Politische „Wertungssicherheit“ als Kernaufgabe politischer Bildung. Tilman Grammes über Hans-Hermann Hartwich in der politischen Bildung

Hans-Hermann Hartwich hatte von 1973 bis 1995 den Lehrstuhl für Innenpolitik an der Universität Hamburg inne. Hartwichs besonderes Interesse galt neben der fachlichen Organisation der Politikwissenschaft, die Rainer Schmalz-Bruns für unseren Blog Politik 100×100 zusammenfasste, der Lehrerbildung in den sozial­wissen­schaft­lichen Fächern. Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Hermann Hartwich starb am 12. Oktober 2018, wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag.

Tilman Grammes ist Professor für die Didaktik sozialwissenschaftlicher Fächer an der Universität Hamburg. Nach Stationen an der Universität Passau und der Technischen Universität Dresden nahm er 1997 den Ruf nach Hamburg an. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Demokratiepädagogik und die Aufarbeitung der politikdidaktischen Klassikerinnen und Klassiker. Von 1992-1997 war Tilman Grammes Mitherausgeber der Zeitschrift Gegenwartskunde.


Im sogenannten „Hamburger Modell“ der Lehrerbildung sind alle Fachdidaktiken traditionell in der Fakultät Erziehungswissenschaft verortet.[1] Im Unterschied zu den meisten lehrerbildenden politikwissenschaftlichen Instituten in der Bundesrepublik Deutschland verfügte das Hamburger Institut, das heutige Fachgebiet Politikwissenschaft, auch in Zeiten sehr guter Ausstattung niemals über eine Dozentur/Professur mit der Denomination Didaktik der politischen Bildung/Politikdidaktik.[2] Inhaltlich dagegen hatte sich gerade in Hamburg ein Verständnis von Politikwissenschaft als Demokratie- und Bildungswissenschaft von Beginn an ausgeprägt.

Für diese demokratiewissenschaftliche Tradition steht programmatisch Hans-Hermann Hartwich. Hartwich hat sich in seiner Zeit als Hochschullehrer am Hamburger Institut von 1973 bis 1994 und auch noch nach seiner Emeritierung in seinem Wirken in Lehre, Forschung und akademischer Selbstverwaltung immer auch der politischen Bildung verpflichtet gefühlt. Der dritte, neu eingerichtete Lehrstuhl mit der Denomination „Innenpolitik“, später Regierungslehre, den Hartwich am 1.4.1973 antritt, sollte sich vor allem um die Lehramtsausbildung kümmern (Wewer 2014, 319). Hartwich, zuvor seit 1970 bereits Professor am Otto-Suhr-Institut an der Freien Universität Berlin, bringt zu diesem Zeitpunkt zwei wesentliche Engagements in der politischen Bildung mit an das Hamburger Institut: die Schulbuch- und Verbandsarbeit.

