Lukas Schilling: Verunsicherte Arbeit – Demokratisierung als Ausgang aus der Prekarität (POLITISCHE THEORIE UND ARBEIT #4)

Prekarisierungskonzeptionen und Ansätze einer Demokratisierung von Arbeitsverhältnissen weisen breite Überschneidungen in ihren Problemdiagnosen auf. Dennoch werden beide theoretischen Zweige bislang wenig systematisch aufeinander bezogen. Im vierten Blogbeitrag hebt Lukas Schilling die Bedeutung von Strategien einer Demokratisierung abhängiger Arbeitsbeziehungen für eine Transformation von Prekarisierungsprozessen hervor. Er konzentriert sich dabei auf Formen direkter Partizipation als demokratische betriebliche Gegenmacht einerseits und politische Subjektivierung und interventionistische Arbeitspolitik außerhalb institutionalisierter Kanäle andererseits.


Das „Normalarbeitsverhältnis“ als stabilisierender Horizont einer florierenden Wirtschaft gerät mehr denn je ins Wanken. Eine zunehmende Verunsicherung von Arbeitsverhältnissen[1] und fragile erwerbsbezogene Sicherungsnetze kratzen am „sozialen Kitt“ als errungen geglaubter Gewissheiten. Tendenzen, welche in verschiedenen Diskursen als eine sich verstetigende Prekarisierung interpretiert werden.

Die in den Vorbemerkungen zum Blogprojekt „POLITISCHE THEORIE UND ARBEIT“ skizzierten Prekarisierungskonzeptionen verbleiben maßgeblich auf einer diagnostischen Ebene. Schließlich widmen sie sich primär den Ursachen und Auswirkungen einer tiefgreifenden Destabilisierung von Arbeitsverhältnissen und sozialer Kohäsion. Auch verschiedene Perspektiven einer Demokratisierung abhängiger Arbeitsverhältnisse beschränken sich häufig aus einer konservativen Haltung heraus lediglich auf passive Schutzaspekte. Aktive demokratische Gestaltungsrechte von Arbeitnehmer*innen geraten damit in den Hintergrund. Eine auf beiden Seiten dominante Betonung der Vulnerabilität – bis hin zur Passivierung – abhängig beschäftigter Arbeitnehmer*innen verstellt den Blick auf ihre aktive Rolle in der Transformation prekärer Verhältnisse.

In klarer Abgrenzung zu einer rein diagnostischen Ausrichtung verschiedener Prekarisierungskonzeptionen einerseits und dem Rückzug pluraler Demokratisierungsstrategien auf den Erhalt passiver Schutzrechte andererseits, wird vorliegend die Akteur*innenposition prekär beschäftigter Arbeitnehmer*innen betont.

Der Beitrag folgt der These, dass direkte Partizipation am Arbeitsplatz, flankiert von niedrigschwelligen Formen der Arbeitspolitik, außerhalb institutionalisierter Kontexte, am ehesten geeignet sind, Prekarisierungsprozesse zu kontestieren. Sie befördern transformative Prozesse einer Demokratisierung der Arbeit „von unten“, indem sie Kanäle eröffnen, prekär beschäftigte Individuen in die Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse zu inkludieren.

  • Ausgangspunkt des Beitrags ist die Auseinandersetzung mit Legitimationsdefiziten wirtschaftlicher Herrschaftsbeziehungen. Es wird also zunächst nach möglichen Legitimationsgründen für eine Demokratisierung von Arbeitsverhältnissen, aber auch nach ihr entgegenstehenden Herausforderungen gefragt.
  • Darauf aufbauend werden im Kern des Beitrags zwei gewichtige Stränge einer Demokratisierung der Arbeit „von unten“ tiefergehend beleuchtet.
  • Auf einer Mikroebene widmen sich Ansätze direkter Partizipation der aktiven Gestaltung von Arbeitsverhältnissen durch politische Praktiken von Erwerbstätigen. In diesem Abschnitt werden die Potentiale direkter Partizipation für eine Stärkung demokratischer betrieblicher Gegenmacht hervorgehoben.
  • Eine Demokratisierung abhängiger Lohnarbeitsverhältnisse wird allerdings überwiegend noch in historisch gewachsenen betrieblichen Strukturen und institutionalisierten Verfahren gedacht.
  • Folglich öffnen sich zunehmend Betrachtungswinkel, welche Fragen emanzipativer Selbstvertretung und widerständiger Intervention außerhalb des Erwerbskontextes in den Fokus rücken. Diese werden vorliegend anhand des Beispiels der sog. EuroMayDay-Bewegungen flankierend diskutiert.

