Ernst Cassirer (1874-1945) war von 1919 bis 1933 Professor für Philosophie an der Hamburgischen Universität. In dieser Zeit entstand sein Hauptwerk, die Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929).
In Ihrem Vortrag – gehalten am 08. Januar 2019 im Rahmen der Ringvorlesung „(Fast) 100 Jahre Universität Hamburg“ – präsentiert Birgit Recki Cassirer als Denker, der von der Philosophie der Kultur zum Freiheitsbegriff und zur politischen Philosophie voranschreitet.
Birgit Recki ist seit 1997 Professorin für Philosophie an der Universität Hamburg. Sie ist Herausgeberin der Gesammelten Werke Cassirers in der Hamburger Ausgabe.
Es freut mich außerordentlich, dass ich jetzt zum ersten möglichen Termin hier sprechen darf, an dem das einschränkende „Fast“ im Titel der Vorlesung gegenstandslos wird. Jetzt haben wir das Jahr 2019 und damit stehen wir wahr und wahrhaftig im Jubiläumsjahr. Und schön, dass als erstem in unserem Jubiläumsjahr dem Philosophen Ernst Cassirer das Wort erteilt wird. Denn er gehörte bei der Gründung der Hamburgischen Universität im Jahr 1919 zur ersten Generation neuberufener Wissenschaftler, er hat in dem erweiterten Jahrzehnt bis zu seinem geistesgegenwärtigen Aufbruch im März 1933 den wichtigsten, wirkungsmächtigsten Teil seines Lebenswerkes in Hamburg erarbeitet. Er ist mit diesem Lebenswerk bis heute der größte Philosoph, den die Universität Hamburg in ihrer nunmehr hundertjährigen Geschichte für sich gewinnen konnte. Und er darf mit seiner profunden Bildung und seinem lebenslangen interdisziplinären Ethos als einer der letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts gelten – einer von denen, die den längst akzeptierten Bruch zwischen den Wissenschaftskulturen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften programmatisch und in ihrer tatsächlichen Forschungspraxis produktiv in Frage gestellt haben.
Ernst Cassirer, am 28. Juli 1874 in Breslau geboren, hatte nach dem Abitur im Frühjahr 1892 zunächst Jura in Berlin, dann auch Philosophie, Germanistik, Psychologie, Mathematik, Biologie, Chemie und Physik studiert, und zwar außer in Berlin in Leipzig, Heidelberg, München und Marburg. Nach Marburg war er schließlich auf Anraten von Georg Simmel gegangen. Dort war er von den beiden Neukantianern Hermann Cohen und Paul Natorp zu einer guten Kennerschaft der neuzeitlichen Erkenntnistheorie und des Kantischen Werkes ausgebildet worden. Nach der Promotion 1899 mit einer Arbeit über Descartes‘ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis war er nach Berlin zurückgekehrt. 1902 war er mit einer gelehrten Monographie über Leibniz‘ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen hervorgetreten, für die ihm von der Akademie der Wissenschaften wegen ihres kantianischen Zugriffs nur der 2. Preis zuerkannt worden war (bei Verzicht auf die Vergabe des ersten Preises). 1906 hatte er sich mit Unterstützung durch Wilhelm Dilthey mit dem ersten Teil seines großen Werkes über Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit in Berlin habilitiert, dem schon 1907 der zweite, ebenso große Teil dieser gelehrten Studie folgte. 1910 war das wissenschaftstheoretische Werk Substanzbegriff und Funktionsbegriff erschienen, in dem Cassirer seine Theorie des Begriffs entwickelt; mit den geistesgeschichtlichen Studien zur klassischen deutschen Philosophie in der Monographie Freiheit und Form hatte er 1916 erkennbar in der Erschließung der geisteswissenschaftlichen Dimension der Begriffs- und Theoriebildung den kulturphilosophischen turn vollzogen, der die Arbeit der folgenden Jahrzehnte bestimmen sollte.
Ernst Cassirer Werke 1899-1918
1899 Descartes‘ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis (ECW 1)
1902 Leibniz‘ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (ECW 1)
1906 Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Band 1 (ECW 2)
1907 Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Band 2 (ECW 3)
1910 Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (ECW 6)
1916 Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte (ECW 7)
1918 Kants Leben und Lehre (ECW 8)
Als Cassirer von Berlin nach Hamburg geht, ist auch seine Edition der Kantischen Werke in 10 Bänden 1918 bereits zum Abschluss gebracht mit der großen Monographie Kants Leben und Lehre, die bis heute eine belastbare Gesamtsicht auf das Kantische Werk eröffnet.
Gleich nach ihrer offiziellen Gründung im Mai wird Ernst Cassirer 1919 an die Hamburgische Universität berufen. Gut einen Monat später ernennt ihn am 18. Juni 1919 der Senat der Stadt zum ordentlichen Professor.[1] Die Familie Cassirer, das waren Ernst und Toni Cassirer, die einander 1902 geheiratet und drei Kinder haben, bezieht das Haus in der Blumenstraße 26. Cassirer leitet das Seminar für Philosophie zunächst in der Domstraße 8/9, bevor es als Philosophisches Seminar 1928 umziehen sollte in das Gebäude am Bornplatz 1/3, den heutigen „Pferdestall“ am Allendeplatz 1.
Nach dreizehn produktiven Jahren als Privatdozent in Berlin, nach gelehrten Studien zur Erkenntnistheorie, zur Wissenschaftstheorie und zur philosophischen Ideengeschichte, ist mit dem Wechsel nach Hamburg der Aufbruch in sein selbständiges Philosophieren markiert, das ganz im Zeichen der Frage nach der Kultur steht – nach der Kultur als Bestimmung des Menschen: In dem langen Jahrzehnt von 1919 bis 1933 entwickelt Cassirer seine Philosophie der symbolischen Formen, eine bedeutungstheoretisch ausgelegte Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen.