Im Anschluß an Hakenkreuzschmierereien Weihnachten 1959 und ihre Nachahmungstaten, die auch international große Aufmerksamkeit finden und Besorgnis auslösen, wird 1960 in der Saarbrücker Rahmenvereinbarung der Kultusministerkonferenz das neue Fach Gemeinschaftskunde in der gymnasialen Oberstufe etabliert, ein Integrationsfach von Geographie, Geschichte und Sozialkunde. Weil ausgebildete Fachlehrer*innen für Sozialkunde fehlen, richtet das Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin ein Referat für politische Bildungsarbeit neu ein. Hartwich, gerade bei Gerd von Eynern 1959 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät zum Dr. rer. pol. mit einer Arbeit über den Einfluss des Staates auf die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Berliner Metallindustrie von 1918 bis 1933 promoviert, wird als akademischer Rat Leiter dieses Referats. Es werden viersemestrige Lehrerweiterbildungskurse zum Erwerb der „Zusatzfakultas Politische Propädeutik“ eingerichtet, aus denen ein Schulbuch für die gymnasiale Oberstufe hervorgeht: Politik im 20. Jahrhundert, verfasst im Team mit Dieter Grosser, Hannelore Horn und Wolfgang Scheffler. Im Vorwort umschreibt Hartwich das Anliegen: „Es kann und darf nicht allein Sache der Spezialisten sein, sich um die Gestaltung und den Zustand der öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern.“ (Hartwich 1963, 13) Hartwich antwortet auf den antizipierten Vorwurf an die Verfasser, dass diese häufig oder insgesamt zu analytisch vorgegangen seien und zu wenig die Erziehung zum Demokraten in den Vordergrund gestellt hätten: „Die Verfasser vertrauen mehr als allem anderen der Einsicht der heutigen Jugend. Das gründliche Nachdenken über die deutsche Geschichte und die ernsthafte Beschäftigung mit der Politik können zu keinem anderen Ergebnis als zum illusionslosen Bekenntnis zur freiheitlichen politischen Ordnung führen. Die Illusionslosigkeit ist der beste Schutz vor politischen Rattenfängern. Ferner ist sie die Quelle der Einsicht, dass auch die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens nie etwas Vollkommenes und Endgültiges darstellt, sondern immer weiterer Vervollkommnung bedarf.“ (Hartwich 1963, 15) Das Oberstufenschulbuch wird zum Lehrbuchklassiker und erlebt zehn Auflagen in 20 Jahren. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, die inhaltlichen Akzentverschiebungen über die Auflagen hinweg zu verfolgen. „In den Schulen und an den Orten, an denen politische Bildung vermittelt wird, kennt man Hartwich seit den 1960er Jahren.“ (Wewer 2014, 327)

Hartwich wirkt in den 1960er Jahren in einer bundesweiten Gemeinsamen Kommission der Fachvereinigungen der Soziologie und der politischen Wissenschaft über die inhaltliche Ausgestaltung der Lehramtsausbildung mit (Hartwich 1963). Er ist 1965 Gründungsmitglied der Deutschen Vereinigung für politische Bildung (DVPB) und von 1969-1972 Bundesvorsitzender dieses Interessenverbandes, dessen Mitglieder vorwiegend Lehrerinnen und Lehrer sind. Die Mitteilungen der DVPB erscheinen in GK, bis zur Gründung der eigenen verbandspolitischen Zeitschrift „Polis“ 1997. In Wie mündig müssen Lehrer sein dürfen? reagiert Hartwich thesenartig auf den Radikalenerlass vom Februar 1972 und fordert für Lehrer, die „nämlich nichts anderes (tun), als endlich die lange postulierten Ziele ernst zu nehmen“, den Schutz durch ihre Behörde und ihren verantwortlichen Minister (Hartwich 1972, S. 37).

Hartwich kommt 1973 also zu einer Zeit scharfer Kontroversen nach Hamburg – nicht nur in der Politik, sondern auch in der Politikwissenschaft. In der Einführung zur Neubearbeitung von Politik im 20. Jahrhundert (1974) wird diese Situation angedeutet: „Grundsätzliche Differenzen in der wissenschaftlichen Interpretation von Fakten sind auch zwischen dem Herausgeber und den übrigen Autoren aufgetreten. Alle an der Neuauflage Beteiligten sind sich jedoch darin einig, dass es besser ist, diese unterschiedlichen Positionen offenzulegen, als durch verschleiernde Formulierungen einen Konsens vorzutäuschen, der in Wirklichkeit nicht mehr besteht. In einem Buch, das den Anspruch erhebt, wissenschaftlich fundiert und für die Förderung politischer Urteilsfähigkeit von Schülern verwendbar zu sein, müssen diese Unterschiede der Interpretation allerdings nicht nur deutlich, sondern auch sorgfältig begründet sein.“ (Hartwich u.a. 1974, 9) Diese Programmatik verdeutlicht, wie sehr das Kontroversprinzip bereits vor seiner Veröffentlichung als Teil des Beutelsbacher Konsens von 1976 im politikdidaktischen Denken verankert war.

