Das verschwundene Vorwort. Susanne Krasmann über Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft (1961)

Michel Foucault leitete von 1959 bis 1960 das Hamburger Institut Français. Neben seiner Einführung in Kants Anthropologie (Paris 2008, dt. Berlin 2010) beendete er in Hamburg sein erstes Hauptwerk, Wahnsinn und Gesellschaft (dt. 1969), wenngleich sich das Hamburger Vorwort in späteren Ausgaben nicht mehr wiederfindet. In diesen Tagen wurde am Institut Français in der Heimhuder Straße eine Plakette angebracht, die an Foucaults Wirken in Hamburg erinnert.

Susanne Krasmann ist Professorin für Soziologie in der Kriminologischen Sozialforschung an der Universität Hamburg. Sie gehört seit ihrem Aufsatz zu „Simultaneität von Körper und Sprache bei Michel Foucault“ (1995) zu den prägenden Autorinnen der deutschsprachigen Foucault-Rezeption. 2003 erschien das Buch Die Kriminalität der Gesellschaft: Zur Gouvernementalität der Gegenwart (Konstanz: UVK), das demnächst ebenfalls an dieser Stelle vorgestellt werden wird.


Die Geschichte des Wahnsinns, so heißt es in dem Vorwort vom 5. Februar 1960, das Michel Foucault während seines Aufenthalts in Hamburg verfasste, ist das Anliegen, die Geschichte einer „anderen Art des Wahnsinns“ zu schreiben (7).[1] Sie ist die Geschichte einer ursprünglichen „Trennung“ (7, 13) zwischen Wahnsinn und Vernunft, die zugleich eine „Archäologie“ des „Schweigens“ sein muss: „Die Sprache der Psychiatrie, die ein Monolog der Vernunft über den Wahnsinn ist, hat sich nur auf einem solchen Schweigen errichten können.“ (8) Was Foucault in dieser Abhandlung unternimmt, die er 1961 als thése principale für sein Doktorat an der Sorbonne einreichen wird, ist nicht weniger, als sich einer „geschichtlichen Abwesenheit“ (11) anzunähern, die durch eben diese Scheidung von Wahnsinn und Vernunft in der Geschichte des modernen Denkens hervorgebracht wird. Entscheidend ist die „Geste“ dieser Trennung (7), die dazu führt, dass der Dialog zwischen Wahnsinn und Vernunft abgebrochen und die Rede „der unvollkommenen Worte ohne feste Syntax“ dem „Vergessen“ anheimgestellt wird (8). Wie Foucault im zweiten Kapitel ausführt, zeigt sich dies exemplarisch bei Descartes: Während der Traum sich in seinem Bezug zur Wahrheit profiliert und so noch die Möglichkeit des Zweifels zulässt, ist der Wahnsinn „gerade die Bedingung der Unmöglichkeit des Denkens“. Das denkende Subjekt kann nicht verrückt sein (69).[2]

Foucault selbst begibt sich mit seiner thése in die Unmöglichkeit, eine Geschichte des Wahnsinns zu schreiben; eines Wahnsinns, der begreifbar wäre, bevor er von einem Wissen eingehegt und zum Schweigen gebracht wird. Zum „Lärm“ degradiert ist der so konstituierte Wahnsinn das, wovon sich „eine bedeutungsvolle Sprache abhebt“: die Sprache der Vernunft, die nicht zuletzt von hier aus ihre Geschichte schreibt (12). Methodisch sieht sich Foucault vor die Herausforderung gestellt, „Worte und Texte“ zur Sprache zu bringen, die gerade nicht der Positivität des psychiatrischen Diskurses zu entnehmen sind, sondern „die von unterhalb der Sprache“ der Vernunft hervorgeholt werden müssen – und die eigentlich „nicht dazu geschaffen waren, zu einer Rede zu werden.“ (15)

