Lara Kitzig: Vier Anregungen, neu über Arbeit nachzudenken (2/2) (POLITISCHE THEORIE UND ARBEIT #3)

Die Politische Theorie beginnt gerade erst damit, das Thema Arbeit für sich wiederzuentdecken. In einem kleinen Literaturreview hat Lara Kitzig Einblick in vier aktuelle Bücher zum Thema Arbeit gegeben. Heute wirft sie einen abschließenden Blick auf Themen und Perspektiven, die sich aus der Auseinandersetzung mit den Werken von Frey, Herzog, Mayer-Ahuja & Nachtwey und Graeber ergeben und die sich die Politische Theorie für ihre Forschung zum Thema Arbeit zu Herzen nehmen darf.


Arbeit – ein Ausblick für die Politische Theorie

Im gestrigen Blogbeitrag #2 wurden Carl Benedikt Freys The Technology Trap, Lisa Herzogs Rettung der Arbeit, Nicole Mayer-Ahuja & Oliver Nachtweys Verkannte Leistungsträger*innen und David Graebers Bullshit-Jobs vorgestellt und ihre Perspektiven auf Arbeit besprochen. Freys Ansatz ist die Klärung der Frage, wann Mensch und Maschine historisch in Konkurrenz um Arbeitsplätze standen und wann Maschinen Arbeitsplätze geschaffen und befördert haben. Herzog macht ein Argument dafür, die soziale Dimension von Arbeit als Teilhabe an der Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken und die Digitalisierung als Chance zu begreifen, einer demokratischeren Wirtschaftsordnung näher zu kommen. Nachtwey & Mayer-Ahuja portraitieren Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen, deren Arbeit für unsere Gesellschaften unersetzlich ist. Graeber schreibt über das Phänomen der Bullshit-Jobs und ergründet das Problem, dass ein großer Teil der westlichen, arbeitenden Bevölkerung ihre eigene Tätigkeit nicht für gesellschaftlich wertvoll oder sogar für schädlich hält.

Allein diese vier Bücher ergeben ein Mosaik an Themen, die wir berücksichtigen können, unter Umständen sogar müssen, wenn wir uns einer arbeitstheoretischen Perspektive der Politischen Theorie annähern wollen.

 

Leistung und Fairness

Durch die vier Bücher zieht sich die Frage, wie der Begriff Leistung definiert wird und welche Arten von Leistungen eine Gesellschaft benötigt, um gut florieren zu können. Frey betont die Wirtschaftlich-Machung technischer Erfindungen und eine wohlwollende Haltung politischer Eliten für den (materiellen) Wohlstand. Gleichzeitig weist er auf den Abstieg niedriger und mittlerer Einkommen hin, die großes Potenzial für soziale Unruhen bergen.

Die Frage drängt sich auf, wie sich individuelle und gesellschaftliche Leistungen gegenseitig bedingen. Herzog betont die gesellschaftliche Arbeitsteilung und sozialen Teilhabe an der Gesellschaft über Arbeit. Nachtwey und Mayer-Ahuja nennen es ungerecht, dass die unteren Klassen schlecht bezahlte Reproduktionsarbeiten übernehmen und besser Situierte dadurch frei sind, ihre Arbeitskraft in gut bezahlte wirtschaftliche Tätigkeiten zu stecken. Damit im Einklang fordert Herzog, die Wirtschaft wieder unter den Scheffel der Gesellschaft zu stellen: Wirtschaft habe dem Gemeinwohl zu dienen, denn Wirtschaft habe gesellschaftliche Voraussetzungen. Es sollen alle von ihr profitieren, was sie über mehr Demokratie in der Wirtschaft sicherstellen möchte. Mayer-Ahuja und Nachtwey stellen die Menschen anschaulich dar, die nach ihnen noch nicht genügend von der gesamtwirtschaftlichen Leistung profitieren.

Den Blick in die Zukunft hat Frey gewagt und sagt vorher, dass viele weitere un- oder niedrig qualifizierte Jobs durch Maschinen und künstliche Intelligenz ersetzt werden. Es bleibt unklar, wie viele der portraitierten Jobs dies treffen werde und was für soziale Kosten entstehen, wenn nicht mehr Menschen, sondern Maschinen bestimmte Tätigkeiten übernehmen, z.B. in Pflege, Verkauf oder Logistik. Egal, ob die Jobs bleiben oder nicht: sie leisten für uns alle. Es ist eine politische und kulturelle Frage, wie wir ihnen die angemessene Wertschätzung, Entlohnung und Absicherung geben können, die sie für ihre Leistung an der Gesellschaft verdienen.