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Im Zentrum seines Engagements für die politische Bildung in der Hamburger Zeit steht jedoch die Gegenwartskunde. Diese führende Lehrerzeitschrift hat damals eine Auflage von mehreren tausend Exemplaren (Verlegerauskunft). Es ist eine didaktische Zeitschrift, wenn es darum geht, das „bedeutsam Allgemeine“ im Sinne des Mitherausgebers Wolfgang Hilligen aus dem spezifisch Konkreten zu destillieren, aber die Zeitschrift hat nie ihre Aufgabe in der Erörterung didaktischer Theorien um ihrer selbst willen gesehen. Die Zeitschrift versuchte immer, eine „Kultur zeitgeschichtlichen Wissens“ zu vermitteln; ihre Beiträge erschließen daher nicht nur für Mittler der politischen Bildung die meisten grundlegenden Ereignisse und Wandlungsprozesse von Gesellschaft, Wirtschaft, Politik der Bundesrepublik Deutschland von 1966 bis heute – ein „Handbuch der politischen Bildung, das sich ständig aktualisiert“ (An unsere Leser 1969, 1; zur Geschichte der Zeitschrift vgl. Hartwich 2006).

Hartwich fungiert seit 1966 ununterbrochen als Geschäftsführender Herausgeber. Zum 40jährigen Dienstjubiläum geben die Mitherausgeber Einblick in die wohl einmalige Arbeitsweise dieser Zeitschrift, bei der Herausgeberschaft immer zugleich intensive Lektoratstätigkeit bedeutet: „Jeder Herausgeber las und liest jeden eingegangenen Text und begutachtet ihn. Die Herausgeber entscheiden auf vierteljährlich stattfindenden Sitzungen gemäß ihren Voten über Annahme oder Ablehnung von Texten und verabschieden kurz- und mittelfristige Planungen. Diese Arbeitsweise – für eine derartige Zeitschrift einmalig in Deutschland – bestand und besteht also keineswegs in einer mehr oder weniger lässigen Einflussnahme auf die ‚Richtlinien der Politik’, sondern fordert konkreten, handfesten Einsatz. Hartwich hat von den 160 Sitzungen seiner Herausgeberschaft eine einzige wegen Erkrankung versäumt – nicht, ohne seine Sitzungsvorlage vorher einzureichen.“ (GWP 2006, 1: Zueignung. Hans-Hermann Hartwich 40 Jahre mit Gegenwartskunde/GWP)

Sein Verleger und Freund Edmund Budrich betont im Rückblick, als „Fachdidaktiker“ habe sich Hartwich nie verstanden. Aber er sei sich mit allen Mitherausgebern darin einig gewesen, dass die meisten Texte in der Zeitschrift in dem Sinne „didaktisch“ zu sein hätten, indem sie problemorientiert eine „Geschichte erzählen“. Die Aufgabe wird als „kategoriale Bändigung“ unübersehbarer Problemfelder beschrieben: „Der Fachwissenschaftler maßt sich gewiß nicht an, in die wissenschaftliche Didaktik einzudringen. Der rationale Umgang des Politikwissenschaftlers, der zugleich seiner inneren Bindung an die Politische Bildung Rechnung tragen will, … zwingt jedoch auch ihn, der seinen Beitrag leisten möchte, zu ordnenden Fragestellungen und Kriterien, einerseits, damit die Diskussion nicht im Unverbindlich-Allgemeinen stecken bleibt, andererseits, weil die Wissenschaft gewiß nicht nur den ‚Stoff‘ anbieten darf, sondern auch über seine Ordnung nachzudenken hat.“ (Hartwich 1991, 91f.)