Angesichts der Intensität der Sprache und der Neuartigkeit der Beobachtungen hat man zu Recht von einem „fulminanten Vorwort“ gesprochen,[3] das Foucault in seiner ersten großen Arbeit vorlegt. In der Neuausgabe, als Wahnsinn und Gesellschaft 1972 endlich wunschgemäß beim renommierten Verlag Gallimard erscheint, findet sich dieses Vorwort jedoch überraschenderweise nicht wieder.[4] Irritationen darüber haben Auseinandersetzungen über die Spuren eines phänomenologisch-strukturalistischen Erbes angeregt, die sich hier offenbar noch abzeichnen und von denen Foucault sich später distanzieren wird.[5] So mag man sich verwundert die Augen reiben angesichts der ontologischen Annahmen, die aufscheinen wollen, wenn Foucault von einer „stummen Zerrissenheit des Menschen“ (551) und einer „tragischen Struktur“ (9) in der Scheidung von Vernunft und Unvernunft spricht. Tatsächlich räumt Foucault in der Archäologie des Wissens ein, dass Histoire de la folie mit dem „was darin als eine ‚Erfahrung‘ bezeichnet wurde“ noch zu sehr „ein anonymes und allgemeines Subjekt der Geschichte“ nahelegt hatte;[6] und dass man nicht versuchen müsse zu rekonstruieren, was den „Wahnsinn selbst“ ausgemacht habe (71), um nachzuvollziehen, wie er sich als ein Gegenstand der Wissenschaft, namentlich der Psychologie konstituiert hat.

Doch man kann Wahnsinn und Gesellschaft auch konsequent von den analytischen Prinzipien der späteren Archäologie und Genealogie her lesen; in dieser Perspektive zielt die Frage nach der ursprünglichen Trennung zwischen Vernunft und Unvernunft gerade nicht darauf, einen „Ort der Wahrheit“, den vermeintlichen Ursprung, aufzusuchen, an dem eine Sache endlich mit sich selbst übereinzustimmen erscheint.[7] Vielmehr ist sie wörtlich zu nehmen: die Trennung selbst konstituiert erst ein Denken und stellt die Bedingungen her, unter denen eine Unterscheidung zwischen wahr und falsch möglich wird.[8] Die Geschichte des Wahnsinns will deshalb keine Geschichte der psychiatrischen Wissenschaft sein, sondern eine „Geschichte der Grenzen“, die in Augenschein nimmt, was eine „Kultur“ als das „zurückweist, was für sie außerhalb liegt“, und was doch „ganz genau soviel über sie aus[sagt]“ wie das, was sie zulässt, die „Werte“ etwa, über die sie sich definiert (9). Der „Ursprung“ beschreibt hier demnach also keine Gründung, vielmehr einen Riss, eine „Zäsur“ (7), in der eine Gesellschaft in sich einschließt, was sie ausschließen will.

Foucault hat Wahnsinn und Gesellschaft in einer Zeit verfasst, als er selbst auf der Flucht war vor einem Leben in Frankreich, das er kulturell und sozial als restriktiv erlebte.[9] Sein „Exil“ führte ihn zunächst nach Uppsala, wo die Arbeit hauptsächlich entstanden ist, dann nach Warschau und schließlich, von Oktober 1959 bis September 1960, nach Hamburg, wo er, „nicht weit von Altona“,[10] die Leitung des Institut Français übernahm und die Arbeit mit jenem fulminanten Vorwort zum Abschluss brachte. Wahnsinn und Gesellschaft ist insofern auch ein biographisches Zeugnis, von Erfahrungen, die noch bis in die Zeit in Uppsala reichen, wo sein Zugang zu einer Geschichte des Wahnsinns in einer Weise auf Unverständnis stößt, dass es ihm nicht gelingt, Histoire de la folie dort als thesis einzureichen.[11]

Wenn Foucault sich in den 1970er Jahren noch enttäuscht über die wissenschaftliche und politische Resonanz auf sein Buch zeigte,[12] so sollte sich dies bald ändern. Wahnsinn und Gesellschaft, das heute zu den großen Klassikern von Werken zählt, die sich einer disziplinären Zuordnung entziehen, hat in unserer Gegenwart unversehens noch einmal politische Aktualität erlangt: in einer Zeit, in der man gern die Vertreter des Poststrukturalismus (und der „Postmoderne“) und namentlich solche für die Misere einer Post Truth-Politik verantwortlich macht, die angeblich leichthin die Vernunft der Aufklärung verwerfen – und Geisteskrankheiten verharmlosen.[13]

Foucaults Werk indes durchzieht die Frage nach den historischen Bedingungen, unter denen bestimmte Formen des Wahrsprechens (veridiction) auftauchen können – und die Frage, wie wir uns dabei je als Subjekte konstituieren.[14] Das schließt die Bereitschaft, seine eigene(n) Gewissheit(en) zu untergraben (auch die, was der Mensch überhaupt ist), ein; und es ermöglicht, „das Leben der Unvernunft“ etwa in den Werken „Hölderlins, Nervals, Nietzsches oder Artauds, die unendlich irreduzibel auf jene Alienation sind“ (536), aufblitzen zu sehen.