Demokratische Einhegung wirtschaftlicher Herrschaftsbeziehungen

Forderungen nach einer Demokratisierung auf Arbeitsplatzebene teilen im Kern den idealisierten Gedanken, dass in Arbeits- und Produktionsverhältnisse involvierte Menschen in geteilte Willensbildungsprozesse über die Gestaltung jener Verhältnisse inkludiert werden müssten. Unterordnungsverhältnisse, welche über Kapitaleigentum legitimiert und auf der Vorstellung einer uneingeschränkten Verfügungsgewalt über Arbeitskräfte gründen, sollen demokratisch überwunden werden. Dafür bedürfe es einer Übersetzung der „Prinzipien demokratischer Legitimation, Mitgestaltung, Partizipation und Kontrolle vom politischen Bereich auf die Wirtschaft“ (Bontrup 2011, 3).

Es ist allerdings zu bedenken, dass sich Aushandlungen in Unternehmenskontexten nur schwerlich von den ihnen inhärenten Machtasymmetrien abstrahieren lassen und sich kommunikative Rationalitätserfordernisse folglich nicht uneingeschränkt entfalten können (Demirović 2006, 63).

Ein zentrales Argument für die Legitimation einer Demokratisierung von Arbeitsverhältnissen liegt in den Herrschaftsbeziehungen in Unternehmensstrukturen. Abhängigen Lohnarbeitsverhältnissen ist regelhaft ein starkes Machtgefälle inhärent. Eine strukturell asymmetrische Machtverteilung führt im Grunde dazu, dass selbst existierende Formen institutionalisierter Mitbestimmung stets „vom Primat der unternehmerischen Herrschaft überdeterminiert“ (Brinkmann/Thiel/Nachtwey 2014, 126) werden.

Elizabeth Anderson formuliert in ihrem Buch „Private Regierung“ (Anderson 2019) deshalb ein wichtiges Plädoyer für ein verstärktes Bewusstsein hinsichtlich Machtstrukturen in Unternehmen sowie deren mangelnde demokratische und rechtliche Begrenzung. Im Grunde lasse sich private Regierung als Herrschaft betrachten, die „willkürliche, nicht rechenschaftspflichtige Macht über die Regierten hat“ (Ebd., 90). Argumente, welche Arbeitsbeziehungen in das Narrativ freiwilliger, marktförmiger Transaktionen zu rahmen suchen, würden dabei die Natur von Arbeitsmärkten simplifizieren, indem sie sich auf die „oberflächliche Symmetrie des Arbeitsvertrags“ (Ebd., 104) zurückziehen und bestehende Autoritätsverhältnisse verschleiern.

Es ist allerdings nur bedingt zielführend, Legitimationserfordernisse unternehmerischer Entscheidungen primär über eine Analogie zu staatlichen Formen von Autorität herzuleiten. Schließlich vernachlässigt dies, dass in einer demokratischen Gesellschaft nicht jede dem politischen System untergeordnete Ausübung von Autorität nochmals zwingend einer eigenständigen demokratischen Legitimation bedarf (Jacob 2016, 171).

Demokratische Gemeinschaften in betrieblichen Grenzen?

Ein weiteres gewichtiges Problem betrifft die Frage einer Konstituierung von demokratischen Gemeinschaften respektive demoi, welche über das Recht verfügen, ökonomische Beziehungen mitzubestimmen. Möglicherweise bilden Arbeitnehmer*innen mit der Wahl von Repräsentant*innen in Mitbestimmungsorgane eine Art demokratischen Wahlkörper (Demirović 2008, 59 f.). Allerdings weiß eine Analogie vermeintlicher „Unternehmensbürger*innen“ nicht zu überzeugen. Schließlich können Arbeitnehmer*innen aufgrund ihrer unterschiedlichen vertraglichen Bindungen nicht als untereinander gleichberechtigt imaginiert werden, da sie der Disposition von Unternehmensleitungen unterschiedlich ausgesetzt sind.

Somit ist es nicht vorbehaltlos möglich, sich Arbeitnehmer*innen als konstituierende Gemeinschaft mit Wahlrechten und souveränitätsähnlichen Machtbefugnissen zu imaginieren.

