„Politische Theorie jenseits von Naturzustand und ‚Barbarei‘“ – Auszug aus Oliver Eberl, Naturzustand und Barbarei (2021) (BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei)

Zum Start des Buchforums zu Oliver Eberls Monographie Naturzustand und Barbarei. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus – erschienen im April 2021 in der Hamburger Edition – präsentieren wir einen Auszug aus Eberls Werk: das Schlusskapitel über „Politische Theorie jenseits von Naturzustand und ‚Barbarei‘“. In dieser kompakten Pointe seiner dichten Schrift plädiert Eberl noch einmal für die Aufklärung der Politischen Theorie über die inhärent koloniale Kontaminierung der Begriffe ‚Naturzustand‘ und ‚Barbarei‘. Ausblickend weist er damit einen Weg für eine dekolonisierende, d.h. Kolonialisierung ins Zentrum ihrer kritischen Intervention erhebende Politische Theorie. Auf viele der hier angeschnittenen Thesen werden sich die Beiträge des Symposiums, die in den kommenden Tagen an dieser Stelle erscheinen, beziehen.
Für die Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Ausschnitts bedanken wir uns bei Oliver Eberl und bei Jürgen Determann von der Hamburger Edition im Hamburger Institut für Sozialforschung.

Oliver Eberl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibniz-Universität Hannover und Privatdozent an der Technischen Universität Darmstadt. Für vier Semester vertrat er die Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, aktuell ist er Co-Leiter im Projekt Der Blick nach unten. Soziale Konflikte in der Ideengeschichte der Demokratie an der TU Darmstadt.


Auszug aus: Oliver Eberl 2021. Naturzustand und Barbarei: Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus, Hamburg: Hamburger Edition, S.512-515.

Eine politische Theorie, die sich über ihre kolonialen Prägungen aufgeklärt hat, wird auf Naturzustandsbeschreibungen und den Begriff »Barbarei« verzichten. Sie wird ihre Kritik ohne die Semantik des »Rückfalls in Barbarei«, der »Barbarisierung« und »Rebarbarisierung« formulieren und den Naturzustand als Sinnbild von Ordnungs- und Herrschaftslosigkeit aufgeben. Diese Konzepte sind aufgrund ihrer begrifflichen Struktur, die die politische Theorie entweder als Dichotomie von Staat / Nichtstaat oder als Schema des Rückfalls übernimmt, mit der kolonialen Sichtweise auf »Barbarei« verbunden. Sie tragen daher, so der Vorwurf, diese Struktur weiter in sich und halten sie für eine alltagssprachliche politische Verwendung bereit. Abwertung ist das entscheidende Merkmal des Barbareibegriffs, nicht seine inhaltliche Bestimmung. Aufgrund dieser immer mitgegebenen Abwertung kommt es auch bei Kritik der »Barbarei« zu dem Paradox, die kritisierten Praktiken mit einer Begrifflichkeit zu kritisieren, die jahrtausendelang zu gewalthaltigen Praktiken beigetragen hat. Der Staatskritik kann die Umdeutung des kolonialen in einen kritischen Barbareibegriff aufgrund dieser begrifflichen Struktur nicht gelingen.

Die Komplexität der begrifflichen Struktur ergibt sich aus der Verschränkung, die Begründung und Kritik des Staates mit der Erfindung des Naturzustands eingegangen sind. Seither ist die Begründung des Staates selbst mit Kritik verbunden. Hobbes wählte die Beschreibung des Naturzustands als Veranschaulichung eines Zustands, der seine Leserinnen und Leser sogleich an Amerika erinnerte und mit dem Verweis auf die Schrecken des Lebens dort auch von der Notwendigkeit des staatlichen Gewaltmonopols überzeugen sollte. So wie die Amerikaner hatten die Europäer auch angefangen, und daher besteht die Gefahr der Auflösung des Staates in den Naturzustand, der nirgendwo so deutlich zu erkennen war wie in Amerika. In dieser kritischen Wendung auf Europa selbst lag zugleich das Potenzial, das der »Barbarei« künftig ihren Platz im europäischen Denken auch jenseits des kolonialen Gebrauchs sicherte: als Selbstkritik. Erst wenn die Europäer erkennen, dass auch sie zurückfallen können in den Naturzstand – zum Beispiel in Zeiten des Bürgerkrieges oder der Herrschaftslosigkeit – , werden sie die Notwendigkeit des Staates – und das meint vor allem des staatlichen Gewaltmonopols – einsehen.

