Eine ‚Logik der Sache selbst’? Jörg Meyer über den „Hamburger Ansatz“ der Kriegsursachenforschung (Jung, Schlichte und Siegelberg 2003)

Der Hamburger Ansatz der Kriegsursachenforschung wurde in den 1990er Jahren von Jens Siegelberg, Dietrich Jung und Klaus Schlichte im Zusammenhang der von Klaus Jürgen Gantzel gegründeten „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ (AKUF) entwickelt. Siegelberg arbeitet heute als Publizist und Consultant, Jung ist an der University of Southern Denmark in Odense und Schlichte an der Universität Bremen tätig.

Jörg Meyer ist seit 2008 Mitarbeiter am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.


Es führt also zu grundlegenden Fehleinschätzungen (…), wenn die kriegerische Spur des Kapitalismus als Eigenschaft des Kapitalismus und nicht als Bedingung seiner Entstehung und Durchsetzung gesehen wird“ (37). Diese These kann als eine Schlüsselstelle des von Jung, Schlichte und Siegelberg verfassten Bandes „Kriege in der Weltgesellschaft“ (2003) verstanden werden. Kriegerische Gewalt erscheint hier vor allem als „Widerstand gegen die kapitalistische Auflösung traditionaler Lebensverhältnisse“ bzw. „das Neue“, auch wenn die „immanenten Widersprüche kapitalistischer Vergesellschaftung“ als weitere strukturelle Ursachen der „Kriege der Gegenwart“ in Betracht gezogen werden (28-29). Hinter diesem Erklärungsansatz steht wiederum der Anspruch, auf eine „formalisierte Logik der Erklärung“ zugunsten einer Orientierung an „der Logik der Sache selbst“ zu verzichten (10). Aber wie kann so etwas aussehen?

Die Basis für die „sachlogische“ bzw. „wirklichkeitsnahe Erklärung von Gewaltprozessen“ soll die „Grammatik des Krieges“ liefern. Sie basiert auf einer idealtypischen Unterscheidung von vier Analyseebenen, auf denen die unterschiedlichen „Schritte zum Krieg“ rekonstruiert werden sollen, um die „Komplexität kriegsursächlicher Bestimmungsgründe und ihre kumulative Verdichtung zu kriegerischem Konfliktaustragung analytisch in den Griff zu bekommen“ und der „erklärungsnotwendigen Verknüpfung von strukturellen Ursachen und subjektiven Gründen von Gewalthandeln“ Rechnung zu tragen (23-25).

Die von der ersten Analyseebene („Widerspruch“) repräsentierte Stufe des Entstehungs- und Erzeugungsprozesses von Kriegen bestehe aus „gesellschaftliche[n] Widersprüche[n] und Problemlagen, die als Resultat historischer und aktueller Entwicklungen den strukturellen Hintergrund jedes gesellschaftlichen Konfliktes bilden“, wobei es „gleichgültig“ sei, „ob es sich um religiöse, ökonomische, ethnische, politische, kulturelle oder andere Widersprüche und Gegensätze handelt, oder ob die Probleme endogenen oder exogenen Ursprungs sind“. Auf diese Bereiche richte sich der erste Untersuchungsschritt (24). Nur welchen Schritt zum Krieg könnten dann die (am betreffenden Krieg) Beteiligten gemacht haben?

Auf der zweiten Analyseebene („Krise“) kommen Akteure ins Spiel. „Um die nur potentiellen von den tatsächlich im Eskalationsprozess wirksam werdenden Einflußgrößen zu trennen, ist es entscheidend, ob und wie die objektiv zu konstatierenden Widersprüche und Gegensätze subjektiv wahrgenommen werden und welche Bedeutung sie für die beteiligten Akteure haben“ (24). Einerseits impliziert das „ob“, dass die beteiligten Akteure beispielsweise einen von den Forschern konstatierten „ethnischen Gegensatz“ vielleicht auch nicht wahrgenommen hatten, was die Frage aufwirft, woran die Forscher einen „ethnischen Gegensatz“ festgemacht haben könnten. Andererseits drängt sich die Frage auf, ob soziale Akteure nicht auch etwas zu einem Problem machen können, was objektiv betrachtet kein Problem ist: Stellte Bruno der Bär ein objektives Problem dar? Dennoch wurde er als „Problembär“ erschossen – wenn Tiere uns verstehen könnten, wüssten sie, dass sie ein Problem haben, wenn wir sie als Problem bezeichnen.