Es kommt gelegentlich vor, insbesondere unter Kunsthistorikern, dass Ernst Cassirer der Warburg-Schule zugeordnet wird. Weniges könnte schräger sein. Wenn er überhaupt einer Schule zuzuordnen ist, dann – wie die knappe Skizze seines akademischen Werdegangs erkennen lässt – dem Neukantianismus – und man kann sich mit Blick auf seine Marburger Anfänge dann fragen, ob diese Schubladisierung angesichts seiner Philosophie der Kultur denn aufrechterhalten werden kann und man nicht vom Ende her sagen muss, Cassirer hat den Neukantianismus überwunden und er war der produktivste und systematisch selbständigste Kantianer des 20. Jahrhunderts.[2] Apropos Warburg-Schule ist aber richtig, dass Cassirer nach seiner Ankunft in Hamburg schon bald, 1921, den Kontakt mit der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg aufgenommen und ihn seither intensiv gepflegt hatte. Die produktive Freundschaft mit Aby Warburg begann 1924. Cassirer hat dort, in dieser einzigartigen Bibliothek, in der die Bände nach dem Prinzip der „guten Nachbarschaft“ aufgestellt waren,[3] Unmengen an Büchern ausgeliehen; es ist überliefert, dass zu Beginn der Sommerferien, wenn die Cassirers auf Reisen gingen, die Hilfskräfte des Philosophischen Seminars in großen Wäschekörben die entliehenen Bücher zurückbringen mussten.
Wir schätzen den materialgesättigten Gedankengang, den Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen entwickelt; und auch wenn wir nicht so weit gehen würden wie Hans Blumenberg in seinem extravaganten Urteil 1974 bei der Verleihung des Kuno-Fischer-Preises, den Cassirer 1914 als erster bekommen hatte: Cassirer habe mit seiner Philosophie der symbolischen Formen „die Theorie dieser Bibliothek“ geschrieben,[4] so dürfen wir doch sicher sein, dass die Konkretion, die Materialsättigung seines Gedankens, ihm deshalb möglich war, weil er jederzeit auf die (übrigens mit den Forschungshorizonten ihrer Nutzer mitwachsenden) Bestände der KBW zugreifen konnte. Abgesehen davon war die KBW mit ihren 60 000 Bänden erheblich viel mehr und anderes als bloß eine reichbestückte Bibliothek. Sie war ein Unternehmen, das mit normalen Maßstäben nicht zu fassen ist. Das Tagebuch der KBW,[5] das den Charakter von Gesprächsprotokollen aus der regelmäßigen Redaktionssitzung der Bibliotheksleiter mit Aby Warburg hat, lässt deutlich erkennen, dass da nicht nur Bücher angeschafft und verwaltet wurden. Da wurden theoretischen Texten aussagekräftige Bilder zugeordnet und deren Reproduktionen in Auftrag gegeben, Publikationsprojekte und Editionen betreut, im Entstehen und Erscheinen begriffene Texte redigiert, Dissertationen angeregt und vermittelt und überhaupt in jedem nur denkbaren Ausmaß wissenschaftliche Kontakte gestiftet und Beziehungen gepflegt. Es wird deutlich, dass Cassirer dort nicht nur ein und aus ging, sondern dass dort zeitweilig eine Art Arbeitsstelle für ihn tätig war: So ist etwa dokumentiert, wie bei der Entstehung von Cassirers Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, das 1927 als Band 10 in den Studien der Bibliothek Warburg erscheinen sollte, Fritz Saxl, der Leiter der Bibliothek, die Arbeitsanteile der Mitarbeiter eingeteilt hat: von Meyer, Klibansky, Noack und dem „kleinen Dr. Ritter“ (gemeint ist da Joachim Ritter, der letzte Assistent Cassirers in Hamburg, nach dem Krieg in Münster Oberhaupt der einflussreichen Ritterschule)[6] (vgl. GS VII, 91).
Die erste Erwähnung des Namens Cassirer im erhaltenen Text des Tagebuches der KBW datiert auf den 7. September 1926. Das ist zum einen relativ früh gemessen daran, dass das Tagebuch überhaupt erst seit dem Bezug des Hauses in der Heilwigstraße 116 (1926) dokumentiert ist; zum anderen aber relativ spät, wenn man bedenkt, dass da die Beziehung zwischen Cassirer und der KBW bereits fünf Jahre floriert. Die Notiz zeigt denn auch im Modus der kommentarlosen Erwähnung, dass Cassirer da bereits zu den selbstverständlichen Nutzern der beeindruckenden Diskursmaschine gehörte, als welche die KBW agierte: „Cassirer beauftragt Klibansky mit der Übersetzung des Bovillustextes; plant eine Neuherausgabe von Cusanus sämtlichen Werken“. (GS VII, 10) Und wie viel Cassirer seinem kollegialen Freund Warburg galt, das wird an einer unüberbietbaren Notiz vom Mai 1927 deutlich. Saxl berichtet da: „Cassirer braucht Bücher über Mathematik (Zahl!) und theoretische Physik, mit denen er sich scheut, die B.W. zu belasten. Ich bat ihn um eine Liste, weil doch ein Teil davon sicher für uns geeignet wäre. →Warburg Wenn die Liste Cassirers nicht zu sehr „in dem Gelde läuft“ unbedingt alles anschaffen. Denn Cassirer ist ein zielweisendes Symbol für die die nach uns kommen werden, des wir doch nur die „lieutenants“ sind.“ (GS VII, 94) Das Genitivpronomen „des“, hier inversiv eingesetzt wie etwa in dem Sprichwort „Des Brot ich ess, des Lied ich sing“, bezieht sich zweifelsfrei auf Cassirer, und dann bedeutet Warburgs Formulierung: Wir sind doch nur seine (Cassirers) Unteroffiziere. Die Metapher weist Cassirer gleichsam seinen Posten auf dem Befehlsstand der Forschungsfront an; gleichzeitig wird anspielungsreich der Autor der Philosophie der symbolischen Formen selbst ausgezeichnet als ein zielweisendes Symbol für die die nach uns kommen werden.
