In seiner über einhundertjährigen Geschichte ist der Pferdestall, das Gebäude der Hamburger Sozialwissenschaften, von den Entwicklungen der Zeit geprägt worden. Die Spannung von Krieg und Vernichtung jüdischen Lebens versus der Bildung, Wissenschaft und Aufklärung in gesellschaftlicher Verantwortung sind in seine Grundfesten eingeschrieben – nicht zuletzt aufgrund der Kunst von Constantin Hahm. Die Wandgemälde von Hahm, die seit 1988 im ganzen Gebäude zu sehen sind, be- und verarbeiten das Verhältnis von Politik, Gesellschaft und Wissenschaft und sind, so Christina Kuhli, Mahnung und Auftrag zugleich.
Christina Kuhli ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg. Sie hat 2012 mit einer Arbeit über Giorgio Vasaris Viten an der Universität Frankfurt a. M. promoviert, war Postdoc im SFB 948 “Helden, Heroisierungen und Heroismen” an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. und ist seit 2016 an der Universität Hamburg, wo sie u.a. die Kunstwerke der Universität betreut.
Bunte, knallige Farben, comic-hafte Figuren und Szenerien, Schrift und Formeln – wer durch das Treppenhaus des Pferdestalls geht, nimmt mit flüchtigem Blick im Vorbeieilen vor allem diese einfache, plakative Gestalt der bemalten Wände wahr. Doch der norddeutsche Künstler Constantin Hahm (* 1945), der die Bilder 1985-88 schuf, transportiert damit noch so viel mehr – geht es doch um nichts weniger als um die künstlerische Bewusstmachung des Ortes, der in den letzten gut 100 Jahren zu einem besonderen Teil der Universitäts- und Stadtgeschichte geworden ist.
Von der bewegten Geschichte des Pferdestalls lässt die trutzige Fassade zunächst wenig erahnen. Der aufmerksame Beobachter wird vielleicht auf das Relief mit einer Kutsche über dem Eingang im Mittelrisalit aufmerksam, das auf die ursprüngliche Bestimmung des Baus hinweist: 1908 von J. A. Schlüter wurde der nicht von ungefähr so benannte Pferdestall erbaut als Pferde- und Droschkengebäude. Der technische Fortschritt machte die Pferdestärken später für Bugatti-Sportwagen dienstbar, die im Pferdestall für eine kurze Zeit verkauft wurden. Als schließlich die Hamburgische Universität das Gebäude nach Umbauten im Wintersemester 1929/30 bezog, blieb zumindest der Name erhalten – bis heute. Die Adresse – ehemals Bornplatz, heute Allende-Platz – markiert durch die Umbenennung hingegen die tiefgreifenden Veränderungen, die in der Folge die Geschicke des Gebäudes ebenso wie die der Universität bestimmen sollten.
Während der Weimarer Republik wurde die junge, und bald schon renommierte, Universität auch von vielen jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geprägt. Nicht zuletzt auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, aber auch der Germanistik, der Psychologie und Erziehungswissenschaften arbeiteten herausragende Persönlichkeiten – Ernst Cassirer (1874-1945), William Stern (1871-1938) und Agathe Lasch (1879-1942) etwa waren mit ihren Instituten im Pferdestall untergebracht. Doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 endete bald die wissenschaftliche Karriere der jüdischen Universitätsangehörigen, sie erhielten Berufsverbot, wurden ins Exil getrieben oder deportiert. Nicht nur die Menschen wurden vertrieben, auch baulich verschwand ein Teil der jüdischen Identität als die Hauptsynagoge Hamburgs in unmittelbarer Nähe zum Pferdestall in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November schwer beschädigt und schließlich 1939-40 abgerissen wurde. Der Keller des Pferdestalls diente im Zweiten Weltkrieg der nicht-arischen Bevölkerung als „Schutzraum“. Der massiv gebaute Bunker gegenüber, auch er heute Teil der Universität, war hingegen den arischen Bürgern vorbehalten.
Mit dem 1988 von Margrit Kahl gestalteten Bodenmosaik, das Grundriss und Deckenspiegel der Synagoge nachzeichnet sowie der Umbenennung des Platzes in „Joseph-Carlebach-Platz“ (nach dem letzten Hamburger Oberrabbiner zu Zeit des Nationalsozialismus) wurde eine Erinnerung an die Präsenz der jüdischen Kultur im Außenraum geschaffen. Im Pferdestall regte der Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften zur selben Zeit die Bewusstmachung der mit der Universität so eng verbundenen Geschehnisse an.