In der Skizze der dritten Analyseebene („Konflikt“) wird deutlich, dass Jung et al.  erst hier  Akteuren eine aktive Rolle einräumen. „Auf dieser Ebene kann der doppelte Umschlag der gesellschaftlichen Verhältnisse in Verhalten der Akteure beobacht werden: von passivem Wahrnehmen zu aktivem Handeln und von friedlichem zu kriegerischem Konfliktaustrag“ (25). Welche subjektiven Gründe für die Ausübung von Gewalt die Akteure gehabt haben könnten, bleibt offen, die gesellschaftlichen Verhältnisse bzw. „krisenhaft wahrgenommen Lebensumstände“ (24) schlagen einfach in kriegerisches Verhalten um. Bei dem auf dieser Ebene zu untersuchenden aktiven Handeln geht es allerdings auch um „die Schaffung der materiellen, organisatorischen und mentalen Voraussetzungen der Kriegsführung“, d.h. „die Beschaffung von Waffen und materiellen Ressourcen“ sowie „die ideologische Mobilisierung und schließlich die Rekrutierung kampfbereiter Anhänger“ (25). Damit wird auf Handlungen von Akteuren verwiesen, die schon die Absicht gehabt haben, Krieg zu führen, und die dann andere Menschen dazu bewegt bzw. anderen Menschen Gründe gegeben (vgl. Forst 2015) haben, mitzumachen.

Die vierte Analyseebene („Krieg“) zielt weniger auf die Entstehung eines Krieges als auf die Erklärung einer lang andauernden militärischen Gewaltanwendung ab: „Jedes Drehen der Spirale aus Gewalt und Krieg erzeugt die weitere Eskalation und Perpetuierung von Gewalt, so dass der Krieg selbst schließlich immer stärker zur Ursache des Krieges und letztlich sogar zum Selbstzweck werden kann“. Im sich direkt anschließenden Beispiel scheint Krieg aber nicht der Zweck, sondern das Mittel zu sein: „In Kriegsökonomien etwa wird die Gewalt zur Lebensgrundlage ganzer Bevölkerungsschichten, was zur Persistenz der Gewalt und zur Minderung der Chancen einer Kriegsbeendigung führt“ (Jung et al. 2003: 25). Wenn wir „Kriegsökonomien“ als ein Set von Praktiken verstehen, geben auch hier Akteure anderen Akteuren Gründe für eine Anwendung von Gewalt, indem sie entsprechende Möglichkeiten des Erzielens von Einkommen schaffen und / oder alternative Möglichkeiten der Sicherung des eigenen Überlebens blockieren.

Wie könnte mit dem der Grammatik nun die Erklärung eines innerstaatlichen Krieges in der Zusammenschau aussehen? Auf den ersten Eindruck bieten Jung et al. das folgende Schema an: Im betreffenden Staat hat der objektive „Widerspruch“ X vorgelegen; dieser Widerspruch hat zu einer „Krise“ der bestehenden Ordnung etwa in Gestalt von Protesten geführt; dann ist die Krise zu einem „Konflikt“ eskaliert bzw. der friedliche in kriegerischen Konfliktaustrag umgeschlagen; und daraus ist ein „Krieg“ geworden, der sich durch eine Verselbständigung der Gewalt noch verfestigt hat.