Und dennoch erscheinen Modi demokratischer Willensbildung, gerade vor dem Hintergrund einer wachsenden Heterogenität an Beschäftigungsverhältnissen und einer Diversifizierung betrieblicher Strukturen, am ehesten geeignet, divergierende Interessenlagen in einen Dialog zu setzen und politischen Streit am Arbeitsplatz zu ermöglichen.

Direkte Partizipation als Stärkung demokratischer betrieblicher Gegenmacht

Mit Blick auf die engen Grenzen repräsentativer Arbeitspolitik ist es normativ rechtfertigungsbedürftig, dass Modi direkter Partizipation von Arbeitnehmer*innen rechtlich nur in rudimentärer Form garantiert werden. Es muss also näher beleuchtet werden, inwieweit Gegenstrategien primärer Arbeitspolitik prekäre Arbeitsverhältnisse transformieren können.

Im Folgenden wird argumentiert, dass die Wirkmächtigkeit direkter Partizipationsformen von der Entwicklung einer kollektiven Souveränität in zeitlicher, räumlicher sowie fachlich-inhaltlicher Hinsicht abhängt. Eine unmittelbare Beteiligung von Arbeitnehmer*innen setzt voraus, dass sie sich Zeit und Räume zur Verständigung erstreiten und aufbauend auf ihren fachlich-inhaltlichen Kompetenzen kollektive Handlungsperspektiven diskursiv aushandeln.

Die politische Subjektivierung von Arbeitnehmer*innen setzt zunächst die Ausbildung einer zeitlichen Souveränität voraus. Direkte Partizipation könnte über die Initiierung zyklisch verlaufender, kollektiver Lernprozesse, Umsetzungsversuche und Reflexionsphasen an Substanz gewinnen. Um diese zu ermöglichen, könnte analog zu Weiterbildungszeiten ein Anspruch auf Beteiligungszeiten erstritten und arbeitsrechtlich verankert werden (Fricke 2012, 49).

Zeitliche Souveränität korrespondiert wiederum mit der Verfügbarkeit von Räumen zur Artikulation und Erprobung kollektiver Handlungsperspektiven für eine Veränderung von Arbeitsprozessen und -bedingungen. Es bedarf geschützter Räume, in denen sich Arbeitnehmer*innen verständigen, Interessen formieren und darüber eine „betriebsinterne Öffentlichkeit“ (Ebd., 44) gestalten können. Dabei sollten diese Räume nicht auf die permanente Formulierung von Problemlösungsstrategien reduziert werden. Stattdessen dienen sie dazu, Kompetenzen und politische Handlungsformen kollektiv zu erlernen.

Eine weitere Grundlage für die Effektivität direkter Partizipation liegt in einer Aneignung fachlich-inhaltlicher Souveränität durch Arbeitnehmer*innen. Dies betrifft eine Aktivierung von „innovatorischen Qualifikationen“ (Ebd., 46). Direkte Partizipation abhängig Beschäftigter lässt sich nicht auf die Gestaltung spezifischer Arbeitsprozesse beschränken. Vielmehr bedarf ein höheres Maß an Selbstbestimmung holistischerer Einflussmöglichkeiten auf die Rahmenbedingungen von Arbeit. Eine Durchsetzung organisationaler Alternativen setzt folglich Partizipationsrechte an unternehmerischen Entscheidungsprozessen voraus. Diese könnten sich neben Arbeitsprozessen somit auch auf die Gestaltung von Arbeitsbedingungen, des Arbeitsumfeldes, von Unternehmensstrukturen sowie auf die Diskussion wirtschaftlicher Kenngrößen wie den Personaleinsatz, die Verteilung von Investitionen sowie finanzielle Zielvorgaben erstrecken (Ebd., 39). Eine zentrale Gelingensbedingung für die Hebung innovatorischer Potentiale dürfte mithin in kollektiven Sozialisations- und Lernprozessen liegen.

Verankerung direkter Partizipationsformen

Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung des Betriebsverfassungsgesetzes für repräsentative Mitbestimmung, so könnte ein weitreichenderer Schritt in der Normierung eines korrespondierenden „Arbeitsverfassungsgesetzes“ (Peter 2012, 122) liegen. Ein solches Gesetz hätte zum Ziel, direkte Partizipationsrechte und aktive Gestaltungsansprüche abhängig Beschäftigter rechtsverbindlich zu garantieren.