Wenn Ernst Cassirer 1944 in seinem Essay on Man den Menschen als das animal symbolicum bezeichnet,[7] dann fasst er in dieser pointierten Formel den Ertrag eines philosophischen Lebenswerkes zusammen. Cassirer hatte in den Hamburger Jahren eine Theorie der Kultur entwickelt. Was er unter dem Titel einer Philosophie der symbolischen Formen vorlegt, sind drei große Monographien über die Sprache als das elementare und allgegenwärtige Medium vergegenständlichender Darstellung (1923), über das von der Präsenz des physiognomischen Ausdrucks und der Macht der Bilder besessene mythische Bewusstsein und seine Lebensform (1925), und über die Wissenschaften als methodisch in abstrakten Begriffen und Formeln betriebene Erkenntnis (1929). [8] In diesen drei exemplarischen Dimensionen macht Cassirer den Funktionszusammenhang menschlichen Lebens einsichtig: Kultur ist das von Menschen gestaltete unendlich diversifizierbare System der Bedeutungen. Diese Philosophie der Kultur ist zugleich philosophische Anthropologie: Im Blick auf seine Kultur wird der Mensch begreiflich als das Wesen, das durch Symbolgebrauch, d.h. durch Symbolproduktion, und Symbolverstehen, in der unablässigen und allseitigen Produktion und Rezeption symbolischer Ausdrucksformen, Bedeutung in die Welt bringt und sie so zu seiner Welt macht.[9]
Eine Philosophie der Kultur
Es versteht sich von selbst, dass Kultur dabei nicht allein als jener spezifische Bereich verfeinerter geistiger, vorwiegend ästhetischer Ansprüche auf Kreativität, Kommunikation und Unterhaltung begriffen ist, mit dem sich der Kulturteil einer Tageszeitung oder der Kulturdezernent einer Stadt beschäftigt. Kultur ist hier der Kollektivsingular, der die produktive Lebensform des Menschen – aller Menschen – bezeichnet. Sie ist nach diesem Verständnis die grundlegende, in alle menschlichen Tätigkeiten ausdifferenzierte Leistung der selbständigen Lebensgestaltung in Gesellschaft und Geschichte. Mit Helmuth Plessner, der ebenfalls in den 20er Jahren seine philosophische Anthropologie vorlegt, ist sich Cassirer völlig einig in der Auffassung, dass die Kultur dem Menschen natürlich ist. Einen „Naturmenschen“ im Sinne einer Entgegensetzung von Natur und Kultur gibt es überhaupt nicht: Der Mensch hat von Natur aus Kultur. Er ist immer schon „Kulturmensch“. Unterschiede bestehen allein in Grad und Art der kulturellen Entwicklung.
Menschen haben ihre Wirklichkeit in der Kultur als der Sphäre selbstgeschaffener Werke aller Art, die sich nicht schon durch ihren dinglichen Charakter, sondern erst durch ihre Bedeutung erschließen. In ihrer Realisierung wirken Herstellen (poiesis) und Handeln (praxis) in fließendem Übergang zusammen: Durch produktive und allemal sinnstiftende Tätigkeit machen wir Menschen uns unsere Welt, und wir machen so gemeinsam etwas aus uns selbst. Will man also etwas über das Wesen des Menschen herausfinden, so ist es die Kultur, die man nach diesem Ansatz zu untersuchen hat.
Damit ist eine weitere theoretische Einsicht zur Geltung gebracht, die Cassirer mit anderen zeitgenössischen Protagonisten einer Philosophischen Anthropologie, wiederum mit Helmuth Plessner, aber auch mit Arnold Gehlen teilt: Das Wesen des Menschen ist nichts Statisches, keine geheime Substanz, die es zu entdecken gälte; es ist vielmehr rein funktionell bestimmt als das, was in den menschlichen Leistungen beim Aufbau einer gemeinsamen gegenständlichen Welt zum Ausdruck und zur Geltung kommt: Der Mensch bestimmt sich selbst allein durch produktive Aktion. Insofern ist von vornherein klar, dass das Erkenntnisinteresse einer philosophischen Anthropologie der angemessenen Anerkennung der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen nicht im Wege stehen kann – eine Einsicht, die Cassirer durch seine geistesgeschichtliche Methode bei der materialen Erschließung der Kultur eindrucksvoll dokumentiert hat indem nämlich bei der Erkenntnis all dessen, was Menschen im Laufe der Zeit aus sich und aus den vorgefundenen Verhältnissen gemacht haben, permanent das Medium der Geschichtlichkeit in Anspruch genommen wird.
Der Mensch ist das „animal symbolicum“, das symbolerzeugende und symbolverstehende Wesen, und die vom Menschen gestaltete Welt kann als System aller möglichen Weisen der Sinnstiftung durch Symbolisierung begriffen werden. Dieser aufs Grundsätzliche und aufs Ganze gehende Begriff der Kultur hat seine methodische Grundlage in einem weit gefassten Symbolbegriff. Im Unterschied zu einem spezifischen Begriff des Symbolischen, etwa in der Kunstgeschichte oder in der Literaturwissenschaft, fasst Cassirer Symbolisierung generell als Vermittlung von Sinnlichem und Geistigem, eine Vermittlung, die sich in den unterschiedlichsten Materialien oder Medien abspielt – in artikuliertem Laut, in Bildern, in materiellen Dingen, in Ritualen, Zeremonien und Techniken, überhaupt in Handlungen aller Art, in Institutionen, in Formeln. Jedes Symbol stellt die konkrete Einheit eines „geistigen Bedeutungsgehaltes“ und eines „sinnlichen Zeichens“ dar. In Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Kunst hatte es 1823 geheißen:
„Sinn ist nämlich dies wunderbare Wort, welches zwei entgegengesetzte Bedeutungen hat; denn Sinn ist einmal unmittelbares Organ des sinnlichen Auffassens, und andererseits heißen wir Sinn: die Bedeutung, d.h. das Andere des Sinnlichen, das Innere, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Und beides nennen wir Sinn. Eine sinnvolle Naturbetrachtung ist nun also einerseits sinnlich, andererseits den Gedanken der Sache habend.“ Mit dieser Doppeldeutigkeit im Sinnbegriff ist auch die Grundlegungsebene einer Philosophie der symbolischen Formen programmatisch bezeichnet.