Das könnte uns plausibel erscheinen. Aber warum? Vielleicht einfach, weil wir schon wissen, dass Widersprüche sich gewaltsam entladen und Krisen eskalieren können. Speziell die erste Analyseebene appelliert an ein bestimmtes Hintergrundwissen: „Diesen Bereichen [„religiöse, ökonomische, ethnische, politische, kulturelle oder andere Widersprüche und Gegensätze“ bzw. „Probleme“] gilt zunächst die Aufmerksamkeit, da sie potentiell konfliktive Momente darstellen und sich unter bestimmten Umständen zu Gewaltursachen entwickeln können“ (24). Zwischen was ein Widerspruch besteht, wird uns in der Grammatik  allerdings nicht verraten. Durch den Verweis etwa auf „ethnische Gegensätze“ kommt dem Leser diese Frage vielleicht auch erst gar nicht in den Sinn.

Im alltäglichen Gebrauch des Wortes „Problem“ zeichnet sich eine Antwort auf diese Frage ab: Zwischen bestimmten (erlebten oder auch vorgestellten) Verhältnissen und Geschehnissen einerseits und spezifischen Bewertungen oder Bedürfnissen anderseits. So könnte in einer auf die kognitive Ebene gerichteten Perspektive gesagt werden, dass ein Widerspruch zwischen bestimmten von der Handelnden wahrgenommenen und von ihr als wünschenswert angesehen Lebensumständen bestanden und diese Diskrepanz einen Wunsch nach Veränderung erzeugt habe. In einer weniger zwischen „Geist und Körper“ trennender Sicht könnte wiederum ein Widerspruch zwischen bestimmten dem Handelnden widerfahrenen Lebensumständen und seinen auch sozial geformten Bedürfnissen vermutet werden, der ein Gefühl der Verletzung und Verlangen nach Veränderung erzeugt hat. Oder vielleicht könnte sogar gesagt werden, dass bestimmte Verhältnisse in einem objektiven Widerspruch zu dem stehen bzw. gestanden haben, „was das Wohlergehen von Menschen oder anderen Spezies konstituiert“ (Sayer 2014: 343), und zwar nicht nur in einem ethischen, sondern auch kausalen Sinn, womit es etwa um die Erzeugung einer Sehnsucht nach Bestätigung oder Gewissheit bzw. Empfänglichkeit für Deutungen und Handlungsangebote ginge, die diese Lücke zu füllen verheißen.

Aber was könnte bei Jung et al. mit objektiven Widersprüchen gemeint sein? Der häufig eingeschlagene Weg, objektive Widersprüche als von der Forschung beobachtete Diskrepanz zwischen bestimmten (nicht zuletzt materiellen) Verhältnissen einerseits und bestimmten sozialen Bewertungsmustern andererseits zu verstehen, ist mit der Grammatik ja kaum kompatibel. Denn es sollen zunächst die objektiven Widersprüche identifiziert und erst dann die Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der handelnden Akteure analysiert werden.

Da die zweite Analyseebene den Namen „Krise“ trägt, bin ich davon ausgegangen, dass die Stufe des Entstehungs- und Erzeugungsprozesses von Kriegen, die durch diese Analyseebene abgebildet werden soll, in der Krise einer Herrschaftsordnung in Gestalt von noch friedlichen Protesten gegen bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse besteht, deren mögliche Eskalation auch durch repressive Maßnahmen der Herrschenden im dritten Schritt zu untersuchen wäre. Abgesehen vom Titel taucht das Wort „Krise“  in der Beschreibung der zweiten Analyseebene aber nicht auf. An dieser Stelle hilft nur ein Blick in frühere Publikationen: „Der Begriff der Krise meint hier also, abweichend vom gebräuchlichen Krisenbegriff …, die Wahrnehmung von Widerspruch“ (Siegelberg 1994: 183). „Auf der dritten Stufe wird analysiert, wie sich die krisenhafte Wahrnehmung von Widersprüchen im konfliktiven Handeln der Akteure umsetzt“ (Jung 1995: 34).