Ein Gegenstand eines Arbeitsverfassungsgesetzes könnte in der Garantie elektoraler Rechte für die Wahl von Personal für höhere Führungspositionen liegen (Herzog 2019, 166). Arbeitnehmer*innen wären berechtigt, Führungskräfte in zu definierende, herausgehobene Kompetenzbereiche für eine befristete Zeitspanne zu wählen (Sattelberger 2014, 106).

Ein weiteres Element eines solchen Gesetzes könnte darin liegen – analog zu Betriebsräten – zusätzliche Arbeiternehmer*innenräte zu institutionalisieren. Diese würden keine Repräsentativfunktionen wahrnehmen, sondern bekämen die Kompetenz übertragen, die zeitlichen, räumlichen und materiellen Ressourcen für direkte Partizipationsformen zu koordinieren und die Ausgestaltung konkreter Formate zu organisieren. Es könnte sich dabei um für alle Arbeitnehmer*innen, unabhängig ihres vertraglichen Status, gleichberechtigt zugängliche und möglichst inklusive Formate wie Dialogkonferenzen, Diskussionsforen, Workshops oder innerbetriebliche Informations- und Bildungskampagnen handeln.

Direktere Gestaltungsmöglichkeiten ließen sich ferner mit der institutionellen Sicherung fachlich-inhaltlicher Arbeits- und Projektgruppen umsetzen. Diese könnten sich, vergleichbar mit politischen Fachausschüssen, der Bearbeitung innerbetrieblicher Konfliktthemen widmen. Erarbeitete Maßnahmenpakete könnten wiederum in turnusmäßigen, betriebsöffentlichen Formaten des Arbeitnehmer*innenrates gegenüber allen Mitarbeitenden kommuniziert und zur Abstimmung gestellt werden.

Eine darüber hinausgehende Partizipationsperspektive würde sich eröffnen, wenn Arbeitnehmer*innen das Recht besäßen, über Unternehmensentscheidungen verbindlich votieren zu können. Dieses könnte bei Entscheidungen, beispielsweise ab einem zu definierenden finanziellen Volumen oder mit zu erwartenden gravierenden Auswirkungen auf Arbeitsplätze, in Anspruch genommen werden.

An dieser Stelle ist es notwendig, Vorbehalte hinsichtlich direkter Partizipationsmöglichkeiten auf der Arbeitsplatzebene zu adressieren. Unter Berücksichtigung eines potentiell umfassenden Charakters von Prekarisierung, sollten direkte Partizipationskanäle kritisch daraufhin beleuchtet werden, wie inklusiv diese ausgestaltet werden. So dürfte die demokratische Qualität der beschriebenen Maßnahmen davon abhängen, wie sie prozessual umgesetzt werden, ob die Partizipationsmöglichkeiten allen abhängig Beschäftigten inklusiv zugänglich sind und ob sie auch in angemessener Reichweite in Anspruch genommen werden. Für Personen mit geringer Arbeitsplatzsicherheit können Ängste um die berufliche Existenz eine Hürde darstellen, in Kommunikationsräume einzutreten und zeitliche Ressourcen bereitzustellen. Hierarchieebenen, Subordinationsverhältnisse sowie strategische Rationalitäten könnten folglich auch vermeintlich egalitärere, direktdemokratische Verfahren durchwirken und damit gravierende Exklusionspotentiale bergen.

Ferner ist die Realisierung demokratischer Transformationsperspektiven mit Blick auf weit ausgreifende wirtschaftliche Handlungszusammenhänge davon abhängig, ob sich kollektiv erstrittene Errungenschaften in unterschiedlichen Loki reziprok aufeinander beziehen. Ohne Einbettung in eine starke Öffentlichkeit sowie eine Verbindung mit weiteren politischen Konfliktfeldern dürften sich die Erfolgsaussichten politischer Strategien zur Überwindung prekarisierter Arbeitsverhältnisse reduzieren.

Politische Subjektivierung und interventionistische Arbeitspolitik

Sind direktdemokratische Strategien aber allein geeignet, Handlungsperspektiven zur Überwindung von Prekarisierungsprozessen aufzuzeigen? Müssen sie doch in institutionalisierten Schranken durchgesetzt werden und setzen ein gewisses Maß an arbeitsrechtlicher wie vertraglicher Einbettung von Arbeitnehmer*innen in betriebliche Strukturen voraus.

