Lore-Marie Junghans: Was heißt politische Theorie jenseits von Naturzustand? (BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei #3)

Im dritten Buchforumsbeitrag zu Oliver Eberls Monographie Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus nimmt sich Lore-Marie Junghans einer der Kernthesen des Werkes an. Mit einer Rekonstruktion von Thomas Hobbes‘ Staatsbegründungstheorie verdeutlicht Eberl die inhärente Verbindung des Naturzustandsmotivs mit dem Barbareitopos und führt den Naturzustand als Zwillingwie auch als Erbe des Begriffs der ‚Barbarei‘ ein. Im Folgenden wird diese Lesart diskutiert und gefragt, welche Implikationen die Dekonstruktion des ‚kolonial kontaminierten‘ Naturzustandsmotivs für heutige Theoriebildung, etwa ausgehend von John Rawls‘ Urzustandskonzeption, hat.

Lore-Marie Junghans studiert Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Zu ihren Interessenschwerpunkten gehören politische Theorie, Gesellschaftstheorie, Geschichte des politischen Denkens sowie Feminismus.


„Eine politische Theorie, die sich über ihre kolonialen Prägungen aufgeklärt hat, wird auf Naturzustandsbeschreibungen und den Begriff ‚Barbarei‘ verzichten“[1] – lautet eine zentrale, hier zu prüfende These der soeben in der Hamburger Edition erschienenen Studie von Oliver Eberl, in der dieser sich auf der grundlegendsten Ebene um die Dekolonisierung bzw. Selbstaufklärung der politischen Theorie – um eine politische Theorie „jenseits von Naturzustand und ‚Barbarei‘“[2] bemüht. Eberl fokussiert dieses Unterfangen auf einige der zentralen Gegenstände der politischen Theorie: den Topoi Staat, Staatsbegründung und Staatskritik.[3] Dabei möchte er die problematisierte koloniale Prägung europäischer politischer Theoriebildung mit Hilfe des „Barbareidiskurses“ zu fassen bekommen, welchen er im Laufe der Studie eindrücklich und kleinteilig nachzeichnet.[4] Gleich eingangs verweist Eberl in diesem Zuge auf eine Verbindung von Naturzustand und „Barbarei“,[5] welche die gesamte Argumentation anleiten und insbesondere die hier in den Blick genommene These grundieren wird, nämlich dass „diese bisher übersehene Verbindung […] es rechtfertigt, den Naturzustand als einen kolonial kontaminierten Topos aufzufassen“ und dass „[d]ie Vorstellung, Aussagen über die generelle Vorzugswürdigkeit der Staatlichkeit gegenüber einem sogenannten Naturzustand treffen zu können, […] letztlich als ursprünglich imperialistisch zurückgewiesen werden“ muss.[6] Diese Verbindung zu plausibilisieren ist daher notwendig eine der Hauptaufgaben des Buches – dass dies mithin nicht ohne Umwege passieren kann, lässt sich schon anhand der gleichzeitigen Charakterisierung von Naturzustand als Zwilling und als Erbe des Barbareibegriffs erahnen,[7] stellt sich damit doch die Frage nach der Wirkrichtung. Überdies muss aber auch die Plausibilisierung der Reichweite seines Arguments geleistet werden, denn wie im zweiten Teil der soeben genannten These bereits anklingt, geht es ihm nicht nur um eine Kritik der Naturzustandsfigur, sondern wesentlich umfassender um ‚Staatsdenken‘ allgemein. Eine solche die Reichweite betreffende Frage bezieht sich auf Eberls Auffassung der Rolle von Naturzustandskonzeptionen in der politischen Theorie. Es soll daher die Überlegung angestellt werden, wie genau seine Ablehnung des Naturzustandstopos in der politischen Theorie zu verstehen ist (I) – immerhin wurde diese Figur seit Hobbes (bzw. auch schon vor ihm)[8] in ganz unterschiedlicher Weise und oftmals in Abgrenzung zu ihm immer wieder verschiedentlich aufgegriffen – und was genau es für Eberl bedeutet, den Naturzustand als einen „kolonial kontaminierten“[9] Topos aufzufassen (II). Zur Veranschaulichung soll dabei sodann gefragt werden, ob die Urzustandskonzeption des Jubilaren John Rawls im Sinne Eberls ebenfalls als „kolonial kontaminiert“ zu gelten hat.