Mit diesem Programm soll die ganze Komplexität und Differenzierung der Kultur zur Geltung gebracht werden: Denn von Anfang an hat es diese symboltheoretisch fundierte Kulturphilosophie mit der historischen und aktuellen Vielfalt kultureller Formen zu tun. Kultur ist durch interne Pluralität charakterisiert, sie prägt sich aus in einer Vielfalt von Gestaltungsweisen – und sie ist darin auch kein beliebiges Aggregat, sondern ein allseitig vernetztes Ganzes: ein offenes System.
Symbolische Formen
Der Titelbegriff dieses philosophischen Großprojekts, der Terminus der „symbolischen Form“ wirkt auf den ersten Blick irritierend – ja: missverständlich. Er fokussiert nicht etwa das einzelne Symbol unter dem pragmatischen Aspekt seiner Geformtheit oder dem ästhetischen Aspekt seiner Gestaltqualität: nicht das Kreuz oder der Davidstern ist mit Cassirers Ansatz eine „symbolische Form“; der Begriff ist vielmehr auf einer höheren Stufe der Generalisierung angesiedelt und bedeutet die geistigen Strukturen, durch die der Mensch geformte Wirklichkeit hat. Was Cassirer „symbolische Formen“ nennt, sind die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der Symbolisierung, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet in gewissem Sinne institutionalisieren. „Unter einer „symbolischen Form“ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“[10] Was er als „Energie des Geistes“ anspricht und dabei sogleich zu verstehen gibt, dass es deren mehrere gibt, sind regelmäßig wirkende, typologisch ausgeprägte Weisen der Hervorbringung von Bedeutung. Im Begriff der (symbolischen) Form verbindet Cassirer ausdrücklich zwei Momente: den tätigen Prozess der Gestaltung und sein gegenständliches Resultat in der geprägten Gestalt. Er erläutert: „Wie die scholastische Metaphysik den Gegensatz zwischen dem Begriff der ’natura naturata‘ und der ’natura naturans‘ geprägt hat, so muss die Philosophie der symbolischen Formen zwischen der ‚forma formans‘ und der ‚forma formata‘ unterscheiden. Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus.“[11]
Die Dialektik der beiden Momente von Formung als Prozess und Geformtem als gegenständlichem Resultat soll der Begriff der symbolischen Form ebenso zum Ausdruck bringen wie die Tatsache, dass sich dieses Hervorbringen von Wirklichkeit durch Symbolisierung in regelmäßigen Weisen vollzieht. In den programmatischen Passagen seiner Texte nennt Cassirer meistens Mythos und Religion, Sprache, Kunst und Wissenschaft, gelegentlich auch Technik, Wirtschaft und Geschichte.[12] Er nennt diese „Energien des Bildens“ auch „geistige Formen“ oder „geistige Grundfunktionen“, und es überrascht angesichts seiner materialreichen historischen und systematischen Darstellung der Kulturentwicklung nicht, dass er grundsätzlich auf „eine philosophische Systematik des Geistes“ aus ist, die Ähnlichkeit hat, aber im Umfang weiter gefasst ist als das, was Hegel als die Sphäre des objektiven Geistes bezeichnet hat.
Zur Geltung gebracht ist darin die Verknüpfung zweier komplementärer Einsichten zum tragenden Gedanken einer Theorie der menschlichen Kultur:
1 Was in aller Kultur wirksam und ‚am Werk‘ ist, ist in letzter Instanz die Spontaneität und Produktivität des menschlichen Bewusstseins: geistige Selbsttätigkeit in ihren spezifisch ausgeprägten Strukturen. Cassirer legt Wert auf die Einsicht, in ihnen allen präge sich „das Grundphänomen“ aus, „daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.“
2. Die auffällige Betonung des geistigen Ursprungs der Kultur darf nicht im Sinne einer Abhebung vom Körperlich-Sinnlichen, Materiellen verstanden werden. Cassirer legt gerade Wert darauf, dass der Geist der Kultur, der menschliche Geist in aller Kultur nicht begriffen werden soll nach der Art eines Geistes, der über den Wassern schwebte. Gegen diese Vorstellung ist der Ansatz bei der symbolischen Aktivität vielmehr gerichtet: „Der symbolische Prozeß ist wie ein einheitlicher Lebens- und Gedankenstrom, der das Bewußtsein durchflutet und der in dieser seiner strömenden Bewegtheit erst die Vielfältigkeit und den Zusammenhang des Bewußtseins, erst seine Fülle wie seine Kontinuität und Konstanz zuwege bringt.“[13]
Der in solchen Überlegungen auffällige ‚lebensphilosophische‘ Überschwang lässt sich ohne Mühe in das bedeutungspragmatische Konzept einer Symboltheorie der Kultur integrieren. Denn selbstverständlich ist der Prozess der Kultur der Prozess des menschlichen Lebens und Kultur der spezifische Modus der Lebendigkeit des Menschen. Davon abgesehen muss man vor allem einen weiteren Grundgedanken betonen: Das menschliche Bewusstsein ist für seine Artikulation allemal auf materielle Medien angewiesen; diese verschafft sich der Mensch in den Symbolen, die er selbst erst zu gestalten hat. Gerade deshalb aber bietet der Ansatz beim Symbolprozess in seiner elementaren Verknüpfung von geistigem Bedeutungsgehalt und sinnlichem Bedeutungsträger nach Cassirers Überzeugung geradezu die privilegierte Möglichkeit der Überwindung des Leib-Seele-Dualismus. Geist und Sinnlichkeit: im Symbolprozess können sie als gleichursprünglich und koextensiv begriffen werden. Denn geistige Spontaneität realisiert sich regelmäßig und nicht anders als in der Verknüpfung mit Sinnlichem.