Doch der Künstler bleibt dabei nicht bei einem ästhetisch gestalteten Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus. Er thematisiert vielmehr auch zukunftsgerichtet „Grundfragen des menschlichen Lebens, Handelns und Denkens“ (Matthes 2000: 7). Wie häufig in seinem Werk arbeitet er mit kräftigen Farben und Formreduzierungen, um historische Ereignisse Hamburgs in Bildern umzusetzen. Diese Qualität hat auch die Kunstkommission der Kulturbehörde überzeugt, dem an der Hochschule für bildende Künste Hamburg ausgebildeten Hahm den Auftrag für die Gestaltung von 6 Flächen im Treppenaufgang und in den Treppenabsätzen auf 3 Stockwerken des Pferdestalls zu übertragen.
Wer den Pferdestall heute betritt, erlebt allerdings gleich eine kleine Enttäuschung – die kleinste Arbeit, die ehemals in der Eingangshalle über der Pförtnerloge angebracht war, ist nach Umbauten nicht mehr zu sehen. Alte Aufnahmen und eine Beschreibung im Inventar der Kunstwerke der Hamburger Universität von 1991 erlauben zumindest eine Vorstellung, was zu sehen war: ein kreuzwortähnliches Diagramm aus Begriffen wie „Fahrzeuge“, „Stall“, „Pferde“ und „Universität“ (Inventar 1991: 43) – eine Kurzform der unterschiedlichen Nutzung des Gebäudes also.
Im Aufgang zum 1. Obergeschoss fällt der Blick dann auf ein graues Haus und einen Kinderwagen, in dem ein Säugling liegt.
Zwei Bomben werden von einem Flugzeug auf sie abgeworfen. Das Blau des Himmels kontrastiert mit dem Rot des Bodens, die leuchtenden Buntfarben mit der Kriegsszenerie. Die so erfolgte „Einstimmung“ auf die Geschicke des Gebäudes wird im Treppenabsatz des 1. Obergeschosses wieder gebrochen. Der obere Wandabschnitt stellt mit seinen formelhaften Zeichen Bezüge zum wissenschaftlichen Arbeiten im Pferdestall her: Unter ein Wurzelzeichen, in eckigen Klammern und mit Rechenzeichen verbunden sind Elemente des Alltags dargestellt, eine Flasche, ein Glas, ein kopflos laufender Mensch, ein Eierbecher mit Ei, ein Blumentopf mit Pflanze, ein Büstenhalter auf einem Bügel und ein Hemd.
Die Formalisierung und Optimierung des Alltags mag dabei als ein speziell auf die Sozialwissenschaften gemünztes Thema gemeint sein.
Mit dem Gang in das 2. Obergeschoss ändert sich wieder die Thematik, erneut ist eine Kriegsszene zu sehen. Diesmal vermittelt Hahm recht konkret die Situation des Pferdestalls während des Zweiten Weltkrieges, indem er zwei Gebäude umrisshaft einander gegenüberstellt.
Im linken Gebäude drängen sich viele Figuren auf mehreren Etagen, zackige Linien um das Gebäude herum wirken wie ein Schutzschild, das die Bomben, die vom Himmel herabfallen, abhalten. Sie fallen auf das rechte Gebäude und bis in den Keller, in dem nur zwei Figuren kauern. Ein Pfeil weist deutlich auf sie hin und betont damit den unzureichenden Schutz, dem ein Teil der Bevölkerung just im Pferdestall ausgesetzt war. Rot-, Gelb- und Schwarztöne suggerieren Feuer, Rauch und Blut.
Im 2. Stockwerk befindet sich das größte von Hahms Werken im Pferdestall im Seminarraum 250. Hier sind die Sphären von Krieg und Wissenschaft nicht mehr durch unterschiedliche Raumebenen voneinander getrennt, sondern gehen in einer kontinuierlichen Erzählung entlang der Wände ineinander über. Zunächst fällt der Blick auf Roboter- oder Computermännchen und den Schriftzug „Aktion“. Daneben sitzen drei Figuren an einem Tisch, zwei weitere tragen eine Wurzel aus Hemd – das bekannte Zeichen aus dem Treppenflur im 1. Obergeschoss. Die Gruppe, die an eine Seminarsituation erinnert, ist zu einem großen sprechenden Kopf ausgerichtet. Es folgen ein weiterer Schriftzug „Reizung“ und zwei eckige Figuren, die eine starr stehend, die andere mit gehobenem Arm und angewinkeltem Beim wie zum Sprung bereit. Dieser Sprung markiert auch ein Wechsel der Bildthematik, denn was folgt, sind wiederum in Bildzeichen abstrahierte Darstellungen des Krieges.