Die Herausforderung mangelnder Strukturen und Kommunikationsräume materialisiert sich insbesondere in Bereichen, welche diskursiv mit dem Begriff der Gig Economy gerahmt werden. Die Gig Economy umschreibt eine wirtschaftliche Sphäre, die dadurch charakterisiert ist, dass Arbeitnehmer*innen kurzfristig auf Abruf und entsprechend einer aktuellen Nachfrage zur Erbringung einer Leistung abgefordert werden (Bieber/Moggia 2021, 281). Arbeitsrechtliche und -vertragliche Regulationen werden auf ein unabdingbares Minimum reduziert, sodass Unternehmer*innen und private Konsument*innen an ihre flexiblen Bedarfe angepasste Mengen an Arbeitskraft erwerben können. Zentral sind dabei auf ein zeitliches Minimum befristete Verträge, eine Entgrenzung von Arbeitszeiten aufgrund einer permanent sicherzustellenden Verfügbarkeit, flexible Vergütungsmodelle sowie eine Übertragung von Versicherungsverpflichtungen auf Arbeiter*innen (Ebd., 285 f.). Prominente Beispiele für diese wirtschaftliche Entwicklung sind Dienstleistungsunternehmen und Online-Vermittlungsdienste wie Uber oder Lieferdienste wie Lieferando oder Gorillas.

Es erscheint naheliegend, dass betroffenen Akteur*innen nur wenige institutionalisierte Partizipationsmöglichkeiten und Gelegenheitsstrukturen für eine kollektive Interessenartikulation offenstehen. Somit ist kritisch zu reflektieren, ob sich über direkte betriebliche Partizipation hinaus alternative und subversivere Formen politischer Subjektivierung denken lassen.

„MayDay!“ – Für einen inklusiven Rahmen kollektiver Selbstermächtigung

In dieser Hinsicht lässt sich im europäischen Kontext auf das Beispiel der sog. EuroMayDay-Bewegungen für eine scheinbar „unmögliche Organisierung der möglicherweise Unorganisierbaren“ (Birkner/Mennel 2006) rekurrieren. Dieses „transnationale Bewegungsnetzwerk“ (Marchart 2013a, 26) ist auf einen MayDay-Protest am 01. Mai 2001 in Mailand zurückzuführen und hat sich seither mit pluralen Protestformen, konzentriert auf den Tag der Arbeit, auf unterschiedliche Großstädte ausgeweitet (Raunig 2008, 74).

Fluide Akteur*innenkonstellationen machen im Zuge von Demonstrationen performativ auf ihre Erfahrungen mit prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen aufmerksam. Auf diese berufen sich Akteur*innen jedoch nicht aus einer passiven Opferrolle heraus, sondern heben sie als Ausgangspunkt ihrer politischen Subjektivierung hervor (Ebd., 74 f.). Dabei betonen die Akteur*innen die Pluralität an Perspektiven autonomer Individuen sowie die Bedeutung von „identitäts- und repräsentationskritischen politischen Praxen“ (Marchart 2013a, 21). EuroMayDay-Bewegungen diskutieren politische Handlungsalternativen, die gegenüber verschiedenen Beschäftigungsformen responsiv sind, allerdings nicht darauf abzielen, „ein kollektives Subjekt der Prekären zu repräsentieren“ (Ebd., 22).

Mit ihrer politischen Selbstermächtigung versuchen Akteur*innen, den gouvernementalen Charakter von Prekarisierungsprozessen zu durchdringen, sie damit in ihren „ambivalent produktiven Momenten“ (Lorey 2012, 28) zu denken und sich Mechanismen der Selbstregierung, im Rahmen ökonomischer Ausbeutungsverhältnisse, zu verweigern.

Die Verknüpfung gegen-hegemonialer Projekte

Um sich in prekären Bewegungen ausdrückende Praktiken des Politischen theoretisch einzurahmen, scheint ein Rückgriff auf die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe eingeführte theoretische Konzeption der „Äquivalenzkette“ (Laclau/Mouffe 2000, 167) gewinnbringend. Ihre Perspektive fokussiert sich auf die Frage möglicher Gelingensbedingungen für die Konstituierung und Durchsetzung gegen-hegemonialer Projekte (Mouffe 2013, 210 f.).

