Der erste Außenpolitiker am Institut. Otmar Höll über Hans-Peter Schwarz

Hans-Peter Schwarz (1934-2017) war nach Siegfried Landshut und Wilhelm Hennis der dritte Inhaber eines Lehrstuhls für die „Wissenschaft von der Politik“ an der Universität Hamburg. Insgesamt acht Jahre, von 1966 bis 1974, forschte und lehrte er in der Hansestadt, als erster Professor befasste er sich explizit mit Phänomenen der Außenpolitik und der Internationalen Beziehungen. In diesem Beitrag schaut Otmar Höll auf das jahrzehntelange politikwissenschaftliche und zeithistorische Wirken von Hans-Peter Schwarz zurück, in diesem Fundstück haben wir bereits ein Schlaglicht auf seine Zeit in Hamburg geworfen.

Otmar Höll (*1948) war Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip), außerdem seit 1981 Gastprofessor und Dozent an der Universität Wien, an der Donau Universität Krems und an ausländischen Universitäten. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte sind globale Probleme der Außen- und Sicherheitspolitik und der politischen Psychologie.


Eine posthume Würdigung des weit über den deutschsprachigen und europäischen Raum hinaus bekannten Politikwissenschaftlers, Historikers und Publizisten Hans-Peter Schwarz aus der etwas distanzierten österreichischen Sicht trägt in sich wohl ein gewisses Odium mangelnder Kenntnis der Person, seines Werkes und, daraus resultierend, möglicher Fehleinschätzungen. Hans-Peter Schwarz‘ Leistungen und seine zweifellos enorme Bedeutung für die deutsche Politik- und Geschichtswissenschaft sind tatsächlich hierzulande nur einem beschränkten Kreis bekannt. Daraus folgt, dass die hier vorgelegte Würdigung verkürzt und unvollständig sein wird. Ich habe zudem Hans-Peter Schwarz, im Gegensatz zu einigen seiner Kooperationspartner, nie persönlich kennengelernt und bin auch nur punktuell mit seinem Wirken vertraut. Dies erklärt sich einerseits aus meiner Zugehörigkeit zur österreichischen politologischen „Szene“, die sich, anders als in Deutschland, mehrere Jahrzehnte später, erst in den 1970er Jahren langsam als universitäre, akademische Disziplin  etablieren konnte, und andererseits aus meinem Forschungsfokus auf die Teildisziplin „Internationale Politik-IP“. Die österreichische Politikwissenschaft, und das trifft auch auf den Bereich der „IP“ zu, kann bis heute eine gewisse Randständigkeit, man könnte auch sagen Abhängigkeit von der sowohl breiter als auch spezialisierter aufgestellten Forschungs- und Publikationslandschaft im westlichen Nachbarland nicht verleugnen. Auch ist und war die Disziplin IP seit der Gründung erster Institute und Journals in New York und London kurz nach Ende des 1. Weltkriegs stark angelsächsisch geprägt, was auch in der erst nach 1970 im Aufbau befindlichen, leicht überschaubaren österreichisch IP-Gemeinde bis heute Spuren hinterlassen hat. So waren Forschungsaufenthalte, Konferenzteilnahmen und die Einbindung in die anglo-sächsisch dominierten Institutionen und Netzwerken (Universitäten, Institute, die ECPR, die ISA, etc.) häufiger angestrebte Ziele österreichische „Internationalisten“ als jene des nähergelegenen deutschen Nachbarlandes. Dennoch bleibt Deutschland für die österreichische IP-„Forschungsszene“ als Referenzrahmen bedeutsam und, wenn teils auch widerwillig, wurden Entwicklungen und Personen der deutschen Politikwissenschaft hierzulande immer wieder zumindest fallweise rezipiert.

Ein solcher „Fall“ war sicherlich für einige der damals jungen, zeitgeistig kritischen, und nach internationaler Orientierung ausschauhaltenden österreichischen NachwuchswissenschaftlerInnen Hans-Peter Schwarz. Er und mit ihm der wiederholt neben Schwarz als Mitherausgeber bedeutender Sammelbände fungierende Karl Kaiser waren inhaltlich-analytisch schon deshalb so attraktiv für uns junge WissenschaftlerInnen, weil sie, anders als viele ihrer damals noch bekannteren, jedoch im Mainstream beheimateten KollegInnen, eine durchaus neue, ungewöhnliche, aber kreativ-innovative Forschungsperspektive vertraten. Über einen langen Zeitraum verteilt waren die von beiden veröffentlichten Beiträge von ähnlichen Grundprämissen getragen, und waren in Werthaltung und analytischen Perspektiven auf die globale, europäische und nationale Politik (besonders der BRD) im methodischen Design überraschend ähnlich. Bereits in seinen Hamburger Jahren, vor allem den den 1970er Jahren, also zu einem recht frühen Zeitpunkt, waren die Beiträge Hans-Peter Schwarz‘ und Karl Kaisers getragen von einem interdependenztheoretischen, heute könnte man auch sagen systemischen Ansatz, in dem die Wechselwirkungen zwischen Staaten in ihrer Verflechtung, aufeinander Bezogenheit und wechselseitigen Abhängigkeit – also Interdependenz – verstanden und analysiert wurden. Die von VölkerrechtlerInnen normativ hochgehaltene national-staatliche „Souveränität“ in ihrem außen- und sicherheitspolitischen Handeln zweifelten beide an. Auf diese Rolle von Schwarz für die Disziplin IP, v.a. seine Beiträge zur internationalen Außen- und Sicherheitspolitik, werde ich mich hier auch im Wesentlichen beziehen.