Mit Bezug auf die „Versinnlichung von Sinn“, die in allem Symbolgebrauch stattfindet, bevorzugt Cassirer zwar den Ausdruck „Verkörperung“ – ohne dass jedoch die Implikation von Nachträglichkeit, die (in beiden Formeln) mit dem Präfix „Ver-“ unweigerlich einhergeht, zu seinen systematischen Absichten gehörte. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Wo Cassirer gänzlich auf der Höhe seines Ansatzes sein Konzept der Symbolisierung formuliert, da wird deutlich, worauf er hinaus will: dass „eine rein symbolische Relation […]sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen, noch ein Vorher oder Nachher, ein Wirkendes oder Bewirktes; hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert“.[14]
Symbolisierung – symbolische Prägnanz
Das Problem der angemessenen Formulierung des Grundkonzepts stellt sich bereits mit der Definition der symbolischen Form. Wo Cassirer diese als Energie des Geistes und deren Effekt als Verknüpfung eines geistigen Bedeutungsgehaltes mit einem konkreten sinnlichen Zeichen bestimmt (siehe oben), da ist die Auffassung nahegelegt, als gäbe es Zeichen schon vor der symbolischen Formung. Diese bestünde darin, einen offenbar autonomen geistigen Bedeutungsgehalt an ein seinerseits irgendwie in der Welt schon fix und fertig vorhandenes Zeichen zu knüpfen; dies geschähe kraft jener Energie des Geistes, als die Cassirer die symbolische Form verstanden wissen will; und das Produkt dieser Verknüpfung zweier ontologisch selbständiger Entitäten wäre das Symbol. Hier muss man entschieden protestieren. Wir wissen genug, um sagen zu dürfen, dass dies nicht Cassirers Konzeption von Symbolisierung ist – wir haben es vielmehr mit einer suboptimalen Formulierung zu tun, in der der Autor nicht ganz auf der Höhe seiner eigenen Konzeption ist. Allzu offenkundig ist es, dass sich Cassirer die Sache vielmehr so denkt: Das Sinnliche wird in der Verknüpfung mit dem geistigen Bedeutungsgehalt allererst zum Zeichen, in dieser Relation wird nicht nur das Sinnliche, sondern auch der geistige Bedeutungsgehalt erst konkret – und das Ganze ist das Symbol.
Cassirer hat diese Konzeption der gleichursprünglichen Wechselbestimmung von Geistigem und Sinnlichem im Prozess der Symbolisierung im dritten Teil der Philosophie der symbolischen Formen in einer eigenen terminologischen Prägung unmissverständlich zur Geltung gebracht: „Unter ’symbolischer Prägnanz‘ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als sinnliches Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen Sinn in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.“[15] Alles sinnlich Wahrgenommene ist nach dieser Auffassung „immer schon Träger eines Sinnes“. Damit sind zwei komplementäre Aspekte der spontanen Einstellung auf Bedeutung angesprochen: Das Wahrgenommene wird augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen, und es wird immer schon in spezifischer Weise, damit aber auch auf verschiedene mögliche Weisen, als sinnvoll wahrgenommen. Cassirer illustriert diesen Gedanken an einem elementaren Beispiel – an der Wahrnehmung eines Linienzuges. Dieselbe gleichmäßig geschwungene Linie kann je nach dem Kontext eine „künstlerische Bedeutsamkeit“ als ästhetisches Ornament haben, sie kann aber auch als magisches Zeichen und damit als „Träger einer mythisch-religiösen Bedeutung“ gesehen werden, und sie kann schließlich im wissenschaftlichen Kontext eine Darstellung für einen „rein logisch-begrifflichen Strukturzusammenhang“ geben.[16] Ebenso wichtig wie die Einheit von Sinnlichem und Sinn, die in jedem Wahrnehmungserlebnis spontan und dabei stets ohne Früher und Später, ohne Hin und Her instantan geleistet wird, ist dem Autor an diesem Beispiel ganz offensichtlich die Kontextabhängigkeit der Bedeutung. Je nachdem, in welchem Kontext ich mich dem sinnlichen Eindruck dieser Linie widme, ist seine Wahrnehmung durch eine Vorgabe geprägt und stellt sich in anderer Bedeutung dar.
Das System der Bedeutung als Sphäre der Freiheit
Auffällig ist in diesen grundlegenden Bestimmungen immer auch das praktische Leitmotiv dieser Philosophie der Kultur: Cassirer betont an dem Prozess der Symbolisierung, in dem die Kultur besteht, mit der geistigen Spontaneität auch den Charakter der freien Tätigkeit. Für Cassirer ist die Kultur Ort und Vollzug der Freiheit, da jede symbolische Leistung auf die Freiheit des tätigen Geistes zurückgeht. Was wir Wirklichkeit nennen, verdankt sich in allen seinen Formen der Leistung produktiven Gestaltens, und in diesem Gestalten ist immer schon eine Form der Freiheit zu sehen. Darin ist auch die letzte Antwort auf die Frage gegeben, mit der Cassirer in seinem ganzen Werk ringt – die Frage des systematischen Zusammenhangs, also: die Frage nach der Einheit der Kultur in der Vielheit ihrer einzelnen Phänomene: Er sieht sie letztlich in der Funktion der Symbolisierung, die allen symbolischen Formen gemeinsam ist, in der Befreiung vom bloßen Eindruck zur selbsttätigen Artikulation im gestalteten Ausdruck – in der Befreiung vom bloßen Ausgeliefertsein an das Gegebene durch den Zugriff, den allein die produktive Selbsttätigkeit ermöglicht. Dass der Mensch als bewusstes und impressionierbares Wesen der ganzen chaotischen Mannigfaltigkeit seiner Eindrücke nicht einfach ausgeliefert ist, sondern nach außen wie nach innen über sie verfügen kann, indem er sie in der artikulierenden Aneignung ordnet und ihnen damit allererst einen Sinn zu geben weiß – das ist die gleichermaßen erkenntnistheoretische wie praktische Pointe dieses Befreiungsmotivs. Alle Kultur ist als Form der Freiheit und als „Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen“ zu verstehen.