Gegen-hegemoniale Bestrebungen müssen nicht auf einer geteilten, spezifischen Eigenschaft der involvierten Akteur*innen gründen. Stattdessen konstituieren sie sich über das Moment einer Äquivalenzkette, welche Anliegen unterschiedlicher politischer Projekte miteinander verknüpft, ohne dabei ihre Heterogenität aufzulösen. Die Äquivalenzkette bildet folglich die Grundlage für eine Kollaboration diverser Akteur*innen, welche sich nicht über abgegrenzte, sozio-ökonomische Klassenbegriffe vereinnahmen lassen.

Bewegungen können ihrem Anliegen darüber Wirkmächtigkeit verleihen, dass sie Machtungleichheiten und Subordinationsverhältnisse zwischen verschiedenen sozialen Gruppen offenlegen und kontestieren. Somit können sich Anliegen prekarisierter Arbeitnehmer*innen, beispielsweise mit Projekten feministischer oder migrantischer Arbeits- oder Menschenrechtsbewegungen überschneiden und sich über das geteilte Bestreben einer demokratischen Überwindung bestehender Subordinationsverhältnisse verknüpfen und reziprok verstärken. Sie gewinnen damit an demokratischem Gehalt, da sie ihre Ansprüche nicht auf eine gruppenspezifische Konfliktkonstellation beschränken, sondern sich in einen dialogischen Kontext zu den Zielen und Anliegen anderer sozialer Gruppen integrieren (Marchart 2018, 703).

Mouffes und Laclaus Perspektive zielt nicht darauf, dass sich soziale Bewegungen von bestehenden Institutionen abwenden. Stattdessen liege das Wesen gegenhegemonialer Projekte darin, dass sie danach streben, dominante Praktiken sowie Institutionen zu „disartikulieren“ (Mouffe 2013, 211). Sie müssen allerdings in einem zweiten Schritt über den bloßen Bruch mit einer Ordnung hinausweisen und eine Re-artikulation respektive demokratische Transformation bestehender Verhältnisse anstreben. Im Aspekt der Re-artikulation liegt jedoch eine voraussetzungsreiche Herausforderung für die Akteur*innen. Schließlich dürften Protestformen regelhaft auf der Stufe der Disartikulation verbleiben, sodass keine weiterführende Anknüpfung an bestehende institutionalisierte Kanäle und demokratische Verfahren gelingt.

Gegenüber dem Versuch, die Bedeutung subversiver politischer Praktiken für eine Demokratisierung von Arbeitsverhältnissen hervorzuheben, könnte ein nicht unerheblicher Einwand vorgebracht werden. In gewisser Hinsicht wird den von prekären Verhältnissen verunsicherten Individuen eine aktive Rolle und Verantwortung in der Überwindung bestehender Verhältnisse quasi oktroyiert. Dies birgt mithin das Risiko einer impliziten Heroisierung prekär Beschäftigter, deren Handlungen als vermeintlich genuin politisch gerahmt werden.

Es geht vorliegend allerdings nicht darum, die Last demokratischer Transformation alleinig auf bestimmte Akteur*innen und ihre politischen Praktiken zu projizieren. Im kritischen Bewusstsein dieser Ambivalenz besteht das zentrale argumentative Anliegen vielmehr darin, plurale Formen demokratischer Praktiken, in verschiedenen politischen Loki, in einen weiten dialogischen Kontext zueinander zu setzen.

Schluss

In verschiedenen Prekarisierungsdiskursen geraten aktive demokratische Gestaltungsmöglichkeiten von Arbeitnehmer*innen in den Hintergrund. Demokratisierungsstrategien für abhängige Lohnarbeitsverhältnisse fordern im Kontrast auf einer Mikroebene direkte Partizipationsrechte für Arbeitnehmer*innen. Eine unvermittelte Beteiligung von Arbeitnehmer*innen bedarf einer Aneignung von Zeit und Kommunikationsräumen für eine Bündelung von Wissensressourcen und eine diskursive Aushandlung kollektiver Handlungsperspektiven.

Für eine praktische Umsetzung wurde die Idee eines Arbeitsverfassungsgesetzes aufgegriffen. Dieses Gesetz könnte inhaltlich, u. a. über eine Garantie elektoraler Rechte für die Wahl höherer Führungspositionen, die Etablierung institutionalisierter Arbeitnehmer*innenräte, die Gründung von Arbeits- und Projektgruppen und schließlich ein direktes, substantielle Unternehmensentscheidungen betreffendes Partizipationsrecht, mit Leben gefüllt werden.