Wenn mit „Krise“ die Wahrnehmung von Widerspruch gemeint ist, liegt es nahe, „krisenhaft“ im Sinne von ‚Widerspruch wahrnehmend’ zu verstehen. Bei der krisenhaften Wahrnehmung von  Widersprüchen ginge es dann um eine ‚Widersprüche wahrnehmende Wahrnehmung von Widersprüchen’. Das macht in gewisser Weise sogar Sinn, da die Akteure mit der Logik der Grammatik nur Verhältnisse als Widerspruch wahrgenommen gehabt haben können, die aus Sicht der Forscher einen objektiven Widerspruch darstellten. Wenn Jung et al. auf „krisenhaft wahrgenommene Lebensumstände“ verweisen, dürfte das also so zu verstehen sein, dass es  um die auch von den Beteiligten als Widerspruch wahrgenommenen objektiven Widersprüche geht: „Die Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der Beteiligten, die auf dieser zweiten Analyseebene untersucht werden, filtern also gewissermaßen die wirksam werdenden von den unwirksamen Einflußgrößen und verleihen dem Entstehungs- und Erzeugungsprozess des Ursächlichen durch ihre Interpretationsleistung eine neue Qualität“ (Jung et al. 2003: 24).

Auf diese Weise soll vermutlich der erklärungsnotwendigen Verknüpfung von strukturellen Ursachen und subjektiven Gründen (s. oben) Rechnung getragen werden. Damit ist aber noch nicht gesagt, zwischen was ein Widerspruch bestanden und was die am Krieg beteiligten Akteure angetrieben hat. Insofern geht es bei der „neuen Qualität“ vielleicht weniger um den Erzeugungsprozess des Krieges als um die Erklärung der Forscher. Zugespitzt gesagt: Die Erzählung, wie der zu erklärende Krieg entstanden ist, könnte dadurch an Überzeugungskraft gewinnen, dass die vom Forscher identifizierten „objektiven Bestimmungsgründe“ (24) den ‚Filtertest’ der Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der Akteure bestehen. Nur wie ist der Krieg erzeugt worden? Während ein ideologisches Mobilisieren von Anhängern oder auch ein Etablieren von Kriegsökonomien Aktivitäten sind, die von Akteuren ausgeübt und durch die anderen Handelnden Gründe zur Anwendung kriegerischer Gewalt gegeben werden können, trifft das für ein Filtern von Einflussfaktoren wohl eher nicht zu.

Auf der Analyseebene „Widerspruch“, so erklärt Jung, wird nach „objektiv feststellbaren, unvereinbaren gesellschaftlichen Momenten gesucht, die einen Handlungsdruck erzeugen, sofern sie von der Akteuren als unvereinbar wahrgenommen werden“ (1995: 212). Aber als unvereinbar mit was? Das wird uns weder in Bezug auf das objektive Konstatieren von Widersprüchen durch die Forscher noch das im zweiten Analyseschritt zu untersuchende subjektive Wahrnehmen von Widersprüchen durch die beteiligten Akteure gesagt. Eine nahe liegende Antwort auf die Frage wäre, dass bestimmte Verhältnisse und Geschehnisse von den beteiligten Akteuren (mehr oder weniger bewusst) als unvereinbar mit ihren Werten oder Bedürfnissen wahrgenommen oder empfunden worden sind. Aber das würde keine Antwort auf die Frage geben, mit was die betreffenden Verhältnisse und Geschehnisse objektiv unvereinbar gewesen sind. Offensichtlich erfordert die Wahrnehmung eines Problems es auch nicht, dass die als Problem begriffenen Verhältnisse überhaupt vorliegen. Ein klassisches Beispiel sind die behaupteten Massenvernichtungswaffen im Irak. Wenn nicht auf die mentale Ebene verwiesen wird, könnte vor allem auch die Etablierung und Institutionalisierung von sozialen Deutungsmuster untersucht werden, die von Akteuren kaum ignoriert oder in Frage werden konnten, ohne ihre soziale Position oder gar Freiheit aufs Spiel zu setzen: Akteure müssen nicht glauben, dass etwas beispielsweise ein Sicherheitsproblem ist, um entsprechend zu sprechen und zu handeln. Sie müssen nur Gründe haben, das ‚Angesagte’ zu tun.