Da fällt zunächst ein Panzer auf, dessen Bomben noch nicht abgefeuert sind. Er steht hochkant, „weil das die einzige Art ist wie ein Panzer stehen sollte, nämlich mit dem Geschützrohr in der Erde. Da kann der Panzer kaum Unheil anrichten“ (Hahm 2017). Dennoch überfährt er ein Haus, dessen Trümmerteile plastisch an die Wand aufgebracht sind. Sie gehen die Bildebene des Betrachters direkt an, so wie er auch durch die ungewöhnliche Raum- und Bildperspektive angesprochen, aber auch verunsichert wird. Die fliegenden Trümmerteile zwingen auch eine riesige Bildfigur in die Knie, die mit einem über den Kopf erhobenen Gewehr den Eindruck der Gegenwehr erzeugt. Bomben, die aus einem Flugzeug abgeworfen werden und eine Kriegsmaschine, die von einem wie gefangen wirkenden Männchen gesteuert wird, lassen diesen Kampf allerdings fast aussichtslos erscheinen – das vorläufige Ende der Geschichte markiert ein weißer Streifen mit einem roten Kreuz und zwei schwarzen Grabkreuzen. Doch lässt Hahm den Kreislauf nicht ganz so düster enden.
Über der Tür des Raumes lassen Hammer und Ziegelsteine auf den Wiederaufbau und damit auf eine Zeit nach dem Krieg hoffen. Blickt man nun erneut auf die erste Wand, kommt der Seminarsituation eine tiefere Bedeutung zu – die Mahnung, die Geschichte und ihre Folgen nicht zu vergessen und an einer friedlichen, durch Wissen und Aufklärung geprägten Gesellschaft mitzuwirken. Zugleich vermittelt der Kontrast der Themen das Privileg des Studiums, in einer friedlichen Zivilgesellschaft am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen zu können.
Die Bedingungen freier geistiger Entfaltung und zugleich Thema sozialwissenschaftlicher Studien thematisiert schließlich auch das sechste Bild im Treppenflur des 3. Obergeschosses.
Ein riesiger Mund wird gefüttert, während eine Familie am Esstisch die Forderung nach „Brot“ durch den Schriftzug artikuliert. Durch dessen Farbgestaltung – das „B“ ist in Weiß, die restlichen Buchstaben sind in Rot wiedergegeben – erhält die vermeintlich simple Darstellung nicht nur einen spielerischen, sondern auch einen sozialpolitischen Impetus.
Die Wandmalereien Constantin Hahms wirken durch ihre einfache Bildsprache leicht verständlich und sind doch nicht leicht oder eingängig. Dem flüchtigen Blick, der dem Hinauf- und Hinabgehen in den Treppenhäusern zu eigen ist und dem der bildliche Ausdruck entgegen kommt, stellt der Künstler Irritationsmomente gegenüber. Auch wenn man die Geschichte des Pferdestalls nicht kennt und sich vielleicht sogar an Graffiti zur Verschönerung von Schulräumen erinnert fühlt, bleibt das Spiel mit der Erinnerung, dem Erinnern im Alltag, und dem Umgang mit der eigenen Geschichte an diesem historischen Ort präsent. Nicht zuletzt dank der sehr aktiven Fachschaft der Sozialwissenschaften ist der Pferdestall aber auch und vor allem ein lebendiger Ort, an dem man sich in Forschung und Studium mit politischen und sozialen Fragen auseinandersetzt, um auch geschichtsbewusste Zukunftsmodelle entwickeln zu können. Eine passende bildliche Rahmung mögen Hahms Wandmalereien auch heute noch geben.
Literatur
Koschmal, Levke (2019): Constantin Hahm. Wandgemälde, in: Iris Wenderholm und Christina Posselt-Kuhli (Hrsg.): Kunstschätze und Wissensdinge. Die Geschichte der Universität Hamburg in 100 Objekten, Petersberg: Imhof, S. 328-331, Kat. 88.
Hahm, Constantin (2017): Schriftliches Interview mit dem Künstler Constantin Hahm.
Matthes, Olaf (2000): Momentaufnahmen von Geschichte und Gegenwart bei Constantin Hahm, in: Constantin Hahm. Das Tor zur Welt, Ausst.-Katalog Museum für Hamburgische Geschichte, hrsg. von Jörgen Bracker, Hamburg: Museum für Hamburgische Geschichte, S. 7-10.
Kunst an der Universität Hamburg. Ein Inventar (1991), hrsg. vom Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg, Hamburg: Johns & Reifenrath, S. 43-48.
Plagemann, Volker (1989) Hrsg.: Kunst im öffentlichen Raum. Anstöße der 80er Jahre, Köln: DuMont.
UHH/ Archiv, 91-50.20, Universitätsgelände und -gebäude, Ausschmückung der Universitätsgebäude, Kunst am Bau (noch nicht erschlossener Bestand).