 

I

Das Naturzustandsargument ist weitgehend auf die Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes‘ Konzeption fokussiert. Zunächst argumentiert Eberl, dass Hobbes‘ Naturzustand insofern im Kontext des Kolonialismus steht, als dass er bei dessen Beschreibung nicht nur auf Motive des Barbareidiskurses zurückgreift, sondern ihn auch als expliziten Verweis auf die ‚Neue Welt‘ bzw. die nomadischen Völker Nordamerikas verstand – ein Verweis, der, so Eberl, von seinen Zeitgenossen wohl erkannt und als Skandal wahrgenommen wurde.[10]Bekanntlich möchte Hobbes „in der gegenwärtigen Welt der blutigen Glaubens- und Bürgerkriege endlich die Formel […] entwickeln, wonach die Menschen nicht nur friedlich, sondern auch einigermaßen gut zusammenleben können“.[11] Im Sinne des kontraktualistischen Arguments muss er daher eine seiner politischen Zielvorstellung entsprechende Ausgangssituation, die Naturzustandsbeschreibung, entwickeln, welche die Problemdarstellung für die anvisierte Lösung bereits liefert.[12] Für Hobbes‘ politische Zielvorstellung gilt es, ein hinreichend abschreckendes Szenario zu zeichnen. Eberl sieht dies, in expliziter Abgrenzung von vertrauten Hobbes-Auslegungen, durch den Amerika- bzw. Barbareidiskursbezug vollbracht; für die Antwort auf ein Problem europäischer Gesellschaften (Staatenbildung, Gewaltmonopol) werden die Vorstellungswelten eines europäischen Blicks auf die Gesellschaften Amerikas dienstbar gemacht, in welchen diese als „barbarisch“, „wild“ und insbesondere staatenlos präsent sind.[13] Die Antwort auf den „Naturzustand“, das Chaos der Nicht-Staatlichkeit, ist für Hobbes natürlich der Staat. Eberl führt aus, dass die Begründungsleistung des Kontraktualismus wesentlich auf der Darlegung der Defizite von Nicht-Staatlichkeit basiert,[14] doch dass Hobbes‘ Argumentationskette darüber hinaus gerade über den Schlenker des Barbareidiskurses funktioniere: Die Kritik an der fehlenden Staatlichkeit der eigenen Gesellschaft nimmt in den Termini der kolonialen Abwertung der Anderen erst so richtig Fahrt auf und wertet im selben Zuge alles Nicht-Staatliche ebenso wirkungsvoll ab.[15] Den Englischen Bürgerkrieg, welcher Hobbes‘ Lebzeiten mindestens ebenso unmittelbar prägte wie der Kolonialismus, vergisst Eberl nicht, sieht dessen Verarbeitung in den Naturzustand aber dennoch über den kolonialen Kontext vermittelt.[16] So argumentiert er, dass theorieimmanente Gründe dazu führen mussten, den Naturzustand als Abbild der „Barbarei“ zu konstruieren:[17] „Hobbes [musste] den Staat durch Kritik begründen […] [und] konnte nicht mehr auf Religion, Tradition oder das menschliche Wesen zurückgreifen“[18] – der Rückgriff auf einen durch die Barbareimotivik unheilvoll erscheinenden Naturzustand müsse her.[19]