Mit diesem elementar praktischen Verständnis der Kultur ist unweigerlich ein ethischer Sinn verbunden. Wenn Kultur als das vielgestaltige Projekt menschlicher Selbstbestimmung begriffen ist, dann steckt in diesem Zugriff immer schon eine positive Bewertung und ein normativer Appell an die Verantwortung der kulturellen Akteure für ihre Kultur.[17]
Cassirer als politischer Philosoph und Rektor der Universität
Im Sommersemester 1928 erhält Cassirer einen Ruf an die Universität Frankfurt und kommt angesichts eines sehr attraktiven Angebotes ernsthaft ins Überlegen. Da fühlt sich Aby Warburg genötigt, öffentlich einzugreifen und schreibt am 23. Juni 1928 den legendären Artikel im Hamburger Fremdenblatt „Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf“ – eine nachdrückliche Anerkennung seines Werkes und eine bewegende Würdigung der Einheit von Person und Werk.[18] Und Cassirer bleibt in Hamburg. Noch in die Zeit seiner sehr erfolgreichen Bleibeverhandlungen fällt die Einladung des Senators Paul de Chapeaurouge, die Rede bei der Verfassungsfeier 1928 zu halten, verbunden mit dem Ausdruck der aufrichtigen Hoffnung, der so geehrte Adressat möge seine „großen anerkannten Gaben unserer jungen Universität als einer ihrer führenden Gelehrten weiter erhalten.“[19]
„Ich schwöre Treue der Reichsverfassung“, hatte der neuberufene Professor Cassirer am 17. Oktober 1919 vor dem Präses der Oberschulbehörde bekräftigt. Die Rede vor dem Hamburger Senat Die Idee der republikanischen Verfassung vom 11. August 1928 lässt erkennen, dass dies keine leere Formel war. Sie ist ausdrücklich gegen die völkischen und antidemokratischen Bewegungen jener Zeit gerichtet, die in der Demokratie eine westliche Verirrung sehen wollen, welche dem deutschen Nationalcharakter wesensfremd wäre. Cassirers Rede zur Verfassungsfeier ist ein Dokument des klassischen politischen Liberalismus. Cassirer zeigt hier durch die ideengeschichtliche Genealogie des modernen Verfassungsgedankens und der damit verbundenen Idee vom unveräußerlichen Naturrecht des Individuums, dass es deutsche Philosophen waren – allen voran Leibniz und Wolff, die mit der Idee der Freiheit und der gleichen Rechte in maßgeblicher Weise die Befreiungsbewegungen des 18. Jahrhunderts in Amerika und in Frankreich beeinflusst haben, mit denen sich der kritische Kant im Zuge der Entfaltung seiner bis in die Gegenwart maßgebenden politischen Theorie wiederum auseinandersetzte. Auf diese Weise sucht Cassirer mitten in der Krise der Weimarer Republik den Nachweis vom Ursprung des modernen Verfassungsgedankens in der deutschen idealistischen Philosophie zu führen, und er beschließt seine Ausführungen mit dem Befund, „dass die Idee der republikanischen Verfassung als solche im Ganzen der deutschen Geistesgeschichte keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist, dass sie vielmehr auf deren eigenem Boden erwachsen und durch ihre ureigensten Kräfte, durch die Kräfte der idealistischen Philosophie, genährt worden ist“.[20] Die als grundlegende Werbung für den Verfassungsgedanken mit dem Argument ihrer Naturwüchsigkeit im deutschen Denken angesetzte Verteidigung mündet aber in eine subtile Überbietungspointe: Ein wesentliches Merkmal des deutschen Denkens, das auf diese Weise in Kontinuität mit dem der anderen europäischen Nationen gerückt wird, wäre demnach gerade der allen Nationalismus übersteigende universalistische Impetus der hier entwickelten Ideen. Erkennbar sucht Cassirer damit den politischen Gegner zwingend in die Pflicht der Demokratie zu nehmen, vor allem aber gibt er sich damit selbst als Verfechter der allgemeinen Menschenrechte zu erkennen: Und auf diese Weise artikuliert er sich in einer Zeit, in der der Verfassungsgedanke und mit ihm der Parlamentarismus in der Krise steckten, nachdrücklich als ein vom europäischen Gedanken durchdrungener Verfassungsdemokrat.
Es gehört zu den Höhepunkten in der Geschichte der Hamburger Universität, dass sie den Redner, der sich in düsteren Zeiten so exponiert hatte, ein Jahr später zu ihrem Rektor machte. Das Protokoll der Vollversammlung zur Wahl des Rektors für das Amtsjahr 1929/30 am Sonnabend, den 6. Juli 1929 hält ein Wahlergebnis fest, das die gelegentlich anzutreffende Behauptung, die Wahl Cassirers zum Rektor sei „umstritten“ gewesen, augenscheinlich nicht belegt; doch muss man mit Blick auf die solide Mehrheit der abgegebenen Stimmen berücksichtigen, dass etwa die Hälfte der wahlberechtigten Professoren der Wahl ferngeblieben waren.[21] Die CV-Zeitung (i.e. die Blätter für Deutschtum und Judentum des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens) würdigte in ihrem Artikel „Ernst Cassirer, Rektor der Universität Hamburg“ vom 2. August 1929, „dass der angesehene Philosoph den Problemen des Judentums lebhaftes und tätiges Interesse entgegenbringt“.[22] Bei dem üblichen Festakt zur Amtsübergabe in der Musikhalle am 7. November 1929 hielt der neue Rektor einen Vortrag über „Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs“.
