Frank Nullmeier über Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß (1985)

Joachim Raschke hat 1985 die erste umfassende politikwissenschaftliche Monographie zum Thema Soziale Bewegungen verfasst. 1993 erschien seine Studie über „Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind“ und 2007 (zusammen mit Ralf Tils) „Politische Strategie. Eine Grundlegung“. Raschke war von 1975 bis 2001 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und ist heute in der Agentur für Politische Strategie (APOS) tätig.

Frank Nullmeier ist Professor für Politikwissenschaft (Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und Staatstheorie) an der Universität Bremen. Er studierte von 1975 bis 1980 in Hamburg und hat dort 1989 mit der Arbeit „Von Max Weber zu Konzepten einer Intelligenz- und Wissenspolitologie“ promoviert. Von 1991 bis 1997 war er Hochschulassistent am Institut für Politische Wissenschaft. Seine Habilitationsschrift ist unter dem Titel „Politische Theorie des Sozialstaats“ publiziert worden.


Joachim Raschke wird meist als Parteienforscher bezeichnet. In den 1990er Jahren erzielte er durch vielfältige publizistische Aktivitäten in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, meist mit Kommentaren und Analysen zu Parteienkonstellationen und Wahlkämpfen, öffentliche Aufmerksamkeit. Mit seinem Buch „Die Grünen“[1] aus dem Jahr 1993 setzte er zudem einen Standard an Detailliertheit und Umfassendheit in der Erforschung einer einzelnen politischen Partei, der im deutschen Sprachraum bis heute nicht wieder erreicht worden ist. Doch Joachim Raschke ist weit mehr als Parteienforscher.

Gänzlich neu für die deutsche Politikwissenschaft sind vielmehr zwei andere Arbeitslinien, die er begründet hat: die Erforschung politischer Strategien und die genuin politologische Erforschung sozialer Bewegungen. Dass das Verhalten politischer Akteure, insbesondere von Parteien und Verbänden, aber auch sozialen Bewegungen, als strategisches Entscheiden begriffen werden kann, hat Joachim Raschke zusammen mit Ralf Tils seit 2007 in einer Reihe von Monographien gezeigt und dabei ein analytisches Werkzeug erstellt, das für die vertiefte politikwissenschaftliche Analyse ebenso taugt wie für die Politikberatung.[2]

Die Entwicklung einer genuin politikwissenschaftlichen Bewegungsforschung ist ein Ergebnis der frühen 1980er Jahre. Vor der Veröffentlichung der 501 Seiten umfassenden Monographie „Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Aufriß“[3] im Jahre 1985 hatte Joachim Raschke über Parteien geforscht. Auf die Dissertation von 1972, die sich der innerparteilichen Opposition in der Berliner SPD widmete,[4] und eine international vergleichende Studie zu diesem Thema[5] folgte Ende der 1970er Jahre eine Studie zu den sich entwickelnden Protestparteien – von dem dänischen Steuerprotest bis zu den alternativen und grünen Listen in Deutschland.[6] Dass gerade bei Letzteren nicht allein von ‚Partei‘ gesprochen werden konnte, sondern Elemente eine große Rolle spielten, die damals als „Neue Soziale Bewegungen“ firmierten (insbesondere zwischen 1977 und 1983: Frauen-, Umwelt-, Anti-Atomkraft-, Alternativ- und Friedensbewegung), führte zum Entschluss, sich der Analyse sozialer Bewegungen zuzuwenden. Zwar gab es auf diesem Feld durchaus etliche Vorläuferarbeiten in der (politischen) Soziologie, aber eine genuin politikwissenschaftliche Bewegungsforschung, die zugleich theoretisch geleitet und historisch ausgerichtet war, lieferte zuerst Joachim Raschkes Buch.

Raschkes Zugang zu dem damals keineswegs klar konturierten Begriff der sozialen Bewegung lag in ihrem Verständnis als „kollektivem Akteur“. Damit wurde etwas geleistet, das sich deutlich absetzte von den bisherigen Arbeiten in Psychologie und Soziologie: Die Massenpsychologie hatte Bewegungen als Objekt der Manipulations- und Emotionalisierungsfähigkeiten von einzelnen Führern angesehen, als formbare Masse. Die soziologische Forschung überwand zwar in der Folge diese Vorstellung und entwickelte das Konzept ‚kollektiven Handelns‘. Die Pointe von Raschkes Buch bestand jedoch darin, von der Soziologie kollektiven Handelns zu einer politikwissenschaftlichen Erforschung von Bewegungen als kollektiven Akteuren, als „Handlungsträgern“ überzugehen, zugleich bewahrte er viele begriffliche Errungenschaften und empirischen Ergebnisse der soziologischen Forschungstradition.

Diese politisch-soziologische Forschung, inspiriert von Rudolf Heberle als einem frühen Vorläufer,[7] musste zeigen können, dass trotz der Tatsache, dass Bewegungen gerade nicht als Organisationen mit klaren Mitgliedschaftsregeln verfasst sind, dennoch Handlungsfähigkeit erreicht werden kann, die den Begriff kollektiver Akteur rechtfertigt. Die spätere politische Strategieanalyse, die ihren Anwendungsbereich meist bei Parteien fand, ist in der Analytik der sozialen Bewegungen als kollektiven Akteuren bereits vorgezeichnet. Hier wie dort besteht das Problem, wie eine gewisse Einheitlichkeit und Ausrichtung an einem Set von Ziel-Mittel-Vorstellungen erreicht werden kann, ohne dass Möglichkeiten der hierarchischen Anweisung oder Beherrschung gegeben wären.

Wenn soziale Bewegungen als kollektiver Akteur begriffen werden, sind Mobilisierung und Aktion die zentralen eigenbestimmten Felder des Handelns. Bewegung kann nur dadurch existieren und fortbestehen, dass sie Personen und weitere Ressourcen dafür mobilisiert, sich in der Bewegung zu engagieren. Ohne dauerhafte oder zumindest periodische Mobilisierungsfähigkeit zerfällt eine Bewegung. Und sie wird nur dadurch sichtbar, dass sie handelt. Die besondere Güte der Monographie besteht darin, das Aktionsspektrum sozialer Bewegungen in seinem Wandel von der modernen vorindustriellen Gesellschaft des frühen 19. Jahrhunderts bis in die als nachindustriell beschriebene Gegenwart aufgefächert zu haben. Die Gewalthaltigkeit der Aktionsformen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert sticht dabei besonders hervor.

Die historische Analyse des Aktionsformwandels war durch den einleitenden historischen Teil der Arbeit zu sozialen Bewegungen in Deutschland von den frühbürgerlichen liberalen, demokratischen und nationalen Bewegungen über die Arbeiterbewegung, die Frauen-, Friedens-, Lebensreform- und Jugendbewegung, schließlich die totalitären Bewegungen des Kommunismus und Nationalsozialismus bis hin zu der Ostermarsch- und Studentenbewegung der 1960er und den Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre vorbereitet worden. Der Untertitel des Buches „Ein historisch-systematischer Grundriß“ bezeichnet daher genauestens das Vorgehen.

Das Handeln des kollektiven Akteurs Bewegung ist darauf gerichtet, „grundlegenderen sozialen Wandel herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen (77). Bewegungen müssen also keineswegs revolutionär sein. Aber jede Bewegung trifft auf Akteure, die sich den gegenteiligen Zielsetzungen verschrieben haben. Der Erfolg sozialer Bewegungen hängt davon ab, Verbündete zu gewinnen („Vermittlung“), sich gegen Repression und Ignoranz („Kontrolle“) zu wehren und günstige Gelegenheiten („situative Faktoren“) zu nutzen. Wie eine Bewegung jeweils reagiert, ist dabei eine Angelegenheit von Entscheidungen – unter gegebenen Bedingungen.

Genau an diesem Punkt finden sich in der Bewegungsanalyse die Vorläufer der späteren politischen Strategieforschung. Denn soziale Bewegungen geraten in „strategische Dilemmata“, z.B. in jenes, sich entweder nach außen zu orientieren und die gesellschaftliche Wirksamkeit zu betonen oder sich eher nach innen und damit auf die oft expressiven Bedürfnisse der Bewegungsanhänger*innen zu konzentrieren. Zwei Grundtypen von sozialen Bewegungen lassen sich daher unterscheiden. Bewegungen können entweder vorrangig machtorientiert oder kulturorientiert sein (wie die Lebensreform- und Jugendbewegung oder die Alternativbewegung).

Diese akteurszentrierte Betrachtung wird in „Soziale Bewegungen“ immer eingebettet in eine Gesellschaftsanalyse. Welche Formen der Mobilisierung eine Bewegung nutzen kann, hängt nicht allein von ihren Entscheidungen ab, sondern zunächst von der gesellschaftlichen Entwicklungsstufe und vor allem den sozialstrukturellen Bedingungen. Raschke folgt hier modernisierungstheoretischen Ansätzen mit der Unterscheidung von vorindustriell-modernisierender, industrieller und nachindustrieller Gesellschaft. Ihm verdankt sich die überraschende Erkenntnis, dass sich die Mobilisierungs- und Aktionsformen der vor- und nachindustriellen Phase einander stark ähneln. Die industrielle Phase der Bewegungen erscheint als Ausnahme und auch als regressive Entwicklungsphase angesichts des Ausmaßes an Gewalt und an bürokratisch-hierarchischer Mobilisierung. Dass Identitätsfragen im Vordergrund der postindustriellen Phase stehen, gehört ebenfalls zu den hellsichtigen Überlegungen dieses Buches. Eine Makrogeschichte der sozialen Bewegungen wurde derart mit der Akteursanalyse verknüpft, dass die Frage, wie eine Bewegung sich entwickelt, nicht mehr als strukturell vorgegeben erscheinen und damit auch nicht mehr allein strukturell (z.B. kapitalismustheoretisch) erklärt werden konnte.

Trotz dieses hochgradig systematischen Vorgehens und der Erfassung linker und rechter, revolutionärer und konservativer, machtorientierter und kulturorientierter Bewegungen in Raschkes Buch wurde die deutschen Bewegungsforschung insgesamt immer wieder mit dem Vorwurf der Bewegungsnähe konfrontiert: Sie sei nicht wirkliche Forschung, sondern Parteinahme zugunsten der (Neuen Sozialen) Bewegungen. Bis heute ist es auch aufgrund dieses hartnäckigen Vorurteils in der Disziplin nicht gelungen, die Erforschung sozialer Bewegungen universitär innerhalb der Politikwissenschaft zu verankern. Weder gibt es eine Professur mit einer derartigen Denomination, noch ist es üblich, dass von Vertreter*innen der politischen Soziologie, der Regierungslehre Bundesrepublik Deutschland oder des deutschen politischen Systems Beiträge zur Erforschung sozialer Proteste und Bewegungen erwartet werden. Auch in den politikwissenschaftlichen Curricula ist das Thema nicht verbindlich. In Roland Roth, inzwischen emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Hochschule Magdeburg-Stendal, und Dieter Rucht, emeritierter Professor für Soziologie und ehemaliger Ko-Leiter der Forschungsgruppe „Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa” am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, verfügt die deutsche Bewegungsforschung über zwei profilierte Vertreter, die international weithin sichtbare Forschungsarbeit geleistet haben, in der Öffentlichkeit als Experten anerkannt sind und innerhalb der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft den Arbeitskreis (Neue) Soziale Bewegungen vorangetrieben haben. Leider haben weder ihre Arbeiten noch Joachim Raschkes Engagement es vermocht, einen institutionellen Durchbruch für die Bewegungsforschung zu erzielen.

So ist eine Vertretung der Protest- und Bewegungsforschung aktuell am ehesten dort gegeben, wo der Begriff Konflikt ins Zentrum gerückt wird: Priska Daphi als vielleicht momentan aktivste Bewegungsforscherin ist in der Bielefelder Fakultät für Soziologie als Professorin für Konfliktsoziologie tätig, Sebastian Haunss, Absolvent des Hamburger Instituts für Politikwissenschaft, leitet als Professor für Politikwissenschaft die Arbeitsgruppe „Soziale Konflikte“ am Bremer SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Peter Ullrich und Simon Teune sind im Bereich „Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte” am Zentrum Technik und Gesellschaft der TU Berlin tätig. Die Sozialwissenschaftlerin Sabrina Zajak arbeitet als Juniorprofessorin für Globalisierungskonflikte, soziale Bewegungen und Arbeit am Bochumer „Institut für soziale Bewegungen (ISB)“ als einer fächerübergreifenden wissenschaftlichen Einheit, das seine Wurzeln in der Geschichtswissenschaft hat (dem vormaligen „Institut zur Erforschung der europäischen Arbeiterbewegung”) und von dem Geschichtswissenschaftler Stefan Berger geleitet wird.

Der zentrale Koordinierungsort der Bewegungsforschung in Deutschland ist eine außeruniversitäre Einrichtung, das als Verein 2012 gegründete „Institut für Protest- und Bewegungsforschung“ mit Sitz in Berlin, das in Tagungen, Forschungstätigkeit in Arbeitsgruppen und via Initiierung von kooperativen Forschungsprojekten die Protest- und Bewegungsforschung maßgeblich befördert. Das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, 1988 gegründet, heute ohne den Zusatz „Neue“ firmierend, war immer und ist weiterhin das andere – ebenfalls – außeruniversitäre Standbein der Bewegungsforschung. Durch das fortdauernde Engagement der Gründergeneration: Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand und des im letzten Jahr bereits verstorbenen Thomas Leif ist dieses Unternehmen die publizistische Säule einer Protest-, Bewegungs- und Engagementforschung, der die Universitäten und das Fach Politikwissenschaft viel verdanken – und dem sie eine wirkliche Anerkennung weiterhin schulden.


[1] Joachim Raschke 1993: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln: Bund-Verlag.

[2] Joachim Raschke und Ralf Tils 2007: Politische Strategie. Eine Grundlegung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Dies. (Hrsg.) 2010: Strategie in der Politikwissenschaft. Konturen eines neuen Forschungsfelds, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Dies. 2011: Politik braucht Strategie – Taktik hat sie genug. Ein Kursbuch, Frankfurt a.M.: Campus.

[3] Joachim Raschke 1985: Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt/New York: Campus.

[4] Joachim Raschke 1974: Innerparteiliche Opposition. Die Linke in der Berliner SPD, Hamburg: Hoffmann und Campe.

[5] Joachim Raschke 1977: Organisierter Konflikt in westeuropäischen Parteien. Vergleichende Analyse parteiinterner Oppositionsgruppen, Opladen: Westdeutscher Verlag.

[6] Detlef Murphy, Frauke Rubart, Ferdinand Müller und Joachim Raschke 1979: Protest. Grüne, Bunte und Steuerrebellen. Ursachen und Perspektiven, Reinbek: Rowohlt.

[7] Rudolf Heberle (1896-1991) veröffentlichte 1951 „Social Movements. An Introduction to Political Sociology”, 1967 ins Deutsche übersetzt als „Hauptprobleme der Politischen Soziologie“ im Verlag Ferdinand Enke.

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