Bei der Transformation des Barbareibegriffs in den Naturzustand geht es Eberl somit um die Übertragung der Inhalte des Barbareitopos in die politische Theorie, konkreter: die Übernahme der Struktur des Barbareibegriffs in den des Naturzustands.[20] Eine Übertragung, die erwähntermaßen über einige Umwege führt, da Eberl Naturzustand sowohl als Zwilling von „Barbarei“ als auch als dessen Erbe führt.[21] Und in der Tat scheint er an beiden Versionen festzuhalten wollen, was den Status dieser Begriffstransformation nicht eben vereinfacht. Erbe des Barbareibegriffs ist der Naturzustand insofern, als dass jener Barbareibegriff in den des Naturzustands transformiert wird,[22] sprich, seine Elemente (Grausamkeit, Rohheit, Armseligkeit etc.) in die Struktur des letzteren aufgenommen werden, wobei der Begriff selbst verschwindet.[23] Sein Zwilling ist der Naturzustand sodann, weil aufgrund ihrer Strukturgleichheit ein immanenter Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen besteht, also beide weiterhin für die Theoriebildung zur Verfügung stehen und damit der Naturzustandstopos den Barbareibegriff letztlich doch nicht abgelöst hat.[24] Beide Begriffe müssen daher auch für eine Dekolonisierung der politischen Theorie in den Blick genommen werden – „Barbarei“ als das falsche Bild, das sich vom Anderen gemacht wird, Naturzustand als krudes Element westlicher Theoriebildung, mit welchem ersteres theorieintern verarbeitet wurde.[25]

Die Rationalisierungsleistung der modernen politischen Theorie ist damit für Eberl infrage gestellt, sieht er hier doch eine solche bisher übersehene theorieinterne Verarbeitung kolonialer Topoi am Werk.[26] Der Fokus auf die Rationalisierungsleistung habe vielmehr das Ausblenden dieser kolonialen Gehalte gerade befördert.[27] Nota bene: An anderer Stelle heißt es, weniger eindeutig, dass die Rationalisierungsleistung des Kontraktualismus, die in der Bestimmung derjenigen Bedingungen liege, unter welchen Menschen als Freie und Gleiche der Errichtung eines Gewaltmonopols zustimmen können, keineswegs bestritten werden soll, dass aber „die darin liegende koloniale Diskursprägung […] nicht länger übersehen werden“ dürfe.[28] Dessen ungeachtet: Das Naturzustandskonzept könne nicht als Abstraktion von allen gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden,[29] sondern als Begriff, der durch die westliche Konstruktion des Selbstbilds staatlicher Ordnung als Gegenbild zur stereotypen Wahrnehmung der „Anderen“ ihren Sinn erhielt.[30] Und genau hier ist für Eberl das eigentliche Problem zu verorten. Die Geschichte des Staates sei nämlich von Beginn an eine Geschichte der Stigmatisierung nicht-staatlicher Gesellschaften gewesen – und zwar einer kolonialen, expansiven und domestizierenden Zwecken dienenden Stigmatisierung.[31] Mit der Sichtweise der politischen Theorie auf den Staat als das Gegenbild zum Nichtstaat habe sie „den Blick der alten Kolonisatoren bis in ihre innersten Begrifflichkeiten übernommen“,[32] weshalb die Revision der ‚Staatstheorie‘ im Ganzen Teil der Dekolonisierung der politischen Theorie sein müsse.[33] Diese erfolgreich vollzogen, würde der Staat sodann nicht mehr als freiheitsstiftende Ordnung, sondern als Gewaltverhältnis und kolonialer Akteur begriffen werden.[34] Etwas, das die politische Theorie Eberl zufolge bisher versäumt habe; vielmehr habe sie entsprechend der auf die sozialtheoretischen Großtheorien bezogene Diagnose Hans Joas‘ und Wolfgang Knöbls „Kriegsverdrängung“ betrieben und die Verbindungen des Staates mit Krieg und kolonialer Herrschaftsexpansion mystifiziert.[35]

 