[1] Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 (dt. zuerst 1969; fr. Erstausgabe1961: Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique, Paris: Plon). Die Hinweise auf die Seitenzahlen aus diesem Band sind im Folgenden im Text in Klammern gesetzt.

[2] Zu einer Kritik dieser Lesart von Descartes’ Meditationen und einer Historisierung der „Entscheidung“ zwischen Wahnsinn und Vernunft siehe aber Jacques Derrida: Schon in der Bestimmung des Logos bei den Griechen zeige sich, wie die Vernunft den Wahnsinn als das Andere von sich abzutrennen suche. Das Denken sei mithin bei Descartes als der Akt zu lesen, sich selbst gegen seine „Vernichtung“ und die Fortexistenz des Wahnsinns in uns selbst zu vergewissern (vgl. Derrida, Jacques: „Cogito und die Geschichte des Wahnsinns“, in: ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976 [1967], 53-101, S. 96-99, sowie „‚Gerecht sein gegenüber Freud‘. Die Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Psychoanalyse“, in: ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, 59-127).

[3] Nicolaysen, Rainer: „Foucault in Hamburg. Anmerkungen zum einjährigen Aufenthalt 1959/60“, Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 102, 2016, 71-112, S. 107.

[4] Foucault, Michel: Histoire de la folie à l’âge classique, Paris: Gallimard 1972. Das Vorwort erscheint dann wieder in Band I der Dits et ècrits (dt. Schriften 2001); in der deutschen Ausgabe ist es mit Einverständnis des Autors (zum Beispiel um eine Danksagung an George Dumézil) leicht gekürzt; s. Eribon, Didier: Michel Foucault und seine Zeitgenossen, München: Boer 1989, S. 150.

[5] Vgl. ausführlich hierzu Eribon, der sich vor allem auf den Einfluss seines Freundes und Förderers Georges Dumézil konzentriert (insbes. S. 154f. und S. 161-4).

[6] Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973 [1969], S. 29.

[7] Foucault, Michel: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in ders.: Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M.: Fischer 1987 [1971], 69-90, S. 72.

[8] „Sich den Allgemeinheiten des ‚Wahnsinns’, der ‚Delinquenz’ oder der Sexualität zu verweigern,“ so schreibt Foucault später im Rückblick auf seine Arbeiten, „soll nicht heißen, dass das, worauf sich diese Begriffe beziehen, nicht existiert, oder dass sie allein Chimären sind, die aus einem bestimmten Grund erfunden worden sind. Es geht allerdings um mehr als die simple Feststellung, dass ihr Inhalt sich mit Zeit und Umständen verändert. Es geht um die Frage nach den Bedingungen, die es den Regeln des wahren oder falschen Sprechens gemäß erlauben, ein Subjekt für geisteskrank zu betrachten oder ein Subjekt dazu zu bringen, die Modalität seines sexuellen Begehrens als den wesentlichsten Teil seiner selbst anzusehen.“ (Foucault, Michel: „Autobiographie“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42(4), 1994, 699-702, S. 701)

[9] Eribon, S. 127.

[10] Zitiert aus dem Klappentext der Erstausgabe nach Nicolaysen, S. 110.

[11] Vgl. Nicolaysen, S. 84, 110f.

[12] Vgl. Eribon, S. 163.

[13] Exemplarisch Kurt Andersen: “In 1965, the French philosopher Michel Foucault published Madness and Civilization in America, echoing Laing’s skepticism of the concept of mental illness; by the 1970s, he was arguing that rationality itself is a coercive “regime of truth”—oppression by other means. Foucault’s suspicion of reason became deeply and widely embedded in American academia.” (“How America Lost Its Mind. The nation’s current post-truth moment is the ultimate expression of mind-sets that have made America exceptional throughout its history”. The Atlantic, September 2017, https://www.theatlantic.com/magazine/archive/2017/09/how-america-lost-its-mind/534231/) Vgl. dagegen die Beiträge in Krasmann, Susanne & Hentschel, Christine (Hg.): The Desire for Truth and the Political (Behemoth. A Journal on Civilisation, 2, 2018).

[14] Vgl. Foucault, Michel: Wrong-Doing, Truth-Telling: The Function of Avowal in Justice. Chicago, London: University of Chicago Press 2014, S. 20.

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