Um der kolonialen Verstrickung auch noch in der Staatskritik zu entkommen, die vor allem seit dem 20. Jahrhundert immer wieder auf das Motiv des ‚Rückfalls in die Barbarei‘ zurückgreift, schlägt Oliver Eberl im Schlusskapitel seiner Schrift Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus eine Orientierung an Jürgen Habermas‘ Konzept der Kolonialisierung vor. Im vierten Diskussionsbeitrag unseres studentischen Buchforums setzt sich Moritz Fromm mit möglichen Hürden eines solchen Rückbezugs auseinander und fragt so: Kann eine Theorie der Kolonialisierung als Staatstheorie gelingen?
Moritz Fromm hat am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin einen Bachelor in Politikwissenschaften erworben. Derzeit studiert er Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt und der TU Darmstadt.
Oliver Eberl arbeitet in seinem Buch das koloniale Erbe des Staatsbezugs in der Politischen Theorie heraus. Den Anfang machte Hobbes’ Naturzustand, der kein abstraktes Gedankenexperiment, sondern ein Hinweis auf die nichtstaatlichen Gesellschaften des kolonialisierten Nordamerikas war. Entlang des „Barbareidiskurses“ entwickelt Eberl die Erkenntnis, dass auch nach Hobbes Staatsbegründung und -kritik von problematischen Annahmen über den Naturzustand und „Barbarei“ getragen wurden.
Um dieses Erbe im Fundament der Politischen Theorie zu identifizieren, weist Eberls Argument weit in die Vergangenheit. Die Idee der menschlichen Evolution zur Sesshaftigkeit wird – inspiriert durch James C. Scott[1] – durch die Gleichzeitigkeit von staatlichen und nichtstaatlichen Gesellschaften in der Frühgeschichte und Antike ersetzt. Schon die frühesten staatlichen Gesellschaften bezeichneten die Nomaden dabei als „Barbaren“. Die negative Fremdbezeichnung der vermeintlich Rückständigen lieferte die Legitimation für ihre gewaltsame Integration als Sklaven in die staatliche Ordnung.[2] „Barbarei“ war durch alle Zeiten der Staatsentwicklung ein asymmetrischer Gegenbegriff. Inhaltlich unbestimmt, repräsentiert er denjenigen Zustand, den die staatliche Ordnung zum vermeintlich Guten überwand (ebd.: 71). Die Staatsbegründung baut auf dem negativ konnotierten Begriff für die „Anderen“ auf.
Schon bei Hobbes ist dieses Narrativ dann auch für die Staatskritik angelegt. Er zeichnete mit dem Naturzustand nicht nur ein abschreckendes Bild der Anderen, sondern warnte seine europäischen Zeitgenossen gleichzeitig vor der Möglichkeit ähnlicher Zustände, sollte der Staat das Gewaltmonopol aus den Händen verlieren. Den politischen Konfliktparteien im Englischen Bürgerkrieg legte er die Alternative zwischen „barbarischem“ Naturzustand und Leviathan vor. Ein Gedanke, der an die Losung „Sozialismus oder Barbarei“ von Rosa Luxemburg erinnert. Genau um diese strukturelle Ähnlichkeit von Staatskritik und Staatsbegründung geht es Eberl. Auch wenn Luxemburg die Losung wörtlich nicht so schrieb (ebd.: 464), offenbart sie den gemeinsamen Bezug auf die „Barbarei“ als das Andere der guten Ordnung.