II

Liegt das Problem für Eberl nun primär bei Naturzustandskonzeptionen, oder aber darüber hinaus beim westlichen ‚Staatsdenken‘ im Allgemeinen? Sind Naturzustandskonzeptionen in diesem Sinne per se als „kolonial kontaminiert“ zurückzuweisen und zum Zwecke einer „bereinigten Theorie“[36] aus der politischen Theorie zu streichen? Das allein kann nicht der Fall sein, da Eberl den Begriff „Naturzustand“ nicht wie den der „Barbarei“ aufgrund seiner asymmetrischen Struktur zurückweist, sondern aufgrund der Tatsache, dass im Rahmen der Hobbes’schen Transformation des einen in den anderen die Gehalte des Barbareibegriffs in den des Naturzustands übergegangen sind. Wie es um den Status von Naturzustandskonzeptionen steht, hängt somit auch davon ab, ob Eberl eine solche Prägung auch bei den auf Hobbes folgenden Naturzustandskonzeptionen am Werk sieht. Dies ist nicht zweifelsfrei auszumachen, da hierzu Äußerungen fehlen und das Transformationsargument erwähntermaßen nicht ohne Ambivalenzen bleibt. Vielleicht kann dem Hobbes-Interpreten Wolfgang Kersting aber in folgendem Punkt Glauben geschenkt werden: „Die Spezies der Hobbesianer ist selten“.[37] Die an Hobbes anschließenden Naturzustandsentwürfe wie auch die daran anschließenden Staatsversionen unterscheiden sich deutlich von ihrem Vorgänger.[38] Insbesondere John Lockes Konzeption ist dafür berühmt, auf expliziter Hobbes-Kritik gegründet worden zu sein und ein von Eberl gefordertes Herrschaftsbegrenzungsprogramm zu zeichnen, welches gerade auch für Theorien der Menschenrechte stichwortgebend war – eine der Staatsbegrenzungsfiguren schlechthin.[39]

Vor diesem Hintergrund wäre es wohl vertretbar, die Rawls’sche Urzustandskonzeption im Sinne Eberls für problemlos zu halten. Bei dieser handelt es sich in einem gewissen Sinne ebenfalls um eine Naturzustandsfigur, allerdings mit wesentlichen Abweichungen von den klassisch-neuzeitlichen Versionen. Der Kontext der Urzustandsfigur, Rawls‘ Gerechtigkeitstheorie, verweist bereits darauf, dass das Beweisziel, und insofern auch die Ausgangssituation, ein anderes ist als das des klassischen Kontraktualismus: Nicht die „Etablierung und Legitimation einer Rechtsordnung, die Freiheit und inneren Frieden sichert“,[40] Herrschaftslegitimierung oder Staatsbegründung werden verfolgt, sondern die Rechtfertigung von Gerechtigkeitsprinzipien für eine bereits vorhandene und „wohlgeordnete Gesellschaft“.[41] Mit diesem Anwendungsbereich ist das also bereits gesetzt, was in den klassischen Vertragstheorien erst zu begründen ist: ein Staat. Was aber im modernen, rechtfertigungstheoretischen Kontraktualismus und damit auch bei Rawls strukturgleich ist, ist insbesondere das „Moment der Geltungsstiftung durch die autonome Zustimmung aller“.[42] Bei Rawls‘ Urzustand handelt es sich um ein Gedankenexperiment, in welchem die Menschen eines Gemeinwesens sich in einer fiktiven Verhandlungssituation auf bestimme Grundsätze einigen.[43] Entsprechend des kontraktualistischen Arguments, ist auch der Urzustand so konzipiert, dass eine bestimmte Gerechtigkeitsvorstellung resultiert.[44] Ein prägendes Charakteristikum und begrifflicher Bestandteil der Ausgestaltung des Urzustands ist dabei die Figur des Schleiers des Nichtwissens, welche für eine gebotene („vernünftige“) Einschränkung der Argumentation über die Gerechtigkeitsgrundsätze steht, d.i. die Abstraktion von egoistischen, der Gerechtigkeit entgegenstehenden Motiven.[45] Nicht nur fungiert sie für Rawls damit als Garant von Fairness im Sinne von Unparteilichkeit und Willkürfreiheit,[46] sie dient darüber hinaus auch der Ermöglichung von Einstimmigkeit.[47] Diese hatte der klassische Kontraktualismus noch mit Hilfe der Konstruktion eines „existenzielle[n] Grenzsituationsarrangements“ herstellen müssen, dem Schrecken des Naturzustandes.[48] Derartige Illustrationen, welche ja den Hauptfokus der Kritik von Eberl darstellen, sind bei Rawls nicht zu finden. Mehr noch, der Urzustand ist auch nicht als Ausdruck der Nichtstaatlichkeit angelegt. Rawls‘ Urzustandsfigur kann somit in der Tat als ausreichend different und, zumindest für diese Frage, als unbescholten gelten. Die erste der beiden Rawls-Referenzen in Eberls Studie unterstützt diese Lesart, denn wenn Eberl dem (Hobbes’schen?) Naturzustand die Abstraktionsleistung abspricht, stellt er in den Raum (lässt aber offen), dass der rational deduzierte Urzustand die Abstraktion von sämtlichen gesellschaftlichen Verhältnissen möglicherweise tatsächlich leisten könne.[49]