Schon in den 1970er Jahren war Schwarz als politischer Denker und Analyst mit besonderer Affinität zur deutschen, europäischen und internationalen Politik bekannt und geschätzt, und er zählte schon in seinen frühen Jahren zu den angesehensten deutschen Zeithistorikern. Bereits im Jahr 1975, als Hans-Peter Schwarz erstmalig als Herausgeber des Handbuchs zur deutschen Außenpolitik fungierte, stellte er die enge Verflechtung zwischen Innen- und Außenpolitik als typisch und spezifisch für die damalige internationale Konstellation dar. Auch deutsche Politik war aus seiner Sicht funktional von den sich verändernden internationalen Konstellationen abhängig. Besonders in seinem Handbuchartikel Die Bundesregierung und die auswärtigen Beziehungen kommt diese damals noch ungewöhnliche Perspektive besonders klar zum Ausdruck, wenn Schwarz in seiner Analyse der Bedeutung institutioneller politischer Strukturen sehr ausführlich über das Verschwimmen der Unterscheidung zwischen Außen- und Innenpolitik spricht. Hier kommt eine, aus damaliger Sicht lange verloren gegangene Perspektive wieder zum Tragen, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem einflussreichen britischen Journalisten und Historiker Norman Angell vertreten wurde und zu dessen Zeit auf große Resonanz stieß. Aber durch die beiden kurz aufeinander folgenden Weltkriege und dem damit verbundenen ideologischen Rückfall in bereits überwunden geglaubten, zu den bekannten Gewaltexzessen führenden nationalistischen Wahn waren Angells optimistische Perspektiven widerlegt worden und dann über einen längeren Zeitraum gemieden, ja nahezu in Vergessenheit geraten. Erst bei Joseph Neys und Robert Keohanes richtungsweisenden Publikationen zur „komplexen Interdependenz“ des globalen Staatensystems der Zeit nach den 1960er Jahren wurde diese Perspektive zum neuen „Paradigma“, Hans-Peter Schwarz hatte sie gewissermaßen vorweggenommen.

Ohne dem zeitgeistig neo-marxistisch-linken „Lager“ anzugehören, waren Hans Peter Schwarz‘ Analysen von einer größeren, systemischen Perspektive durchdrungen. Er verstand nationale Politik als eingebettet in das europäische und darüber hinaus in das globale internationale System und somit in konstitutiver Wechselwirkung – bedingt durch die schon damals zunehmend komplexe Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik, Gesellschaften und Staaten. Während der „Mainstream“ deutschsprachiger internationaler Forschung, nicht zuletzt auch in Österreich, stark von VölkerrechtlerInnen dominiert war, die von einer starren national-etatistischen, traditionell macht- und interessengeleiteten Perspektive für außenpolitische Entscheidungen ausgingen, waren die Referenzrahmen für Autoren wie Schwarz nicht mehr durch die engen analytischen Grenzen von nationaler Innen- und Außenpolitik begrenzt. Eine für das damalige konventionelle Verständnis von Politik, das weiter scharf zwischen Innen- und Außenpolitik unterschied, provokante, beinahe revolutionäre Sichtweise.