Wenn ich einen Wunsch äußern darf, würde ich mir mehr Beachtung der kolonialen und postkolonialen Zusammenhänge mit unserem materiellen Wohlstand wünschen. Ungleich hohe Gewinne aus billiger oder kostenloser Arbeit außerhalb Europas hat schließlich massive Subventionen für Kolonial- bzw. Imperialmächte bedeutet. Durch unfaire Handelsverträge, internationale Abkommen, freien Wettbewerb und die Unterwanderung westlicher Arbeitsstandards und Arbeitsschutz bedeutet es das zum Teil auch heute noch. Reden wir über Arbeitsteilung, Fairness und Beteiligung, so können wir nicht an den nationalen oder europäischen Grenzen stehen bleiben. Diese Perspektive wird nur ganz am Rande bei Nachtwey und Mayer-Ahuja thematisiert als Arbeitsmigration. Wenn ich jedoch kritisiere, dass Wirtschaftsdemokratie für das Prekariat zu spät kommt, dann gilt dies in einem vielfach höheren Ausmaß für die Jobs und Besitzverhältnisse in anderen Ländern. (Siehe zum Beispiel Bhambra 2020, Nkrumah 1965 oder Chibber 2013, letzteres mit Review von Spivak 2014)

 

Ungleiche Gesellschaften

Worauf Herzog sowie Nachtwey und Mayer-Ahuja schauen, sind zutiefst ungleiche Gesellschaften. Herzog hat das Argument stark gemacht, dass in ungleichen Gesellschaften die Gefahr steige, dass Menschen wirtschaftliche Tauschbeziehungen als unfair oder ungleich wahrnehmen. Wenn also Verträge geschlossen werden, bei denen von Beginn an einige an längeren Hebeln sitzen als andere:

„Kann ich jemandem vertrauen, der in extrem kurzfristiges Denken gedrängt wird, weil sein eigenes Einkommen an kurzfristig gemessenen, von Algorithmen verrechneten Indikatoren hängt, die mit guter Arbeit kaum etwas zu tun haben? Kann ich jemandem vertrauen, der nichts zu verlieren hat, weil er das Gefühl hat, wenn der nächste Deal nicht klappt, stürzt er sowieso ab?“ (Herzog 2019, 183–184)

Es liegt nahe zu denken, dass Menschen, die sich unfair behandelt fühlen, weniger bereit sind oder gar die Möglichkeit haben, sich an Abmachungen und Regeln zu halten. Zum einen haben sie manchmal nicht die Wahl „Nein“ zu sagen, wenn es um ihre Existenz geht und es ihnen an Alternativen mangelt. Andererseits haben sie vielleicht gerade wegen unfairer Verträge und gleichzeitiger Existenznot keine andere Wahl als zu betrügen. Steigender Kontrollaufwand auf der anderen Seite wäre eine logische Folge dieser Dynamik. (Herzog 2019, 184)

 

Jobs im „Kontrollsektor“?

Sind die Jobs mit „kontrollierender“ Natur die, über die Graeber berichtet? Jobs, deren Inhaber*innen teilweise behaupten, keinen Mehrwert für die Gesellschaft zu bieten oder sogar schädlich zu seien? Bei Graeber habe ich bemängelt, dass mir am Ende seines Buches eine überzeugende Ursache für das (vermeintlich) gesellschaftliche Problem der Bullshit-Jobs fehlt. Herzog hingegen bietet in meinen Augen eine interessante These dafür an: Der sich ausweitende Sektor der Management- und Verwaltungsjobs könnte daraus resultieren, dass Vertrauen zurück geht und deswegen von Unternehmensseite vermehrt auf Kontrolle gesetzt wird.

Diese Kontrolle werde ausgeübt durch Bullshit-Jobs: Gut bezahlte Jobs in Management und Verwaltung, in denen Zeit, Geld und Energie in die Kontrolle von Vertragsbeziehungen gesteckt werde (Aufgabenverteiler, Kästchenankreuzer und Schläger). Jobs, die um den Willen der Profitsteigerungen täuschen und blenden, weil man Vereinbarungen allein nicht mehr vertrauen kann (Lakaien und Schläger). Jobs, die nicht auf langfristige Investitionen und Stabilität ausgerichtet sind, sondern kurzfristig und günstig Probleme überbrücken sollen, um kurzfristige Gewinne zu ermöglichen (Flickenschuster). Was würden eine solche Entwicklung und schwindendes Vertrauen für die Zukunft von Gesellschaften und Demokratien bedeuten?