Insgesamt gibt es also eigentlich gute Gründe, auf die erste Analyseebene zu verzichten. Die Frage, durch welche (kontingenten) Narrative, Praktiken und Machtkomplexe Kriege möglich gemacht werden können und kriegerische Gewalt in konkreten Fällen erzeugt worden ist, steht bei Jung et al. allerdings nicht im Vordergrund. Das signalisiert schon der Untertitel des Bandes: „Strukturgeschichtliche Erklärung kriegerischer Gewalt (1945-2002)“. Insofern scheint das Herz der Hamburger Forscher auch nicht so sehr an der Grammatik des Krieges zu hängen, die in der „gebotenen Kürze“ (22) dargestellt werde, sondern eher an der von ihnen angebotenen „Theorie des Krieges“ (27).

In der Darstellung dieser Theorie bzw. der „historischen Logik des Krieges“ löst sich das (zugegeben von mir ein wenig aufgebauschte) Rätsel auf, zwischen was ein objektiver Widerspruch besteht: „Theoretisches Kernstück des Hamburger Ansatzes für die Erklärung kriegerischer Konflikte aber sind die gewaltsamen sozialen Prozesse, die sich aus den fortwährenden Spannungen zwischen traditionaler und bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung ergeben“ (28).

Dazu werden unter Rückgriff auf Norbert Elias drei Elementarfunktionen unterschieden, „die invariante Merkmale jeder Form von Vergesellschaftung bilden: die Sicherung materieller Reproduktion, die Gewaltkontrolle und die Gewährleistung einer über Ideen und Weltbilder vermittelten symbolischen Ordnung“ (32). Als Merkmale einer bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaft genannt werden wiederum u.a. die „konkurrenzbestimmte kapitalistische Warenproduktion, deren Zweck die Produktion von Mehrwert ist“; „versachlichte Formen legaler Herrschaft“ und die „Kontrolle physischer Gewaltsamkeit“ durch das staatliche Gewaltmonopol; sowie „abstrakte, interessengeleitete und von Rationalität und formalen Regeln bestimmte Formen der Wirklichkeitsbewältigung“. Die Gewaltpotentiale dieser Prozesse und etwa auch einer „Bürokratisierung von Herrschaft“ (33-5) benötigen eigentlich keine Erläuterung. Leitdifferenz des Hamburger Ansatzes ist jedoch die Unterscheidung von „Tradition und Modeme“. Bürgerlich-kapitalistische Vergesellschaft wird vor allem als „Auflösung und Transformation traditionaler  Lebensverhältnisse“ im Zuge der „europäischen Weltexpansion“ und „kapitalistischen Modernisierung“ verstanden. So lautet eine Kernthese dann auch, dass „der bis heute unabgeschlossene kapitalistische Transformationsprozeß traditionaler Vergesellschaftungsformen die zentrale, dem Kriegsgeschehen in der Moderne unterliegende strukturelle Konfliktlinie“ bilde (28).

Das scheint die zentrale Kategorie von strukturellen Ursachen zu sein, die laut Jung et al. der kriegerischen Gewalt in der Gegenwart zugrunde liegen: Was sich in der Anwendung von Gewalt artikuliere, sei ein „Widerstand gegen die kapitalistische Auflösung traditionaler Lebensverhältnisse“, wobei sich dieser „Widerstand gegen das Neue unter Rückgriff auf religiös, ethnisch, sprachlich oder regional vermittelte Identitäten“ äußere. „Traditionalismus, Rassismus und eine generelle Tendenz zur Diffusion und Privatisierung gesellschaftlicher Gewaltpotentiale werden zu konstitutiven Momenten des Übergangs“ (29). Dahinter steht wiederum die Annahme, dass „die Veränderung des Denkens, der Wertvorstellungen und Gefühle […] der Transformation der materiellen und politisch-institutionellen Verhältnisse zeitlich nachgeordnet“ sei (31).