Das handliche Format – „wie ein Taschenbuch“ – soll eine Zeitschrift „zum Auseinandernehmen“ ergeben (An unsere Leser, GK 1969, 1), Leser können die Materialien nach eigenen Ordnungsgesichtspunkten sammeln. Gegenwartskunde organisiert sich über Rubriken, die Lernen und Lehre durch eine Vielfalt an Textsorten unterstützen sollen, so die Verlagswerbung. Die Rubriken sind gewissermaßen didaktisierte journalistische Formate. Hartwich hat als Autor bis auf die Rubrik Didaktische Praxis alle diese Formate souverän bedient.

Fachaufsatz (nach 2002 auch: Großaufsatz): Worauf kommt es an, wenn Didaktiker die Fachwissenschaft kritisch reflektieren? Jedem Lehrenden in Politikwissenschaft und Politischer Bildung sei bekannt, dass „die Methoden und Kriterien systematischer sozialwissenschaftlicher Forschung eine Schwäche haben: In der Sachanalyse wird allzu leicht das dynamische Element des Politischen eliminiert. Dadurch wird zumindest in der Politischen Bildung das eigentliche Ziel verfehlt …“ (Hartwich 1991, 94) Sozialwissenschaftliches Denken ist für Hartwich also in besonderer Weise immer dynamisches Denken – hier sieht er die Verbindung zum fachdidaktischen Denken. Dieses dynamische Denken demonstrieren exemplarisch seine Fachaufsätze wie War im Mai 1945 auch das kapitalistische Wirtschaftssystem zusammengebrochen? Eine Studie über den Wandel von Wirtschaftssystemen (GK 1985, 1) oder Regierungswechsel und Parlamentsauflösung im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland (GK 1982, 4).

„Aktuelle Informationen“: Im ersten Heft des Jahres hat traditionsgemäß das Thema „Wirtschaft“ Vorrang. Hartwich, der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin studiert hat, berichtet regelmäßig über die jährlichen Prognosen der Wirtschaftsentwicklung durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und den Jahreswirtschafts­bericht der Bundesregierung. Auf die (rhetorische) Frage, ob sich die Fortsetzung der regelmäßigen Berichterstattung in der Zeitschrift noch lohne, lautet seine Antwort: „Auch Schüler müssen lernen, dass die Beschäftigung mit der Zukunft die Fähigkeit des Umgangs mit Unsicherheiten verlangt.“ (Editorial, GK 1989, 1, 4)[3]. Andere Beiträge in dieser Rubrik sind Die Einführung der D-Mark in der DDR am 1.7.1990 (GK 1990, 3). Auch das Thema Wahlen unterliegt regelmäßig seinem aktuellen Monitoring, so Die Niedersachsenwahl vom 1. März 1998 (GK1998, 1) oder Die Hamburg-Wahl vom 29. Februar 2004 – ein bundespolitisches Signal? (GK 2004, 1). Das Thema Wie wir arbeiten werden. Der neue Club of Rome-Bericht (GK 1998, 3) leitet über zur nächsten Rubrik. In der GWP schreibt Hartwich gelegentlich eine Wirtschaftspolitische Kolumne (Regieren nach der Wahl – mit Arbeitslosigkeit und hohen Schulden? GWP 2009, 3, 354-352).

„Das besondere Buch“ und die „Disputation“: Diese Rubrik setzt Impulse zur fachlichen Allgemeinbildung von Politiklehrkräften. Ein Beispiel ist die Rezension der Monographie Das nachkoloniale Afrika. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft der Hamburger Institutskollegen Rainer Tetzlaff und Cord Jakobeit (GWP 2006, 1). Andere Kollegen am Institut für Politikwissenschaft, die für die politische Bildungsarbeit durch angefragte Beiträge interessiert werden, sind Joachim Raschke mit Zur Revision der Institutionenkunde. Entwurf einer Didaktik der politischen Parteien (GK 1975, 3) oder Winfried Steffani mit Der überforderte Gesetzgeber (GK 1982, S. 1). Das Editorial orientiert, der Beitrag von Steffani beschränke sich nicht auf Verständnishilfen, sondern erörtere Möglichkeiten für eine plebiszitäre Ergänzung, „die vermutlich den Fragen der Schüler in der Sek II entgegenkommen“ (Editorial 1982,1, 3). 2019 ist diese Vermutung außerordentlich aktuell! Die Rubrik „Disputation“ gibt es nur einmal. Bindungsverlust und Zukunftsangst – Leben in der Risikogesellschaft (GK 1993, 4) informiert zur Zeitdiagnose des Soziologen Ulrich Beck.

„Analysen“ (auch: Modellanalyse, Lehrbeispiel, Curriculum-Baustein): Diese Rubrik soll Lehrkräften eine sachanalytische Grundlegung für ihre didaktisch-methodischen Überlegungen bieten. Solche Unterrichtsmodelle hat Hartwich als Herausgeber thematisch organisiert, ganz selten auch selbst verfasst (vgl. Hartwich/Laatsch-Nikitin/Schaal 1974).

„kontrovers dokumentiert“ (seit 2002: Kontrovers): Der Bruch der sozialliberalen Koalition im September 1982 wird von Hartwich mit einer mustergültig zusammengestellten Presseschau von FAZ, FR, SZ, Tagesspiegel und Die Welt kontrovers dokumentiert (GK 1982, 4). Seine anderen Themen in dieser Rubrik sind Maßstäbe für Entscheidungen unabhängiger Richter – das Deckert-Urteil (GK 1994, 4) oder Konkurrenz-Föderalismus versus kooperativer Föderalismus (GK 1999, 3). Unmittelbar didaktisch als Frage formuliert kommt Börsenkrach und Wirtschaftskrise. 1987 = 1929? (GK 1988, 1).

Der Zeitschrift gelingt es immer wieder, auch grundlegende disziplinäre Kontroversen zu führen. Zwei solcher Kontroversen seien abschließend hervorgehoben:

Entkopplung der „natürlichen Ehe“ zwischen Politikwissenschaft und Politikdidaktik? Die 1980er Jahre gelten aufgrund hoher Lehrerarbeitslosigkeit und Stellenstreichungen in der universitären Fachdidaktik als eine bleierne Zeit der Politikdidaktik. Eine Serie mit eingeworbenen Grundsatzbeiträgen Zur Lage der politischen Bildung soll den kläglichen Zustand beheben und als „Warnzeichen“ (Editorial GK 1987, 3) wirken. Hartwich schaltet sich erst gegen Ende – unter der Überschrift Politische Bildung und Politikwissenschaft im Jahre 1987 – persönlich in die Debatte ein. Er fühlt, dass es sich um ein „heikles Thema (handelt), das das Verhältnis zu meinen engsten Freunden berührt. Missverständnisse treten rasch auf.“ (GK 1987, 1, 6) Im Laufe der 1980er Jahre habe sich die in der Gründungsphase des Faches enge Verzahnung von Politikwissenschaft und politischer Bildung gelöst. Die Politikwissenschaft sei inzwischen „nicht mehr prädisponiert für eine ‚natürliche Ehe‘ mit der politischen Bildung. Sie wird es auch nicht mehr sein können. Sie sollte es auch im Sinne ihrer weiteren wissenschaftlichen Entfaltung nicht sein.“ (ebd., 13) Als Ursachen werden, neben persönlichen Profilierungen, eine zunehmende Verwissenschaftlichung, Ausdifferenzierung und Professionalisierung angeführt. Das gelte übrigens in beiden Richtungen, denn auch auf Seiten der Politikdidaktik sei ein Trend der Akademisierung und damit Entfernung von den praktischen Problemen erkennbar. Diese „Entkopplung“ vollziehe zudem eine Entwicklung nach, die die Soziologie als andere Bezugswissenschaft politischer Bildung schon viel früher vollzogen und auch nicht bedauert hatte. Hartwichs Entkopplungsthese löst einigen Wirbel aus, auch aus der Fakultät Erziehungswissenschaft, wie die Anmerkungen zur Lage der Lageeinschätzungen (GK 1987, 3) des Hamburger Erziehungswissen­schaftlers Bernhard Claußen dokumentieren.

