewesen. Natürlich sind prognostische Fehleinschätzungen nichts Ungewöhnliches, und einem Zeitungsartikel sieht man ein kurzes Verfallsdatum jederzeit nach. Bei einer wissenschaftlichen Analyse wünscht man sich allerdings in der Regel einen längeren Atem. Und den gewinnt sie vor allem aus der Theoriebildung, der Ableitung abstrakter Konzepte und Kategorien, die dazu taugen, mehr als ein Untersuchungsobjekt zu klassifizieren, zu vergleichen, und dann eben auch Wissensbestände mit längerer Haltbarkeit zu generieren. Strategieuntersuchung, um auf diesen Punkt zurückzukehren, soll sein. Aber sie ist dann praktische Politik, die sich im guten Falle solide politikwissenschaftlicher Methoden bedient. Als Politikwissenschaft im engeren akademischen Sinne würde ich sie nicht mehr bezeichnen. Ordnet man Raschkes Werk so ein, dann gewinnt es allerdings schnell kritisch-provokantes Potenzial, denn es stellt uns die Frage: Was ist unsere Rolle als Politikwissenschaft in der Gesellschaft? Wie füllen wir diese Rolle aus, und wo müssen wir möglicherweise den sicheren Boden unserer Wissenschaft verlassen, um „praktische Politikwissenschaft“ oder auch angewandte Politikwissenschaft zu werden? Und setzen wir uns mit dieser Frage in dem Umfange auseinander, in dem wir das eigentlich tun sollten?
Was bleibt also von „Die Grünen“? Das Buch ist Zeitzeugnis im doppelten Sinne, Zeugnis der Geschichte der Grünen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts und Zeugnis der Arbeits-, Denk-, Forschungs- und Theoriebildungsweise einer einflussreichen Traditionslinie in der deutschen empirischen Parteienforschung in dieser Zeit. Und es ist in seiner manchmal schillernden Qualität Anlass für die Selbstbefragung der Politikwissenschaft als Wissenschaft und als gesellschaftlicher Akteur.
Literaturverzeichnis
Raschke, Joachim, und Ralf Tils. 2013. Politische Strategie. Eine Grundlegung. Wiesbaden: Springer VS.
Raschke, Joachim. 1993. Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind. Köln: Bund Verlag.
Raschke, Joachim. 2001. Die Zukunft der Grünen. “So kann man nicht regieren”. Frankfurt a. M.: Campus.
Raschke, Joachim. 2004. Rot-grüne Zwischenbilanz. Aus Politik und Zeitgeschichte: 25–31.