Was uns als „Logik der Sache selbst“ angetragen wurde, entpuppt sich so als eine Logik der theoretischen Perspektive des Hamburger Ansatzes, der sich mit dem methodischen Konzept der Grammatik quasi das Erstzugriffsrecht auf das „Ursächliche“ sichert. Damit klärt sich auch auf, was mit einer „kumulativen Verdichtung kriegsursächlicher Bestimmungsgründe zu kriegerischem Konfliktaustrag“ (s. oben) gemeint sein dürfte: eine Anhäufung von Momenten eines Nebeneinander von „modernen und traditionalen Elementen“ (30).

In diesem Sinne erheben Jung et al. auch den Anspruch, dass sich die „Verdichtungsräume gesellschaftlicher Konfliktpotentiale“ entlang der „innergesellschaftlich wie global verlaufenden Ausbreitungsmuster kapitalistischer Vergesellschaftung nachweisen“ lassen würden, also an den Orten, an denen „der Graben zwischen Tradition und Moderne am tiefsten“ sei (28-29). Der ‚Nachweis’ dafür, dass an den Orten, an denen besonders viele als „traditional“ und „modern“ klassifizierte Elemente aufeinander treffen, auch der Graben zwischen „Tradition“ und „Moderne“ am tiefsten ist, sollte jedoch nicht mit einem Nachweis dafür verwechselt werden, dass diese Momente auch die (oder zumindest viele der) an diesen Orten aufgetretenen Kriege verursacht haben. Und daran ändert auch das Bezeichnen dieser Momente als „potentiell konfliktive Momente“ wenig.

Insofern müsste der Nachweis in den Analysen einzelner Kriege erbracht werden. Dabei will ich dem Band keinesfalls eine Erklärungskraft absprechen. Aber es irritiert schon, wenn etwa von einem „Kontakt zwischen Völkern unterschiedlicher Entwicklungsstufen“ (30) die Rede ist, oder davon, dass „mit der Überwindung traditionaler Kräfte (…) ein Formwandel der Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse einhergeht, der die zivilisatorischen Seiten des Kapitalismus freilegt“ (52). Und vielleicht braucht es gar keiner „traditionaler“ Formen des „Denkens, der Wertvorstellungen und Gefühle“, um Kriege zu erzeugen:

„Dies gilt auch für die Überwindung der lateinamerikanischen Gewalttradition. Noch in den kriegsreichen 80er Jahren waren die Konfliktparteien in dem an das mittelalterliche ius ad bellum gemahnenden Glauben vereint, wonach ein gerechtes Ziel Gewalt und Krieg legitimiert. Galt den einen die befreiende Gewalt von unten als Rechtfertigung ihres Kampfes, glaubten die anderen, Gewalt als legitimes Mittel zur Aufrechterhaltung der gegebenen Ordnung einsetzen zu können“ (132).

Dieser Teil der Erklärung könnte auch leicht ohne Verweis auf eine „lateinamerikanische Gewalttradition“ auskommen. Und die Verwendung des Wortes „mittelalterliche“, mit der die betreffenden Akteure außerhalb der Moderne verortet werden, ändert nichts daran, dass die Erzählung, dass ein gerechtes Ziel (nicht zuletzt die Herstellung von Ordnung) Gewalt und Krieg (auch wenn soziale Akteure andere Worte wie „Intervention“ oder „Friedensmission“ verwenden mögen) legitimiert, eine höchst moderne ist. In anderen Worten erfreut sie sich bei Akteuren „kapitalistisch-bürgerlicher“ Staaten keiner geringen Beliebtheit, die dabei auf die Unterscheidung von Tradition und Moderne bzw. einem ‚modernen wir’ und einem ‚nicht-modernen Anderen’ zurückgreifen. Auf einem ganz anderen Blatt stünde noch die Frage, was die Konfliktparteien bzw. die beteiligten Akteure jeweils wirklich geglaubt haben.