Im Lichte der Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts wurde „Barbarei“ schließlich zum Synonym für die potentielle Grausamkeit der Menschen trotz Aufklärung und staatlicher Ordnung, für die Möglichkeit des Rückfalls hinter Zivilisation und Kultur. Adorno spitzte diese Konzeption zu, indem er Zivilisation und „Barbarei“ strukturell verknüpfte. Die Gesellschaft fiel im Nationalsozialismus nicht hinter sich zurück, sondern sie bedarf überhaupt erst einer „Entbarbarisierung“ (zit. n. ebd.: 479). So aber gibt die Gesellschaftstheorie das „Potenzial der Differenzierung von individueller Gewaltneigung und gesellschaftlichen »Zivilisationsbrüchen«“ auf (ebd.: 481). Während in der Rechtswissenschaft mit den Nürnberger Prozessen in Theorie und Praxis eine begriffliche Aufarbeitung von Menschheitsverbrechen begann (ebd.: 484-503), versperrt der inhaltlich unbestimmte Begriff der „Barbarei“ der Politischen Theorie den Blick. Statt das spezifisch moderne an den Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts zu ermitteln, wird es als das Andere verstanden. Eberl geht es also nicht nur um die kolonialen Implikationen des Begriffs, sondern auch um seine mangelnde analytische Eignung:
„Auch diese Verwendung von »Barbarei« verzerrt also nicht nur weiter das Bild der Anderen, es verzerrt auch das Selbstbild, das dadurch die skandalisierten Taten nicht sich selbst zurechnen muss, sondern einem untergründigen, noch nicht voll überwundenen sozialen oder mentalen Zustand zuschreiben kann, dessen Bild der kolonialen Wahrnehmung entspricht“ (ebd.: 59).
Am Ende des Buches deutet Eberl eine begriffliche Lösung des Problems an. Statt anhand des Begriffs der „Barbarei“, sollte die Politische Theorie ihre Staatskritik mit dem Begriff der Kolonialisierung aufziehen. Statt den Staat „von einem seiner wesentlichen Tätigkeitsfelder – der Expansion von Herrschaft –“ zu entlasten, könnte der Begriff der Kolonialisierung die Kontinuität staatlicher Gewalt aufdecken. Die Politische Theorie bekäme ein begriffliches Instrument, die Grausamkeiten der Moderne nicht als Rückfall, sondern als Spezifikum staatlicher Ordnungsbildung zu begreifen. Die Kolonialisierung wäre dann keine überkommene Erbsünde, sondern Teil eines Kontinuums expansiver Ordnungsbildung. Eberl schließt mit diesem Gedanken an das Motiv der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ von Jürgen Habermas an. Ich möchte nun kurz die Chancen und Schwierigkeiten skizzieren, die sich für eine Staatskritik im Anschluss an Habermas’ Theorie ergeben.
Für Habermas differenzieren sich in der (europäischen) Moderne zwei Subsysteme aus der Lebenswelt heraus: Wirtschaft und Staat. Während in der Lebenswelt Handlungen über ein kommunikatives Hintergrundverständnis koordiniert werden, welches grundsätzlich der normativen Befragung offen steht, erfolgt dies in den Systemen über die normfreien Medien Geld und Macht. Kolonialisierung meint dann den Einfall mediengesteuerter Handlungskoordinierung in kommunikativ strukturierte Bereiche der Gesellschaft. Eberl deutet die Möglichkeit an, mit dieser Theorie die historische Kolonialisierung in eine Kontinuität staatlicher Expansion einzubinden. Eine Textstelle aus der „Theorie des kommunikativen Handelns“ verdeutlicht diese Möglichkeit:
„[D]ie Imperative der verselbstständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation“ (TkH II: 522).
Um die Analogie im Sinne Eberls zu verstehen, denken wir uns die Subsysteme als strukturell expansiv. Für die kapitalistische Wirtschaft scheint diese These evident. Für das Subsystem Staat könnte die These so funktionieren: Sobald es „Verfügung über Sanktionsmittel für bindende Entscheidungen“ in einer Gesellschaft gibt, ist das Medium Macht institutionalisiert (TkH II: 254f.). Ab dann neigt der Staat zur Expansion. Das heißt, dass immer mehr Handlungskoordinierungen auf das Medium Macht umgestellt werden. Die Geschichte staatlicher Ordnungen wird von Beginn an durch eine beständige Kolonialisierung der Anderen bestimmt, die gewaltsam in den Staat integriert werden. In der europäischen Moderne verknüpfen sich die beiden Subsysteme mit der Folge einer sich beschleunigenden Expansion. In der Folge bildet sich eine Staatenwelt mit einer Weltwirtschaft heraus. Ab dem Punkt greift Habermas’ Gegenwartsanalyse, dass die Systeme nun nach innen expandieren. Als Klienten des Sozialstaats, Arbeitnehmer_innen und Kosument_innen müssen sich die Menschen im Zentrum den Medien zunehmend anpassen. Macht und Geld verdrängen als Kolonialherren eine kommunikativ vermittelte Handlungskoordinierung. Das Potenzial für Kritik und Konsens wird durch monetären Anreiz und staatliche Drohung ersetzt.