Eigenständiges Fach Wirtschaft oder Sozialwissenschaften als schulpolitisches Programm? Zur Jahrtausendwende schaltet Hartwich sich in die Kontroverse um ökonomische und/oder politische Bildung ein, die ein neoliberales Positionspapier des Deutschen Aktieninstituts ausgelöst hatte. Als leidenschaftlicher Volkswirt nimmt er eine vermittelnde Position ein, indem er einerseits den Stellenwert ökonomischer Kenntnisse anmahnt, andererseits könnten diese ihren Beitrag zur Allgemeinbildung nur in einem integrativen, „synoptischen“ Zusammenhang entfalten, als Sozialöko­nomie, mit Politikwissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft (Recht im Schulunterricht – ein kritischer Gegenbericht, GK 1971, 2) und – last but not least – Zeitgeschichte[4]. Es komme auf einen maßvollen Umgang mit dem Übermaß an Wissensangeboten an. (GWP 2006, 9) Der Konflikt um ein einziges Schulfach, das notwendigerweise noch andere zurückdrängt oder eliminiert, sei deswegen sinnlos. Es geht um Orientierungswissen im aktuellen Kontext, ohne disziplinäre Hegemonialansprüche. Entsprechend waren und sind in den Studien- und Prüfungsordnungen für das Hamburger Lehramtsfach „Sozialwissenschaften“ bei allen Änderungen die drei Sozialwissenschaften VWL, Soziologie, Politikwissenschaft immer drittelparitätisch vertreten (vgl. Autorengruppe Lehrlabor Sozialwissenschaften 2018).

Es ist daher programmatisch, wenn die Gegenwartskunde sich 2002 umbenennt in GWP Gesellschaft – Wirtschaft – Politik. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Bildung. Dieses Signal sei „umso wichtiger, als die Zentrifugalkräfte offenkundig immer spürbarer werden, die auf eine Isolierung – in Gestalt getrennter Wissenschaftskulturen und vor allem auch Schulfächer – der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Informationsbereiche hinwirken.“ (GWP 2002, 1, 7) Die Hamburger Schulbehörde hat 2004 aus dem Akronym GWP in anderer Buchstabenfolge ein Schulfach PGW Politik-Gesellschaft-Wirtschaft gemacht – bundesweit mit Alleinstellungsmerkmal.

* * *

Am 10. November 1989, es ist ein Freitagnachmittag, hält Hans-Hermann Hartwich einen Festvortrag auf einem Kongress im Berliner Reichstag, der von der Bonner Bundeszentrale für politische Bildung veranstaltet wird. Anlass und Thema sind „Vierzig Jahre politische Bildung in der Demokratie“. Das Hämmern und Meißeln der Mauerspechte dringt hörbar bis in den Vortragssaal; viele Tagungsteilnehmer, die aus „Westdeutschland“ angereist sind, sind nach draußen gegangen, um unmittelbar Zeitzeugen des Mauerfalls zu sein. In der wesentlich erweiterten Druckfassung seines Vortrages schlägt Hartwich den Bogen zurück zum Ausgangspunkt seiner Tätigkeit in der politischen Bildung: Warum gibt es angesichts der Wahlerfolge rechtsradikaler Gruppierungen wie der Partei der Republikaner nicht ein entschiedenes, konstruktives und vor allem wirklich inspirierendes Sich-Auflehnen gegen die Gefährdungen der Demokratie und ihrer liberalen Wertordnung, wie es 1959 nach der Welle der Hakenkreuzschmierereien der Fall gewesen war? Seine Antwort lautet, Politikern wie vielen Mittlern politischer Bildung sei „die notwendige Sensibilität für die Grundbedingungen unserer Politik aus den Augen geraten“ und er empfiehlt „eine Wiederbelebung der politischen ‚Wertungssicherheit’“, womit ausdrücklich keine neue Werte-Erziehung gemeint sein soll, sondern eine viel „politischere“ Aufgabe (Hartwich 1990, 49f.).