Das weitreichendere Argument Eberls von der kolonialen Prägung westlichen ‚Staatsdenkens‘ im Allgemeinen lässt den Fall jedoch in einem anderen Licht erscheinen. Das scheint auch die zweite Rawls-Referenz zu bestärken: Geht es nämlich um die Dekolonisierung politischer Theorie, wird Eine Theorie der Gerechtigkeit als Negativbeispiel für ein Theorie angeführt, welche der Dekolonisierung angesichts ihres Fokus auf das Problem staatlicher Ordnung gerade im Weg stand.[50] Rawls scheint damit zu derjenigen ‚Staatstheorie‘ zu gehören, die im Ganzen zu revidieren sei. Endgültig ausgemacht werden kann dies allerdings nicht, da vage bleibt, welche Theorie eigentlich im Einzelnen darunterfällt.[51] Im Vordergrund steht hier jedenfalls das Kriterium der Abwertung jeglicher Nicht-Staatlichkeit und der grundsätzlichen Annahme der Vorzugswürdigkeit von Staatlichkeit.[52] Mit Blick auf Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit ist eine bestimmte Normativität der Staatlichkeit sicher offenbar, beziehen sich seine Überlegungen doch primär auf den Rahmen eines demokratischen Staates. Ob aber von einer pauschalen Abwertung von Nicht-Staatlichkeit gesprochen werden kann, muss bezweifelt werden. Dafür ist es jedoch nötig einzuräumen, dass das Theoretisieren von staatsbezogenen Fragen nicht notwendig auch ein Gegen-Nichtstaatlichkeit-Antheoretisieren ist. Zwei Dinge nimmt Eberl nämlich nicht in den Blick: erstens die verschiedenen Gründe für eine mögliche Vorzugs-würdigkeit von mit Staatlichkeit einhergehenden Ideen. Mit der Formulierung und Rechtfertigung solcher Gründe und Ideen ist nicht nur das Programm liberaler Demokratietheorie, an welches Rawls anknüpft und welches er weiterschreibt, beschäftigt. Zweitens die weiteren Funktionen des Naturzustandsarguments jenseits der Lösung des Problems der Nicht-Staatlichkeit. Der neuzeitliche Kontraktualismus hat nämlich mindestens auch das Folgende etabliert: die Annahme, dass Herrschaft grundsätzlich legitimationsbedürftig ist, ebenso wie die Überzeugung, dass eine solche Legitimation beim Individuum ansetzen muss – so defizitär die Umsetzung diese Rechtfertigungspraxis auch empirisch weiterhin sein mag.[53]