Es bleibt kritisch zu berücksichtigen, dass sich direkte Partizipationsrechte maßgeblich in institutionalisierten Kanälen sowie rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen entfalten, auf deren Transformation sie eigentlich abzielen. Die Rechte wären folglich in eine systemische Logik eingebettet, deren Rationalität auch die demokratischen Verfahren selbst durchziehen und die Akteur*innen mit Restriktionen belegen kann.

Von dieser kritischen Reflexion ausgehend, stellen Ansätze emanzipativer Arbeitspolitik außerhalb betrieblicher Kanäle einen wichtigen Ausdruck der Autonomie prekär beschäftigter Individuen dar. Anhand des Beispiels des transnationalen, fluiden Netzwerks der sog. EuroMayDay-Bewegungen und unter Bezugnahme auf die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe erdachte Konzeption der Äquivalenzkette wurde die Bedeutung inklusiver politischer Handlungsalternativen und Subjektivierungsformen hervorgehoben.

Dies setzt jedoch, angelehnt an Mouffe und Laclau, voraus, dass aus der Assoziation unterschiedlicher demokratischer Projekte erwachsene politische Strategien nicht im Stadium der bloßen Disartikulation bestehender Verhältnisse stagnieren. Vielmehr bedarf es einer über ihre Unterbrechung hinausweisenden Re-artikulation der kontestierten Ordnung.

Wenn Prekarisierungsprozesse und ein mit ihnen verbundener Strukturwandel der Arbeit also nicht als unvermeidbare Produkte ökonomischen Fortschritts imaginiert, sondern stattdessen als politisch konstituiert begriffen werden, eröffnen sich Perspektiven für widerständige Praktiken und Potentiale einer Transformation wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse.

 

Der nächste Beitrag von Jan Forstbauer, in dem er für eine geldtheoretische Ergänzung von politiktheoretischen Untersuchungen zur Arbeit argumentiert, erscheint am Mittwoch, den 8. Juni.

 

[1] Sofern man annimmt, dass Prekarisierungsprozesse umfassend in diverse, heterogene Arbeitsformen hineinwirken können, bedarf es einer weiten, basalen Konzeption von Arbeit. In Anlehnung an Beate Roessler kann eine Solche die Grundelemente einer Art von Einkommen, ein Muster von Arbeitszeit sowie strukturierte Arbeitsanforderungen umfassen (Roessler 2012, 71). Die vorliegende Auseinandersetzung konzentriert sich auf Erwerbsarbeit und dabei auf vertraglich regulierte, abhängige Lohnarbeitsverhältnisse.

 

Literatur

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Birkner, Martin/ Mennel, Birgit 2006: Mayday! Oder: Die unmögliche Organisierung der mög-licherweise Unorganisierbaren – eine Zwischenbilanz mit Ausblick. Online abrufbar unter: https://igkultur.at/politik/mayday-oder-die-unmoegliche-organisierung-der-moeglicherweise-unorganisierbaren-eine (zuletzt abgerufen am: 05.06.2022).

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Demirović, Alex 2006: Demokratie, Wirtschaftsdemokratie und Mitbestimmung, in: Bontrup, Heinz J./ Müller, Julia (Hrsg.): Wirtschaftsdemokratie. Hamburg: VSA-Verlag, 54-92.

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Lorey, Isabell 2012: Die Regierung der Prekären. Wien: Verlag Turia + Kant.

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Mouffe, Chantal 2013: Demokratische Politik im Zeitalter des Postfordismus, in: Marchart, Oliver (Hrsg.): Facetten der Prekarisierungsgesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag, 205-215.

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Raunig, Gerald 2008: Tausend Maschinen. Wien: Verlag Turia + Kant.

Roessler, Beate 2012: Meaningful Work: Arguments from Autonomy, in: The Journal of Polit-ical Philosophy 20: 1, 71-93.

Sattelberger, Thomas 2014: Über die Demokratisierung der Arbeitswelt, in: Rahner, Sven (Hrsg.): Architekten der Arbeit. Hamburg: Körber-Stiftung, 105-122.


Hier geht es zu den Vorbemerkungen zum Blogprojekt POLITISCHE THEORIE UND ARBEIT

 

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