Was die Schule vordringlich brauche, sei ein Kanon von Ergebnissen sozialwissenschaftlicher Arbeit, die wesentliche Einsichten in Gesellschaft, Wirtschaft, Staat und Politik ermöglichen (Hartwich 1963, 7). Sein nach der Entpflichtung 1995 zuletzt angekündigter Vorlesungszyklus nimmt den Impuls vom Beginn der 1960er Jahre aus der Berliner Lehrerweiterbildung und von Politik im 20. Jahrhundert bilanzierend auf. Immer Montag 16-18h liest Hartwich im Hörsaal C des Philosophenturms über drei Semester zur Geschichte der Bundesrepublik, ergänzt jeweils um ein thematisch bezogenes Hauptseminar (in Klammern):


Teil I SoSe 1996: Geschichte der Bundesrepublik 1949-69: Staatsgründung und Wirtschaftswunder – Adenauerzeit und Rebellion
(Sozialstaat und Arbeitsgesellschaft in Deutschland. Aktueller Befund und Perspektiven)

Teil II WiSe 1996/97: Die Bundesrepublik Deutschland 1969 bis 1990. Zwischen „Inneren Reformen“, „Wende“ und Wiedervereinigung
(Ökonomische und politische Probleme der europäischen Währungsunion)

Teil III SoSe 1997: Die Wiedervereinigung Deutschlands und ihre Folgen seit 1989
(Deutsche Haushalts- und Finanzpolitik unter den Bedingungen von Aufbau Ost und Maastrichter Konvergenzkriterien).[5]


Solche Lehre steht ganz in der Tradition einer Politikwissenschaft, die sich als Demokratiewissenschaft versteht und politische Bildung als selbstverständliche Aufgabe mit einschließt, in Hamburg u.a. vertreten durch Siegfried Landshut (vgl. Detjen 2018). Hartwich besitzt „ein Gespür für das, was Politik im Kern ausmacht“ (Wewer 2014, 323). Im Nachruf des Verlages heißt es: Und nur wenige deutsche Sozialwissenschaftler von Rang haben sich in dieser Weise in der politischen Bildung engagiert.[6]


Literatur

Beiträge von Hans-Hermann Hartwich

Beiträge in der Gegenwartskunde (ab 2002 GWP Gesellschaft-Wirtschaft-Politik) werden meist direkt im Text mit kursivem Titel angeführt (Suchmaske für Beiträge von Hartwich ab 2000 auf https://www.budrich-journals.de/index.php/gwp)

Hg. (1963): Sozialkunde und Sozialwissenschaften. Zur Diskussion um das neue Fach Gemeinschaftskunde. Berlin: Colloquium

Hg., mit Dieter Grosser, Hannelore Horn, Wolfgang Scheffler (1964): Politik im 20. Jahrhundert. Braunschweig u.a.: Westermann (Neuausgabe Braunschweig: Westermann 1984)

(1972): Wie mündig müssen Lehrer sein dürfen? – Drei Thesen zur Erfüllung amtlicher Erziehungsaufträge. In: Frister, Erich/Jochimsen, Luc (Hg.): Wie links dürfen Lehrer sein? Unsere Gesellschaft vor einer Grundsatzentscheidung. Reinbek bei Hamburg: rowohlt März 1972, 33-53

mit Laatsch-Nikitin, Nina/Schaal, Monika (1975): Arbeitslosigkeit. Fachwissenschaft­liche Analyse und didaktische Planung. Opladen: Leske & Budrich

(1990): Die wechselseitige Beeinflussung von Politik und staatlicher politischer Bildung. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): 40 Jahre politische Bildung. Bonn 1990, 34-50

(1991): Die „Herausforderungen“ des technisch-wirtschaftlichen Wandels und ihre „kategoriale Bewältigung“ durch Politikwissenschaft und Politische Bildung. In: Claußen, Bernhard/Gagel, Walter/Neumann, Franz (Hg.): Herausforderungen – Antworten. Politische Bildung in den neunziger Jahren. Wolfgang Hilligen zum 75. Geburtstag. Opladen: Leske+Budrich, 91-105