Um daran anknüpfend noch einen weiteren Aspekt des Revisionsarguments aufzugreifen, sei das erklärte Ziel einer solchen Revision der ‚Staatstheorie‘ im Ganzen angesprochen, nämlich das Ersetzen der Aufgabe der Begründung des Gewaltmonopols durch ein Verständnis der „Entstehung des Staates als einen Prozess der Aggregation von Gewalt […], die zu kontrollieren ist“ – der Transformation von „Staatsbegründungstheorie in eine Staatsbegrenzungstheorie“.[54] Neben der bereits angeklungenen Überlegung, dass diese Aufgabe in der politischen Theorie bisher nicht unbearbeitet geblieben ist, stellt sich dabei die Frage nach der Möglichkeit von normativer politischer Theorie. Denn die normative politische Theorie, in der Rawls’schen Prägung mitunter kurz „analytische“ politische Theorie genannt,[55] beschäftigt sich insbesondere mit der Begründung von Normen, ein Unterfangen, welches ohne das Abweichen von einem Ist-Zustand, einer geschichtlichen Wirklichkeit, wenig Spielraum hätte. Sie ist in diesem Sinne oftmals „ideal“ – Rawls‘ Fokus auf die Idealtheorie als einer realistischen Utopie ist hierfür nur das eingängigste Beispiel.[56] Dass sie insofern auch nicht immer eine besonders historisch ausgerichtete Disziplin ist, liegt auf der Hand; zweifellos hat politische Theorie die Verbindung von Staat und kolonialer Herrschaftsexpansion nicht immer in den Vordergrund gestellt und daher ggf. mystifiziert. Dass die Berücksichtigung des historisch Gewordenen aber auch das Ersetzen von Begründungs- und Rechtfertigungsfragen erfordert, kann damit nicht auch schon plausibilisiert werden. Vielmehr kann neben der Analyse und Rekonstruktion der Übergriffe von Staatlichkeit auch ihre Rechtfertigung bestehen bleiben, andernfalls müsste das Projekt der Demokratie an den Nagel gehängt werden. Dass damit dann nicht nur Glorifizierung und Idealisierung einhergehen müssen, kann gerade mit Hobbes‘ Staatsdenken veranschaulicht werden: Sein Argument muss nämlich nicht notwendig als die schlichte Verherrlichung des Staates verstanden werden, sondern kann auch als Ausdruck seiner Überzeugung gesehen werden, dass zur Verhinderung eines Übels, ein anderes Übel notwendig ist, dass der Staat freiheitsstiftende Ordnung und Gewaltverhältnis zugleich ist.


[1] Oliver Eberl 2021. Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus, Hamburg, S. 512.

[2] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 30, 58ff.,64f., 514.

[3] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 63, 43.

[4] Unter „Barbareidiskurs“ fallen für Eberl sämtliche Argumentationen, die sich auf „Barbaren“ beziehen, Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 19.

[5] Eberl entsprechend wird der Begriff hier in Anführungszeichen gesetzt, solange er nicht Teil eines Kompositums ist, dazu Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 11.

[6] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21.

[7] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 17f.

[8] Johann P. Sommerville 1992. Thomas Hobbes. Political Ideas in Historical Context, London, S. 37.

[9] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21.

[10] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 25, 512.

[11] Walter Euchner et al. 1985. Die Vertragstheoretiker und deren Kritiker, in: Iring Fetscher &. Herfried Münkler. Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, München, S. 353-421, S. 353.

[12] Wolfgang Kersting 1994. Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt, S. 50, (53, 57), 62.

[13] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 20, 22, 25.

[14] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 20.

[15] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 20.

[16] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 22.

[17] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 18, 22.

[18] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 22.

[19] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 22. Über die Beschreibung der eigenen Gesellschaft als im Naturzustand sich befindliche (S. 26, 60) vollzieht Hobbes dabei sogleich eine laut Eberl wirkmächtige Verbindung von Staatskritik und -begründung, nämlich als Dichotomie von Staat und Nichtstaat (S. 22) – auf diese Weise wird hier über die Transformation des Barbareibegriffs in die Naturzustandsfigur der Grundstein gelegt für die nachfolgenden „kritische Verwendung“ des Begriffs (S. 23, 60).

[20] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 22ff.

[21] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 17f.

[22] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 18. Ein weiterer Umweg ergibt sich im Übrigen dadurch, dass Hobbes sich spezifisch auf den Wildendiskurs bezog, welchen Eberl als Teil des Barbareidiskurses versteht (S. 22f., 32); Eberl muss daher begriffs- und diskursgeschichtlich zeigen, wie diese beiden zusammengehören und an welche Diskurslage Hobbes sodann anknüpfen konnte. Generell legt er bei der Rekonstruktion all dessen, was für ihn unter den „Barbareidiskurs“ fällt, viel Wert auf die Diskurswendungen. Insbesondere den Übergängen innerhalb dieses Diskurses nämlich spricht er eine große theoriegeschichtliche Relevanz zu, da die hierin enthaltenen Vorstellungswelten in die Theorien eingingen (S. 37).

[23] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 20, 24.