„Die traditionalen Elemente des ethnischen Bewusstseins, wie sein mythischer Geltungsanspruch und die Vorrangigkeit der sozialen Verpflichtung bilden dabei die Bewertungsmuster des politischen Geschehens. So wird nachlassende Staatstätigkeit und mangelnde Integration als Verletzung des Reziprozitätsprinzips aufgefaßt. Die Personalisierung des Politischen führt zu einer eindeutigen Zuordnung von Verantwortung: Dem für die entgegengebrachte Loyalität zum Schutz verpflichteten Präsidenten werden empfundene Statusverschlechterungen oder verwehrte Chancen angelastet. (…) Die Wahrscheinlichkeit gewaltsamen Konfliktaustrags im neopatrimonialen Staat steigt nun in dem Maße, in dem der Konflikt nicht mehr über bestehende klientilistische Einbindungen ausgetragen werden kann, wie dies insbesondere in Zeiten ökonomischer Rezession oder abnehmender auswärtiger Unterstützung der Fall ist. Die schwache Institutionalisierung und der autoritäre Charakter neopatrimonialer Herrschaft reichen dann nicht mehr aus, um die entstehenden Konflikte zwischen klientelistischen Verteilungskoalitionen zu vermitteln“ (167).

Abgesehen davon, dass hier ein auf empirische Regelmäßigkeiten basiertes Verständnis von Kausalität ins Spiel gebracht zu werden scheint, könnte eine alternativer Erklärungsversuch ohne die idealtypische Unterscheidung von Moderne und Tradition auskommen. Zumindest dürfte es keiner traditionalen Formen des „Denkens, der Wertvorstellungen und Gefühle“ benötigen, um unerfüllte materielle Wünsche oder Bedürfnisse den Herrschenden anzulasten. Wie entsprechende Deutungsmuster etabliert und vielleicht auch für eine Mobilisierung von Gewalt genutzt wurden, wäre jeweils konkret zu untersuchen. Vor allem könnte ein solcher Erklärungsversuch die höchst ungleiche globale Verteilung von materiellen Vorteilen und damit von materiellen Potentialen zur Herstellung einer Legitimität von nicht kriegerischen Ordnungen durch kapitalistische Macht- und Herrschaftsbeziehungen in den Fokus nehmen. Oder wie es Kai Koddenbrock (2017) so schön für die Internationale Beziehungen formuliert hat: Vielleicht könnte ein künftiger Hamburger Ansatz „mehr Kapitalismus wagen“.


Jung, Dietrich/Schlichte, Klaus/Siegelberg, Jens 2003: Kriege in der Weltgesellschaft. Strukturgeschichtliche Erklärung kriegerischer Gewalt (1945-2002), Wiesbaden.

Weitere Literatur:

Forst, Rainer 2015: Noumenal Power, in: The Journal of Political Philosophy 23:2, 111-127.

Jung, Dietrich 1995: Tradition – Moderne – Krieg. Grundlegung einer Methode zur Erforschung kriegsursächlicher Prozesse im Kontext globaler Vergesellschaftung, Münster.

Koddenbrock, Kai 2017: Mehr Kapitalismus wagen! Herrschaft „jenseits der Anarchie“ und die Rolle des Geldes, in: Politische Vierteljahresschrift 58:2, 258-283.

Sayer, Andrew 2014: Macht, Kausalität und Normativität. Eine kritisch-realistische Kritik an Foucault, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie 2014 1:2,325-349.

Siegelberg, Jens 1994: Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, Münster.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert