Jan Philipp Reemtsma lehrt Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und ist Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dessen Direktor er von 1990 bis 2015 war. Der exzellente Kenner der Werke von Christoph Martin Wieland und Arno Schmidt ist zugleich ein Gewaltforscher. Seine Studie Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne hat Bernhard Koch für 100 x 100 besprochen.
Bernd Ladwig ist Professor für Politische Theorie und Philosophie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er wurde 1999 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zur Gerechtigkeitstheorie promoviert. Zu seinen weiteren Arbeitsgebieten gehört die Philosophie der Menschenrechte. Im kommenden Jahr erscheint seine Politische Philosophie der Tierrechte.
Natürlich war Muhammad Ali mehr als ein (Box-)Champion. Er war ein Gesamtkunstwerk: schön, charmant, witzig und auch verbal schnell und schlagfertig, ein Rapper avant la lettre. Gute Reflexe, Mut und Stehvermögen zeigte er nicht nur im Ring: „I ain’t got no quarrel with them Vietcong“[1]. Ali verweigerte den Kriegsdienst und bezahlte dafür im besten Sportleralter mit der Aberkennung seiner Boxlizenz. Im Gegenzug gewann er Anerkennung als Symbol gleich zweier wichtiger Bewegungen seiner Zeit: gegen die Rassentrennung in den USA und gegen den Krieg in Vietnam. Große Denker wie Bertrand Russell bewunderten seine Integrität. Der Gewaltforscher Reemtsma hätte es sich also leicht machen und Ali als Kämpfer gegen Unrecht und Krieg würdigen können. Gewiss tut er dies auch, und in denkbar deutlichen Worten: Für die Selbstwahrnehmung und das Selbstbewusstsein der schwarzen Bevölkerung nicht nur in Amerika habe Clay/Ali vielleicht mehr getan als Martin Luther King, Malcolm X oder Patrice Lumumba zusammen.[2] Aber vor allem will Reemtsma wissen, was ihn und andere Intellektuelle dazu brachte, sich mitten in der Nacht Faustkämpfe anzusehen. Die Antwort gibt der Untertitel: Es war der Stil des Boxers Muhammad Ali.
Mehr als ein Champion ist der Essay eines bedeutenden Gewaltforschers über den bedeutendsten Vertreter „der gewalttätigsten Sportart, die unsere Kultur kennt“.[3] Reemtsma redet nicht darum herum, dass Muhammad Ali, den er bewundert, seinen Weltruhm zuallererst der Fähigkeit verdankte, auf überlegene Art Schläge auszuteilen. Die Faust eines Schwergewichtlers kann den Gegner mit 10 Metern pro Sekunde und einer Kraft von mehr als 5000 Newton am Kopf treffen und stumpfe Schädel-Hirn-Traumen hervorrufen.[4] Der sogenannte Knock-out gilt als die überzeugendste Weise, einen Boxkampf zu gewinnen, und Ali hat 37 seiner 61 Profikämpfe durch K.o. beendet. Boxen, so Reemtsma, ist die einzige Sportart mit dem Ziel, den Gegner durch körperliche Schädigung verteidigungsunfähig zu machen. Es ist „autotelische Gewalt“, [5] Gewalt in Reinform und als Selbstzweck, wenn auch gerahmt durch Regeln, die im Idealfall nicht nur für Fairness sorgen, sondern auch die physischen Schäden begrenzen.
Ali belebte das Boxen, diesen scheinbar schlichten und groben Sport, durch Intelligenz und Grazie. Er vereinte die Beweglichkeit eines hervorragenden Mittelgewichtlers mit der Durchschlagskraft des Schwergewichtlers. Die Vollkommenheit seines Augenmaßes, die phänomenale Antizipationsfähigkeit für fremde Schläge, die exzellente Beinarbeit, die eleganten Meidbewegungen, die schnellen linken Geraden („Jabs“) und die wie aus dem Nichts kommende rechte Schlaghand erlaubten ihm zu seiner besten Zeit, Gegner auf eine ballettartig wirkende Weise zu bezwingen. Das war, wie Reemtsma deutlich macht, von Anfang an Illusion; auch bei Alis Kämpfen floss Blut, und auch er musste harte Treffer hinnehmen. Doch unübersehbar wurde dies erst in seiner zweiten Karrierephase als Profi, nach der dreieinhalbjährigen Zwangspause, in der Alis Schnelligkeit gelitten hatte.
Nun schlug er zumeist aus festem Stand und musste auch vermehrt selbst Schläge einstecken. Umso wichtiger wurden sein Mut und seine Nehmerqualitäten, über die er freilich auch schon als junger Boxer verfügt hatte. Sie halfen ihm, gegen einige der stärksten Schläger zu bestehen, die das Schwergewicht bis dahin gesehen hatte. Er traf in Titelkämpfen als sehr junger Mann auf den düsteren Sonny Liston und als schon älterer Boxer auf den bärenstarken Stoiker George Foreman. Vor allem aber lieferte er sich drei epische Auseinandersetzungen mit seiner Nemesis Joe Frazier, den er so maßlos und unfair beschimpft hatte, dass dieser gar nicht anders konnte, als Ali um jeden Preis niederschlagen zu wollen.
„In Manila habe ich ihm Schläge verpasst, mit denen hätte man ein Haus einreißen können. Und er hat sie eingesteckt“,[6] sagte Frazier anerkennend nach ihrem größten Kampf, dem „Thrilla in Manila“. Die minutiöse Nachzeichnung dieses besonders brutalen Boxkampfes bestimmt die Struktur des Essays. Reemtsma analysiert wie unter Zeitlupe die einzelnen Runden und schiebt dazwischen allgemeine Betrachtungen ein, deren Abfolge den Kampfverlauf zu spiegeln scheint. Er schreibt über die Biographie des Boxers nach den ersten drei Runden, die für den Champion gut aussahen. Er räsoniert über dessen Niederlagen nach den Runden vier bis sechs, in denen Frazier dominierte. Er geht auf die Siege, gegen Liston und gegen Foreman, ein, als sich die Wendung des Kampfes in Manila zu Alis Gunsten abzeichnete. Einen eigenen Essay im Essay bilden die Zwischenbetrachtungen zur Filmreihe „Rocky“ mit Sylvester Stallone. Reemtsma sieht in ihr eine „Arbeit am Mythos“ Muhammad Ali[7] und eine filmische Inszenierung des Imagewandels vom angefeindeten „Großmaul“ und Black Muslim zum konsensfähigen Symbol eines besseren Amerikas.
Am überzeugendsten aber ist Reemtsma, wo er Alis Stil analysiert. Er wendet sich zu Recht gegen das Klischee vom schwebenden Kämpfer Ali, das dieser freilich selbst gepflegt hatte („float like a butterfly, sting like a bee“). Schon der junge Ali hat seine Gegner nicht nur ausgetanzt und aus der Bewegung heraus mit schnellen Jabs an den Kopf verwirrt und geschwächt. Er konnte sie, wenn es sein musste, auch „flachfüßig“ mit Schlägen eindecken; sehr deutlich wird dies in der Endphase des Kampfes gegen Liston und übrigens auch in seinem letzten Kampf vor der Zwangspause gegen Zora Folley.[8] Ali war von Anfang ein variantenreicher Boxer mit einem breiten Reservoir an Fähigkeiten. Nicht die Elemente seiner Kämpfe änderten sich, sondern nur deren Anordnung und Gewichtung; was den späten Ali auszeichnete, war auch beim frühen schon vorhanden, und die Fähigkeiten des frühen Ali gingen auch später nie ganz verloren. Die besondere Intelligenz des Boxers Ali lag in dessen Wandlungsfähigkeit.
Das durchgängige Ziel, dem alle Stilmittel Alis dienten, bestand darin, den Gegner durch überraschende Schlagkombinationen zu dominieren. Ali war kein „Big Puncher“ wie Liston oder Foreman. Er machte seine Gegner mit vielen Schlägen gegen den Kopf mürbe, um sie schließlich, wenn die Gelegenheit es zuließ, mit einer schnellen Serie von linken und rechten Haken und Geraden niederzustrecken. Zu diesem Zweck waren seine Fäuste immer auf Angriff aus. Sie tief zu halten, wir der junge Ali es oft tat, bot den Vorteil, sie dem Blickfeld des Gegners zu entziehen. Aber auch später noch, als ihm dies zu riskant geworden war, hielt er beide Hände immer möglichst gleich weit vom Gegner entfernt. Und wenn er einem Schlag mit dem Kopf auswich anstatt mit den Fäusten, so konnte er diese nutzen, um schnell und überraschend zurückzuschlagen.
Im Lichte dieser einleuchtenden Analyse erstaunt indes Reemtsmas Entscheidung, gerade den Kampf gegen Frazier in Manila zum Rückgrat seines Essays zu machen. Natürlich war dies ein faszinierender Fight; und Reemtsma geniert sich nicht, hier auch als Fan zu erscheinen. Nur war es eben nicht Alis Stil, der den Kampf entschied, sondern allenfalls Alis Leidensfähigkeit. Frazier war ein besonders unangenehmer Gegner für Ali, weil dieser ihn weder überraschen noch dominieren konnte. Der Kampf in Manila zeigte zwei Boxer an der absoluten Grenze ihres physischen und psychischen Stehvermögens. Frazier verlor am Ende nicht, weil Ali ihn umgehauen hätte, sondern weil er kaum noch etwas sehen konnte und sein Trainer Eddie Futch ihn deshalb zur 15. Runde nicht mehr antreten ließ. Ali selbst sackte direkt danach in sich zusammen. Es sollte auch sein letzter großer Kampf sein. Der Rest ist ein zunächst sportlicher und dann auch neurologischer Niedergang des Boxers Muhammad Ali – und der Wiederaufstieg des Menschen zu einer von Krankheit gezeichneten Ikone der Verständigung.
[1] Zitiert nach: David Remnick: King of the World. Der Aufstieg des Cassius Clay oder Die Geburt des Muhammad Ali, Berlin 2000: Berlin Verlag, S. 445.
[2] Vgl. S. 21. Die Seitenangaben erfolgen nach der Ausgabe: Jan Philipp Reemtsma: Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali,. Überarbeitete Neuausgabe, Hamburg 2013: Hamburger Edition.
[3] S. 110.
[4] Aerzteblatt.de: Boxen – akute Komplikationen und Spätfolgen, in: https://www.aerzteblatt.de/archiv/79371/Boxen-akute-Komplikationen-und-Spaetfolgen-Von-der-Gehirnerschuetterung-bis-zur-Demenz, letzter Zugriff am 20.12.2019.
[5] S. 112.
[6] S. 102.
[7] S. 80.
[8] Vgl. Zora Folley ranks Muhammad Ali as No. 1, in: Sports Illustrated, 10. April 1967, https://www.si.com/vault/1967/04/10/610001/zora-folley-ranks-muhammad-ali-as-no-1 , letzter Zugriff am 21.12.2019.