Auf diese Weise erscheint die historische Kolonialisierung nicht als Exzess der Moderne, sondern wird in das Kontinuum expandierender Systeme eingefügt. Die Pointe für die Politische Theorie ist, die gewaltsame Expansion staatlicher Gesellschaften nicht als abgeschlossenen Prozess zu betrachten. Die innere Kolonialisierung der Systeme Staat und Wirtschaft bis in die Weltwahrnehmungen der Subjekte ist die Fortführung der externen Kolonialisierung nichtstaatlicher Gesellschaften. Die historische Kolonialisierung lässt sich dann nicht mehr aus der Gegenwart staatlicher Ordnung ausklammern. Die Politische Theorie sollte den Staat nicht als „freiheitsstiftende Ordnung […], sondern als zu kritisierende Engführung menschlicher Lebensweisen und […] als Gewaltverhältnis“ begreifen (Eberl 2021: 43). Das skizzierte Unterfangen müsste freilich mit Schwierigkeiten umgehen, die nun kurz angerissen werden.
Zunächst stellt sich eine empirisch-historische Schwierigkeit. Auf der Hand liegt der Einwand, dass sich die historische Kolonialisierung qualitativ von der inneren Expansion – die Habermas im Blick hat – unterscheidet. Selbst wenn im Sinne des Arguments eine strukturelle Ähnlichkeit angenommen wird, lassen sich Pathologien im Verwaltungsstaat nicht ohne weiteres mit den Genoziden der Kolonialisierung verbinden. Eine solche Analyse würde Gefahr laufen, eine Erzählung von Fortschritt durch Pazifizierung zu liefern. Krieg und Grausamkeit stünden am Anfang der Ausdifferenzierung des Systems Staat. Die innere Expansion verursacht am Ende nur noch Resignation. So könnten die Gewaltphänomene des letzten Jahrhunderts erneut als Ausnahmen einer evolutionären Tendenz deklariert werden. Um dies zu verhindern, muss der Analyserahmen auf die Gewaltphänomene des 20. und 21. Jahrhunderts erweitert werden. Diese Erweiterung lässt sich allerdings nicht einfach mit Habermas’ Entwurf erklären. Es ist eine empirische Frage, ob es gelingt, Gewaltphänomene der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit zumindest als Randphänomene expansiver Systeme zu erklären.
Ein solches Vorhaben sieht sich zusätzlich mit der holzschnittartigen Trennung von System- und Lebenswelt konfrontiert, die Nancy Fraser an Habermas’ Modell kritisiert. Sie schlägt vor, dass wir uns die beiden Gesellschaftsbereiche nicht getrennt, sondern miteinander verstrickt vorstellen sollten (1993: 180).[3] Übertragen auf die staatliche Expansionslogik bedeutet dies, dass sich aus ihr keine monokausale Erklärung für Pathologien und Gewalt destillieren lässt. Die systemische Integration über das Medium Macht läuft nicht wie von Geisterhand. Staatliche Expansion war und ist mit der Lebenswelt verknüpft. Die Ideologien des „Barbareidiskurses“ liefern ein offensichtliches Beispiel dafür. Eberls Vorschlag nichtstaatliche Gesellschaften mit der Lebenswelt und staatliche mit Systemwelt zu identifizieren, folgt hingegen der schematischen Trennung von Habermas (Eberl 2021: 514).