Umstritten war dann die Verfassungsfeier der Universität, für die Cassirer als Rektor im Sommer 1930 sorgte – die erste und einzige, die es an der Hamburgischen Universität überhaupt gegeben hat. Möglich war sie als Kompromiss, indem man sie verband mit der Feier zur Befreiung des Rheinlandes, und es hat um die Verbindung und Gewichtung der beiden Anlässe ein heftiges Ringen im Akademischen Senat und insbesondere mit der Studentenschaft gegeben.[23] Die Feier fand schließlich am 22. 7. 1930 statt, und Cassirer hielt selbst die Rede über „Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte“.[24] Im Anschluss an eine konzise historische Darstellung der Staatstheorien von Grotius und Leibniz über Fichte, Herder, die Romantik und Hegel appelliert er wie schon in seiner Verfassungsrede von 1928 auch hier wieder an die Einsicht in die Notwendigkeit einer einigenden Gesetzgebung und lobt die Weimarer Verfassung als ein „Werk der Not“, durch das bei allen Mängeln im einzelnen „das deutsche Volk in den Zeiten des furchtbarsten Druckes und der höchsten Gefahr seine innere Fassung bewahrt habe“. Dem Plädoyer für die Freiheit im Staat, das er ausführlich in der Rede des Vorjahres begründet hatte, stellt er hier komplementär die Ermahnung zur Freiheit der Wissenschaft an die Seite – eine Ermahnung insofern, als er – sicher in Anspielung auf die um die Verfassungsfeier geführte ideologische Auseinandersetzung – an die Bedingung erinnert, auf der diese Freiheit beruht: Die Universitäten dürfen keine Stätten des politischen Kampfes werden. Der Beitrag der Universität zum gesellschaftlichen Leben liegt allein in der Erkenntnis und im Verstehen.
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Wo der Philosoph Ernst Cassirer sich als politischer Philosoph und Zeitgenosse äußerte, da geschah dies stets in der Absicht, einen Beitrag zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen in einer freiheitlichen Verfassung des Ganzen zu leisten.[25] Doch obwohl er in der Rede zur universitären Verfassungsfeier 1930 Konsequenz in der Freiheit der Wissenschaft einfordert, wird auch deutlich, dass diese Gedanken für ihn keine bloße Theorie sind. Es gibt, um es mit einem von Goethe übernommenen Lieblingsausdruck Cassirers zu sagen, einen „prägnanten Punkt“ in der Biographie dieses Denkers, an dem sich zweifelsfrei erweist, dass diese Position der politischen Philosophie getragen ist von einem vitalen und jederzeit praktischen Sinn für die politischen Verhältnisse, von einer wachsamen Urteilskraft, an der wir den Philosophen als selbstbewussten Bürger erkennen. Ich meine damit die geistesgegenwärtige Einsicht, mit der Cassirer Abschied nahm von seiner Universität und der Stadt Hamburg. Nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 gab es für Ernst und Toni Cassirer, die den Antisemitismus im universitären und im städtischen Alltag der 20er Jahre erfahren hatten, kein Zögern in der Frage, was zu tun war. Sie verließen Hamburg am 12. März 1933 und waren so schon etwa einen Monat außer Landes, als am 7. April das „Reichsgesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ in Kraft trat.[26] Bereits am 5. April ersuchte Cassirer den Rektor um die Aufhebung aller Verpflichtungen bis zu einer allgemeinen Regelung.[27] In einem Brief an den Dekan der Fakultät Walther Küchler heißt es dazu am 27. April 1933: „Ich denke von der Bedeutung und Würde des akademischen Lehramtes zu hoch, als daß ich dieses Amt ausüben könnte zu einer Zeit, in der mir als Juden, die Mitarbeit an der deutschen Kulturarbeit bestritten oder in der sie mir, durch gesetzliche Maßnahmen, in irgend einer Hinsicht geschmälert oder verkürzt wird. Die Arbeit, die ich bisher in der Fakultät leisten durfte, beruhte darauf daß ich als gleichberechtigtes Mitglied anerkannt war: sie empfing lediglich durch diese Voraussetzung ihren Sinn und ihren Inhalt. Mit dem Wegfall dieser Voraussetzung entfällt für mich jede Möglichkeit, in sachlich fruchtbarer Weise an den Arbeiten der Fakultät mitzuwirken.“[28]
Bereits am 27. Juli 1933 wurde Cassirer mit Wirkung zum 1. November in den Ruhestand versetzt. Seine Kollegen an der Universität haben ihn ohne Aufbegehren und Protest einfach ziehen lassen. Die Stationen seiner Emigration führten ihn über die Schweiz und England nach Schweden, wo ihm in Göteborg eine Professur angeboten wurde. 1939 wurde ihm die schwedische Staatsbürgerschaft verliehen; auf die deutsche verzichtete er. Nach seiner Emeritierung dort nahm er Gastprofessuren in den USA wahr – zuletzt in New York, wo er 1945 mit 71 Jahren seinem Herzleiden erlag.
[1] Staatsarchiv HH Hochschulwesen. Dozenten-und Personalakten I.146 Bd. 1.
[2] Siehe dazu Birgit Recki: Cassirer [Reihe Grundwissen Philosophie], Stuttgart: Reclam 2013, 94-99.
[3] Vgl. Martin Warnke: „Die Bibliothek Warburg und ihr Forschungsprogramm“, in: Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg 1933 London, hg. von Michael Diers, Hamburg: Dölling und Galitz 1993, 29-34.
[4] Hans Blumenberg: Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des Kuno-Fischer-Preises der Universität Heidelberg 1974, in: ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart: Reclam 1981, 163-172; Zitat: 165.
[5] Aby Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg mit Einträgen von Gertrud Bing und Fritz Saxl, hg. von Karen Michels und Charlotte Schoell-Glass, in: ders.: Gesammelte Schriften. Studienausgabe, Siebte Abteilung, Band VII (im Folgenden zitiert als GS VII).