[24] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 18, 22. Die Problematik des Transformationsarguments wird dadurch verstärkt, dass Eberl wiederholt betont, dass bei seiner Untersuchung das tatsächliche Auftauchen des Wortes „Barbarei“ anvisiert wird, S. 18, 20, 22, 32, 58, 69. Andernorts möchte er aber die in diesem Kontext stehende Theoriebildung (S. 59) oder das „koloniale Praxisfeld“ des Begriffs (S. 68) in den Blick nehmen.

[25] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 65, 22.

[26] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21, 30.

[27] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21.

[28] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 63.

[29] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21.

[30] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21, 34, 64.

[31] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 43.

[32] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 24.

[33] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 24, 43.

[34] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 43, 64.

[35] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 45, dort Verweis auf Hans Joas & Wolfgang Knöbl 2008, Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie, Frankfurt a. M., S. 15.

[36] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 67.

[37] Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 100.

[38] Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 96.

[39] Kersting, Politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, S. 96, 101, 109; Georg Lohmann & Arnd Pollmann 2008. Menschenrechte, in Stefan Gosepath et al. Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, Bd. 2, Berlin, S. 806-813, S. 806f.

[40] Wolfgang Kersting 1993. John Rawls zur Einführung, Hamburg, S. 33.

[41] John Rawls 2017 [1979]. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M., u.a. S. 20f., 24f., 28.

[42] Kersting, Rawls, S. 96.

[43] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S 28f., 35.

[44] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 29; Kersting, Rawls, S. 33. Für Rawls sind ganz verschiedene Ausgestaltungen einer solchen Situation möglich, die je zu einer anderen Gerechtigkeitsvorstellung führen, Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 143. Er ist nicht ganz konsequent bei der Verwendung der Begriffe Ausgangszustand/-situation und Urzustand: Während erstere als allgemeine Bezeichnung für den vertragstheoretischen und Verfahrensgerechtigkeit-orientierten Gedanken einer ursprünglichen Übereinkunft verstanden werden kann, bezieht sich der Begriff des Urzustandes auf die laut Rawls philosophisch bevorzugte Variante, sprich, seine Konzeption eines Ausgangszustandes, die zur „Gerechtigkeit als Fairness“ führen soll (S. 34f.).

[45] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 29, 36.

[46] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 36, 142.

[47] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 162, 165.

[48] Kersting, Rawls, S. 108.

[49] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21.

[50] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 60. Eberl verweist hier auf Young und Levys Band Colonialism and ist Legacies, in welchem der mit Rawls eingeleiteten Wiederbelebung des Kontraktualismus vorgeworfen wird, die Hinwendung zum Kolonialismus verzögert zu haben, dort Verweis auf Iris M. Young & Jacob T. Levy 2011. Introduction, in: Jacob T. Levy. Colonialism and Its Legacies, Lanham 2011, S. xi–xvii., S. xii.

[51] Dies wird auch dadurch erschwert, dass Eberl eine Reihe von verschiedenen Adressaten nennt, etwa Staatskritik (z.B. S. 59, 66, 512), Staatsbegründung (z.B. S. 28, 30, 59, 66), Staatsdenken (S. 45), Staattheorie (S. 43), Gesellschaftskritik (z.B. S. 28f., 45, 53, 58), Zivilisationskritik (z.B. S. 49f., 478ff., 505, 510).

[52] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 21, 43, 512f.

[53] Kersting, Rawls, S. 97f.

[54] Eberl, Naturzustand und Barbarei, S. 28, 513.

[55] Christian List & Laura Valentini 2016. The Methodology of Political Theory, in: Herman Cappelen u.a. The Oxford Handbook of Philosophical Methodology, New York, S. 525-53, S. 525.

[56] Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 277f.; John A. Simmons 2010. Ideal and Nonideal Theory, in: Philosophy & Public Affairs 38:1, S. 5-36, S. 7.


Hier geht es zum einführenden Beitrag des Buchforums: BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei – Ankündigung und Vorbemerkungen

und hier zum letzten Beitrag von Leon Abich und Finn Haberkost: Zivilisierung bei Kant – ein kleiner konzeptioneller Klärungsversuch (BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei #2)

Der nächste Beitrag von Moritz Fromm mit dem Titel Kolonialisierung als Staatstheorie – Ein Versuch mit Jürgen Habermas erscheint am morgigen Dienstag, den 18. Mai.

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