Schließlich stellt sich das Problem, dass Habermas’ Theorie selbst eine evolutionär-fortschrittliche Struktur hat (vgl. u. a. TkH II: 230f.).[4] Für Habermas ermöglicht eine sich rationalisierende Lebenswelt die Ausdifferenzierung der Subsysteme. Die Rationalisierung der Lebenswelt lässt sich dabei grob ebenfalls als Ausdifferenzierung – beispielsweise von Moral und Recht – verstehen. Erst auf einem hohen Abstraktionsniveau kann die Lebenswelt über ein von moralischen Gehalten entlastetes Recht die Medien, Macht und Geld institutionalisieren. Die Kolonialisierung der Lebenswelt setzt erst ein, wenn die Subsysteme bereits vollständig verselbstständigt sind. Insofern ist Habermas’ Konzept zwar kein Rückfall, aber ein Umschlagen. Die Ausdifferenzierung selber ist positiv konnotiert. Geld und Macht ermöglichen die Integration komplexer Gesellschaften, welche die Lebenswelt normativ überfordern würde. Erst wenn die verselbstständigten Systeme auf Bereiche der Lebenswelt übergreifen, die sich ohne Pathologien nicht auf normfreie Sozialintegration umstellen lassen, werden sie zu einem Problem. Das normative Ziel ist für Habermas letztlich, die Systeme über das Recht wieder an die Lebenswelt zu koppeln.
Um aus dieser Theorie eine Staatskritik zu entwickeln, welche die strukturell expansive Logik des staatlichen Systems kritisiert, müsste die Theorie ihres Fortschrittscharakters entkleidet werden. Identifiziert man – wie von Eberl vorgeschlagen – nichtstaatliche Lebensformen mit der Lebenswelt, ergibt sich folgendes Bild: Die Geschichte des Staates wird von der Umstellung von immer mehr lebensweltlichen Handlungsbereichen auf das Medium Macht bestimmt. Gelingt es der Politischen Theorie diese Logik auf den Begriff zu bringen, lassen sich die Pathologien im Zentrum durch eine innere, die Gewalt an der Peripherie durch eine äußere Kolonialisierung erklären. Dabei ist Peripherie nicht räumlich zu verstehen. Gelingt es Peripherie in Bezug auf das Medium zu verstehen, lassen sich damit auch interne Exklusionen erklären. Beispielhaft ist hierfür die Stigmatisierung von Armen und Arbeitslosen im Europa des 19. Jahrhunderts (vgl. a. Eberl 2021: 35f.), welche die gewaltsame Integration in sogenannten Arbeitshäusern zur Folge hatte.
Aus Eberls Buch lernen wir, dass die Expansion des Staates ideologisch mit einer beständigen Abwertung der zu integrierenden „Anderen“ einhergeht. Diese Abwertung lässt sich durch einen Blick auf die Expansionslogik des Staates analytisch überwinden. Dieses Projekt verfolgt nicht nur den Zweck der Gerechtigkeit, sondern dient der Selbsterkenntnis des Zentrums. Es legt einen Blick auf die staatliche Zwangsordnung frei. Die scheinbare Ordnungsfunktion des Staates weicht einer Analyse der Pathologien und Gewalt. Das Zentrum kann sich letztlich selbst als „kolonialisiert“ begreifen. Ob diese Analyse begrifflich tragfähig und normativ wünschenswert ist, muss allerdings erst nachgewiesen werden.
[1]Scott, James C. (2020). Die Mühlen der Zivilisation. Frankfurt am Main.
[2] Eberl, Oliver (2021). Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus. Hamburg, S. 42; Zitate aus Eberls Monographie im Folgenden im Fließtext.
[3]Fraser, Nancy (1993). Widerspenstige Praktiken: Macht, Diskurs, Geschlecht. Suhrkamp.
[4]Eine ausführliche Kritik an der Rolle von Fortschritt in der Theorie des kommunikativen Handelns: Allen, Amy (2017). The End of Progress. S. 37-79.
Hier geht es zum einführenden Beitrag des Buchforums: BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei – Ankündigung und Vorbemerkungen
und hier zum letzten Beitrag: Lore-Marie Junghans: Was heißt politische Theorie jenseits von Naturzustand? (BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei #3)
Der nächste Beitrag von Robin Koss mit dem Titel Den kolonialen Blick auf Staatlichkeit verlernen. Eberls Beitrag zur Dekolonisierung der politischen Theorie erscheint am Donnerstag, den 20. Mai.