 

Wer von Automatisierung betroffen ist – und wer nicht

In einer anekdotischen Beschreibung in Graebers Buch schlug ein Bankmitarbeiter einem Manager*innengremium Maßnahmen vor, die die Arbeit von etwa 80 % des vor ihm sitzenden Gremiums überflüssig gemacht hätte. (Graeber 2018, 255-258) Nach Herzog läge die Entscheidungsgewalt über den Einsatz neuer Technologien in der Arbeit heute bei einer Handvoll Manager*innen großer Unternehmen, (Herzog 2019, 100–142) nicht mehr wie noch bei Frey bei den politischen Eliten, die sich vor der ersten industriellen Revolution zu ihrem eigenen Vorteil auf die Seite des technischen Fortschritts gewechselt hätten. (Frey 2019, 138)

Könnte es in Zukunft einen neuen Widerstand gegen Automatisierung und Digitalisierung aus der Wirtschaft selbst geben, wenn die wirtschaftlichen Entscheidungsträger*innen zunehmend über die Ersetzung ihrer unterstellten Manager*innen oder gar ihrer eigenen Arbeit entscheiden müssten? Könnten Wirtschaftseliten gesellschaftlich sinnvolle, aber (für sie selbst) unprofitable Entwicklungen ausbremsen oder gar verhindern? Oder würden sich Neuerungen doch irgendwann von höchster Chef*innenetage aus durchsetzen, den sich aufblähenden Bereich der Verwaltungs- und Management-Tätigkeiten wieder drastisch reduzieren und Graebers Phänomen der Bullshit-Jobs verschwinden lassen?

 

Ende gesellschaftlich relevanter, technischer Innovationen

Bei Graeber bin ich über die These gestolpert, dass zunehmend Profite aus Krediten und Schulden statt aus tatsächlicher Produktion oder Dienstleistungen gewonnen würden. (Graeber 2018, 259) Ähnliches schrieb auch Nachtwey (2016, 52) in Die Abstiegsgesellschaft, um den aufsteigenden Neoliberalismus zu beschreiben: Das Volumen der auf den Finanzmärkten getätigten Transaktionen überträfe die Umsätze auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten schon lange um mehr als den Faktor 100. Selbst Automobilkonzerne seien zu Banken mit angeschlossener Automobilproduktion geworden. (Deutschmann 2013, zitiert nach Nachtwey 2016, 60) Es hätte sich ein Wandel vollzogen von der Formel G-W-G (Geld führt zu Waren, Waren führen zu mehr Geld) zu G-G (Geld führt zu mehr Geld) (Nachtwey 2016, 52–53).

Wäre dies der Fall und die Beispiele ein tatsächlicher Trend, so würden technische Innovationen, gerechtfertigt dadurch, dass sie das Leben der Menschen materiell erleichterten, als Profitquelle mehr und mehr wegfallen. Die wirtschaftlichen Eliten würden dann die Rolle als Treiber technischer Innovationen mehr und mehr aufgeben und eine Leerstelle hinterlassen. Wollen wir als westliche Gesellschaft also in Zukunft technischen Fortschritt, so müssten wir diese Aufgabe von der Wirtschaft wieder zurück auf die Politik übertragen und das Herrschaftsverhältnis zwischen Wirtschaft und Politik, das sich nach Freys Lektüre scheinbar maßgeblich aus technischem Fortschritt, materiellem Wohlstand und Steuereinnahmen auf Profiten heraus ergeben hat, grundlegend neu verhandeln.

 

Der nächste Beitrag erscheint am kommenden Montag, den 6. Juni, von Lukas Schilling unter dem Titel Verunsicherte Arbeit – Demokratisierung als Ausgang aus der Prekarität.

 

Literaturverzeichnis

Bhambra, Gurminder K. (2020): Colonial global economy: towards a theoretical reorientation of political economy. In: Review of International Political Economy 28 (2), S. 307–322. DOI: 10.1080/09692290.2020.1830831

Chibber, Vivek (2013): Postcolonial Theory and the Specter of Capital. London: Verso.

Frey, Carl Benedikt (2019): The technology trap. Capital, labor, and power in the age of automation. Princeton, Oxford: Princeton University Press.

Graeber, David (2018): Bull Shit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart: Klett-Cotta.

Herzog, Lisa (2019): Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf. München: Hanser Berlin.

Mayer-Ahuja, Nicole; Nachtwey, Oliver (Hg.) (2021): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft. Berlin: Suhrkamp.

Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp.

Nkrumah, Kwame (1965): Neo-Colonialism. The Last Stage of Imperialism. New York: International Publishers.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2014): Postcolonial theory and the specter of capital. In: Cambridge Review of International Affairs 27 (1), S. 184–198. DOI: 10.1080/09557571.2014.877262


Hier geht es zu Teil 1/2 des Beitrags von Lara Kitzig

Und hier zu den Vorbemerkungen zum Blogprojekt POLITISCHE THEORIE UND ARBEIT

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