Damit ist der Staat aber jene Institution, die von Beginn an als Gewalt besteht und stets droht, diese zu missbrauchen. Daher geht es einer politischen Theorie jenseits von Naturzustand und »Barbarei« nicht allein um eine begriffliche Abstinenz. Ein Verzicht auf den Ausdruck »Barbarei« erscheint ohnehin schon lange als nachholende semantische Dekolonisierung angebracht und ist in der Ethnologie schon seit mehr als hundert Jahren vollzogen. Darüberhinaus müsste der Blick auf den Staat von den anthropologischen Annahmen einer kolonial geprägten Sichtweise auf die Kolonisierten und den nichtstaatlichen Zustand befreit werden. Damit würde auch die dichotome Begründung von Staatlichkeit als Überwindung einer als schrecklich vorgestellten Nichtstaatlichkeit überwunden. Soll dagegen der Staat in seinen Übergriffen oder Verselbstständigungen des Gewaltmonopols kritisiert werden, müssen die Eigenschaften des Staates in den Blick rücken statt der unscharfen Implikationen des Barbareitopos. Die Entstehung des Staates als einen Prozess der Aggregation von Gewalt zu verstehen, die zu kontrollieren ist, ersetzt dann die Aufgabe der Begründung des Gewaltmonopols. Diesen Schritt von existierenden, historisch gewordenen Staaten auszugehen, hat bereits Immanuel Kant vollzogen. Seine Sichtweise, nach der Staaten usurpierte Gewalt sind, die demokratisiert werden muss, vereint die Kritik des Staates mit der Begründung der Demokratie. Kants Sicht bewahrt so davor, jeden Staat für besser als einen Nichtstaat zu halten. Diese Wendung zur Demokratie wird von der Kritik der »Barbarei« wieder verunklart, die allgemein auf kulturelle und zivilisatorische Standards verweist.

Normativ gesehen müsste eine Kritik der »Barbarei«, also der Menschheitsverbrechen, die Unterscheidung von Taten gegen Mitglieder und Nichtmitglieder aufgeben und nun wahrlich menschheitsbezogene Standards der Verletzung von Menschlichkeit und Menschenwürde annehmen. Dazu stehen nach der juristischen Auseinandersetzung in den Nürnberger Prozessen und den darauf folgenden Bestimmungen von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit juristische Definitionen bereit, die universell gültig sind und Fälle sowohl singular behandeln als auch vergleichbare Verbrechen sanktionierbar machen. Neben dem Holocaust muss der Kolonialismus ebenfalls als Menschheitsverbrechenverstanden und verurteilt werden. Dann entfällt die Idee des Rückfalls, weil das Kontinuum europäischer Menschheitsverbrechen sichtbar wird, die es unangemessen macht, von einem Rückfall in Europa zu sprechen. Der Staat war ein kolonialer Staat und muss als dieser betrachtet werden. Sein Aufstieg ist eng mit dem Kolonialismus verbunden, ebenso wie seine Verbrechen.

Für eine politische Theorie jenseits von Naturzustand und »Barbarei « eröffnet dies die Möglichkeit, anstelle von »Rückfall« Kolonialisierung zum Ausgangspunkt der Kritik zu machen. Hierbei sind die realen expansiven und internen Kolonialisierungen ebenso gemeint wie die systemischen Übergriffe. In diesem Zusammenhang erscheint es aufschlussreich, sich die kritische Metapher der »Kolonialisierung der Lebenswelt« von Jürgen Habermas in Erinnerung zu rufen.[1] Hier liegt ein Ausgangspunkt für die begriffliche Überwindung der »Barbarei«, die zugleich auf die kritisierte Praxis des Kolonialismus verweisen könnte. Habermas versteht unter »Kolonialisierung der Lebenswelt« die Übergriffe der Systeme Staat und Wirtschaft auf die kommunikativ fundierte Lebenswelt, die er sich wie »das Eindringen der Kolonialherren in die Stammesgesellschaften« vorstellte.[2] Die Unterscheidung von Lebenswelt und System, in deren Rahmen die Übergriffe des Systems auf die Lebenswelt als Kolonialisierung gedeutet werden, könnte historisch so verstanden werden, dass Staatlichkeit die Nichtstaatlichkeit kolonisiert habe, und würde so den Kolonialismus gesellschaftstheoretisch einfangen. Dem kommt entgegen, dass Habermas sich im Rahmen der Lebenswelt auch mit Bewusstseinsformen in archaischen Gesellschaften auseinandersetzt, man also Lebenswelt und nichtstaatliche Gesellschaften zusammendenken könnte. Gerade in Zeiten einer neokolonialen Zurichtung der globalen Ökonomie erscheint es angemessen, begrifflich an Kolonialisierung festzuhalten. »Barbarei« dagegen arbeitet begrifflich der Gestaltung asymmetrischer Verhältnisse zu. Insbesondere die Verschärfung politischer Konflikte durch kulturelle Deutungen wird dadurch befördert. Neokolonialismus und die Kritik der »Barbarei« gehen dabei zu leicht eine gewaltfördernde Verbindung ein, als dass politische Theorie es sich erlauben könnte, unbeirrt an der kolonialen Begrifflichkeit festzuhalten.


[1] Jürgen Habermas 1981. Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, Frankfurt am Main, S. 351.

[2] Ebd., S. 522.


Hier geht es zum einführenden Beitrag: BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei – Ankündigung und Vorbemerkungen

Der nächste Beitrag mit dem Titel “Vergessen durch Abstinenz” von Dina Delgado und DaviD Müller erscheint morgen.

 

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