(2000): Kein neues Fach Ökonomie, aber eine modernere Wirtschaftslehre in der schulischen politischen Bildung. In: Gegenwartskunde 2000, 1, 23-36

(2006): Sozialwissenschaften und politische Bildung 1966-2006 im Spiegel der Zeitschrift Gegenwartskunde/Gesellschaft–Wirtschaft–Politik. In: GWP 2006, 1, 119-134

Sekundärliteratur

Autorengruppe Lehrlabor Sozialwissenschaften (2018): Tilman Grammes, Ulla Ralfs, Juan Miguel Rodriguez Lopez, Rieke Trimçev, Horst Leps, Christian Welniak, Malte Flachmeyer, Raphael Heinetsberger: Lehrlabor Sozialwissenschaften. Sechs hochschulfachdidaktische Versuche. Hamburger Studientexte Didaktik Sozialwissen­schaften, Bd. 10. Universität Hamburg, Fakultät Erziehungswissenschaft, 2018
http://epub.sub.uni-hamburg.de/epub/volltexte/2019/96137/

Bermbach, Udo (1993): Über Hans-Hermann Hartwich. In: Böhret, Carl (Hg.): Regieren im 21. Jahrhundert — zwischen Globalisierung und Regionalisierung. Festgabe für Hans-Hermann Hartwich zum 65. Geburtstag, 239-248

Detjen, Joachim (2016): Politische Erziehung als Wissenschaftsaufgabe. Das Verhältnis der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft zur politischen Bildung. Baden-Baden: Nomos, 349-365

Geißler, Georg (1973): Eingliederung der Lehrerbildung in die Universität. Das Hamburger Beispiel. Weinheim: Beltz

Wewer, Göttrik (2014): Hans Hermann Hartwich. In: Jesse, Eckhard/Liebold, Sebastian (Hg.): Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Baden-Baden: Nomos 2014, 317-330


[1] Zur Geschichte der Lehrerbildung in Hamburg vgl. Geißler 1973. Zum aktuellen Stand der Kooperation von Fachwissenschaft und Fachdidaktik vgl. Autorengruppe Lehrlabor Sozialwissenschaften 2018 (online).

[2] Ein Postdoktorand aus dem Institut für Politikwissenschaft ist auf eine explizit politikdidaktische Professur in der Erziehungswissenschaft berufen worden: Prof. Dr. Harm Prior war von 1972 bis 1989 Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Didaktik der Politik. Harm Prior (*1927) war 1954 bis 1965 Volksschullehrer und dann Assistent am Pädagogischen Institut der Universität Hamburg. 1968 promovierte er zum Thema Die interministeriellen Ausschüsse der Bundesministerien. (https://nds.wikipedia.org/wiki/Harm_Prior)

[3] Solche rein berichtenden Texte konnte man bis zur vollen Wirkung des Internet noch bringen, bis sie vom Angebot des Netzes scheinbar obsolet gemacht wurden. Seitdem heißt die Rubrik „Aktuelle Analysen“ und nicht mehr „Aktuelle Informationen“, und so wurden und werden die Texte dort auch gestrickt. (Information: Edmund Budrich)

[4] Für eine zeitgemäße politische Bildung reicht mit Sicherheit ein auf die Gegenwart beschränktes Orientierungswissen nicht mehr aus. Politische Bildung muss immer mehr auch diachron sein und historische Bezüge aufgreifen. (GWP 2002, 1, S. 9)

[5] Quelle: Universität Hamburg. Personal- und Vorlesungsverzeichnis Sommersemester 1996ff.

[6] Der Dank des Verfassers gilt Edmund Budrich als Verleger und Prof. Dr. Sibylle Reinhardt als Mitherausgeberin von GWP für ihre Zeitzeugeninformationen.

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