[6] Vgl. Hans Jörg Sandkühler: „Eine lange Odyssee“ – Joachim, Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im ‚Dritten Reich’“, in: Dialektik 2006/1.
[7] Ernst Cassirer: An Essay on Man. Introduction to a Philosophy of Human Culture (1944), in: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (ECW) Bd. 23; deutsch: Versuch über den Menschen. Eine Einführung in die Philosophie der Kultur, Frankfurt am Main: S. Fischer 1990, 51.
[8] Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923); Zweiter Teil: Das mythische Denken (1925); Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis (1929), in: Ernst Cassirer Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (ECW), Bd.e 11-13, Hamburg: Meiner 2001; 2002.
[9]Zum systematischen Kontext der Philosophie der symbolischen Formen gehören aber auch einige Masteressays, in den Cassirer teils Grundlegungsfragen der symboltheoretisch fundierten Kulturphilosophie, teils spezifische Fragen zu den Subsystemen der Kultur erörtert: „Goethe und die mathematische Physik“ (1921, ECW 9); „Die Begriffsform im mythischen Denken“ (1922, ECW 16); „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ (1923, ECW 16); „Zur `Philosophie der Mythologie´“ (1924, ECW 16); „Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen“ (1925, ECW 16); „Das Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie“ (1927, ECW 17); „Form und Technik“ (1930; ECW 17); „Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt“ (1932/33), in: Ders.: Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen. Auf der Grundlage der Ausgabe Ernst Cassirer. Gesammelte Werke hg. von Marion Lauschke, Hamburg: Meiner 2009, 191-217.
[10] Ernst Cassirer: „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ (1923), in: ECW Bd. 16, 75-104; Zitat: 79. – „Deines Geistes Reife/ Tat mir arg Beschmutztem Wohl / Nimm, drum, diese Goetheseife / teils als Form, teils als Symbol“, diesen Reim richtete Erwin Panofsky im Goethe-Jahr 1924 an die Adresse Cassirers – und der war etwas pikiert.
[11] Ernst Cassirer: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois, in: Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von John Michael Krois und Oswald Schwemmer (ECN) Bd.1, Hamburg: Meiner 1995, 18.
[12] Siehe eingehender Recki: Cassirer, Stuttgart: Reclam 2013.
[13] Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, ECW 13, 231.
[14] Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, ECW 13, 113.
[15] Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil, ECW 13, 231.
[16] Zum Beispiel Ernst Cassirer: „Das Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie“ (1927), in: ECW 17, 253-282, Zitate: 257f.
[17] Zur Frage der ungeschriebenen, aber impliziten Ethik Ernst Cassirers siehe Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin: Akademie-Verlag 2004; Kap. C.II-IV.
[18] Ein Exemplar des von Warburg selbst veranstalteten Sonderabdrucks aus dem Hamburger Fremdenblatt Nr. 173 findet sich in Staatsarchiv HH Hochschulwesen. Dozenten- und Personalakten IV 146.
[19] Staatsarchiv HH Hochschulwesen Dozenten- und Personalakten I.146 Bd. 1 (Schriftstück 42).
[20] Ernst Cassirer: Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928, in: Ernst Cassirer: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Bd. 17, Hamburg: Meiner 2004, 291-307, hier: 307.
[21] Ich danke Rainer Nicolaysen für den Hinweis auf diesen letzteren Umstand.
[22] Auch in den jüdisch-kulturellen Vereinen Hamburgs hat sich Cassirer in den 20er Jahren gelegentlich mit Vorträgen engagiert, so z. B. in der Akademischen Arbeitsgemeinschaft der Franz Rosenzweig Gedächtnis-Stiftung. Von 1923 bis zu seiner Emigration im März 1933 war er zweiter Vorsitzender der 1919 gegründeten Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Hamburg, deren Ziele – zum Ausgleich für das Fehlen einer Theologischen Fakultät an der Hamburgischen Universität – die „Pflege religionswissenschaftlicher Studien“ und die „Verbreitung religionswissenschaftlicher Kenntnisse“ waren. Von Cassirer sind während seiner über 10jährigen Mitwirkung in der Gesellschaft zwei Vorträge belegt, die ebenso wie das veröffentlichte Lebenswerk das säkulare, ideengeschichtlich ausgerichtete Profil seines philosophischen Denkens auch über Mythos und Religion dokumentieren: am 14.7. 1921 „Begriffs- und Klasseneinteilung im mythischen und religiösen Denken“ und am 14.1. 1926 „Mittelalter und Neuzeit vom Standpunkt der Geschichte der Philosophie“. Mit der Entscheidung für die Emigration legte Cassirer sein Amt im Vorsitz nieder. – Siehe auch Birgit Recki: „Cassirer, Ernst“, in: Das jüdische Hamburg. Ein historisches Nachschlagewerk, hg. vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Göttingen: Wallstein 2006, 45-46.
[23] Siehe die Auszüge aus den Protokollen des Universitätssenats, die Briefe der studentischen Gruppen und die Pressekommentare in Staatsarchiv HH Universität I A 170.8.2.
[24] Erstmals gedruckt in: Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität (Ausstellungskatalog), hg. von Angela Bottin unter Mitarbeit von Rainer Nicolaysen, Hamburg: Reimer 1991, 161-169.
[25] Siehe auch Barbara Vogel: „Philosoph und liberaler Demokrat. Ernst Cassirer und die Hamburger Universität von 1919 bis 1933“, in: Dorothea Frede / Reinold Schmücker (Hg.): Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, 185-214.
[26] Siehe Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg: Meiner 2003, 196. – Im Mai sollten Ernst und Toni Cassirer noch einmal für einen kurzen Besuch nach Hamburg kommen, um mit den ehemaligen Mitarbeitern und den Mitarbeitern der KBW die Probleme zu besprechen, die sich aus Cassirers Abschied aus Hamburg für diese ergeben hatten.
[27] A. a. O., 199.
[28] ECN 18, 128.