Hans-Peter Schwarz, im Jahr 1934 geboren, zählte – neben den aus dem Exil zurückgekehrten Vertriebenen – auch zur ersten Generation deutscher PolitikwissenschaftlerInnen der Nachkriegszeit, die ihre Distanzierung zu den Ideen und der Politik des Nationalsozialismus deutlich und glaubhaft machen konnten. Als Politikwissenschaftler und Zeithistoriker befasste sich Hans-Peter Schwarz im Rahmen seiner Forschungsarbeiten auch dann, wenn er sich mit der jüngeren nationalen deutschen Geschichte auseinandersetzte, mit ihren internationalen Bezügen, die sporadisch auch Österreich betrafen. Innen-, Außen- und Deutschlandpolitik, wie auch die wechselvollen Entwicklungen in Europa und innerhalb der internationalen Ordnung sowie die Rolle der politischen Akteure und Parteien standen zumeist im Zentrum seines kritischen Interesses. In seinem epochemachenden Werk Vom Reich zur Bundesrepublik – Deutschland im Widerstreit der außenpolitischen Konzeptionen in den Jahren der Besatzungsherrschaft 1945–1949 (veröffentlicht in seinem ersten Hamburger Jahr 1966) setzte sich Hans-Peter Schwarz mit den strukturellen Anpassungszwängen im westlichen Nachkriegsdeutschland im Konnex mit den für die Entwicklung der BRD relevanten außenpolitischen Konstellationen auseinander. Und er kritisierte nicht selten die Rolle deutscher PolitikerInnen, wenn diese die sich aufgrund neuer internationaler Konstellationen ergebenden Möglichkeiten und Herausforderungen für die Innen- und Außenpolitik nicht mutig genug aufgriffen. Dies tat er wiederholt: 1985 provozierte er mit seinem an die deutsche Politik gerichteten Vorwurf der „Machtvergessenheit“ einer scheinbar „gezähmten“ deutschen Politik, und später beschrieb er Mitte der 1990er Jahre Deutschland wohl zu Recht als die „Zentralmacht Europas, […] die ihrer Bestimmung nicht entgehen“ könne. Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht in Europa und wohl auch im globalen Maßstab verpflichteten aus seiner Perspektive auch zu erhöhter politischer Verantwortung, ja vielleicht auch da und dort zur Führung. Ein Wort, dass in Deutschland, verständlicher Weise, nur ungern gehört und schon gar nicht ausgesprochen wird.

Zeit seines langen und aktiven wissenschaftlichen und publizistischen Lebens fühlte sich Schwarz verpflichtet, neue, sich entwickelnde Dynamiken und Strukturen des internationalen Systems und der Politik aufzuzeigen, und den Streit um das bessere Argument in wissenschaftlichen Kontroversen nicht zu scheuen. Darunter waren auch immer wieder provokante Denkanstöße in Bezug auf sich abzeichnende neue global- und sicherheitspolitische Trends, was Schwarz nicht allein US-amerikanischen WissenschaftlerInnen überlassen wollte. Nur zu oft wurden Neuinterpretationen und Vorschläge amerikanischer KollegInnen in Europa allzu geflissentlich und unhinterfragt übernommen, etwa wenn jene vom „Ende der Geschichte“, vom bevorstehenden „Kampf der Kulturen“, oder von „Kampf der Imperien um die Zweite Welt“ redeten. Schwarz wollte nicht zuletzt nach dem Ende des Kalten Krieges die neu entstandenen Perspektiven und Dimensionen nationaler bis globaler Sicherheitspolitik aufzeigen und die neu entstandenen Herausforderungen für sicherheitspolitische Planung und wirtschaftlich-politische Orientierung auch, wenn nötig, widerstreitend diskutieren. Mit den Jahren 1989/90 war aus seiner Sicht die „alte“ internationale Ordnung zu Ende gegangen, eine neue aber nicht geschaffen worden. Die Zukunft sowohl der deutschen wie auch der europäischen und internationalen Sicherheitspolitik müsse unter den so tiefgreifend veränderten Rahmenbedingungen neu überdacht, neue Strategien vorgeschlagen und gestaltende Maßnahmen wenn möglich zumindest im europäischen Rahmen gesetzt werden.

Diese und andere neue Fragen an die internationalen Rahmenbedingungen nach dem Ende des Kalten Kriegs mit den neuen Bedrohungsbildern und Problemen, die der politischen Aufarbeitung bedurften, wurden von ihm und Karl Kaiser nicht zuletzt im gemeinsam veröffentlichten Sammelband Weltpolitik im neuen Jahrhundert (2000) analysiert. Zusammen mit den wohl renommiertesten AutorInnen Deutschlands betrachteten sie – nach 1985 und 1995 zum dritten Mal – die nunmehr so tiefgreifend veränderten globalen Strukturen und Entwicklungstendenzen internationaler Politik. Als prägend neuer Faktor der Entwicklung wird von den Herausgebern die globale Entwicklungsdynamik hin zu einem internationalen “System der Globalisierung” herausgestellt. In diesem Werk, das neben überarbeiteten und aktualisierten Beiträgen des Sammelbandes von 1995 auch einigen völlig neue  Arbeiten enthalten sind, beschäftigt sich der Beitrag von Hans-Peter Schwarz nicht zufällig mit den „Ausgangsbedingungen der Welt von gestern“: So wenig Schwarz die Vergangenheit als lineare Fortschreibung des Gewesenen in die Zukunft verstanden hat, so verstand er stets die lernbereite Reflexion der Vergangenheit als Schlüssel und diese als prägend, um Gegenwart und Zukunft mit neuen politischen Entscheidungen sinnvoll gestalten zu können.

In diesem Sinne veröffentlichte er 2008, aus Anlass des im Jahr darauf anstehenden 60. Jahrestages der Gründung der Bundesrepublik den Sammelband Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren. In ähnlicher Weise wie schon 1966 Jahren wird ein Resümee bundesrepublikanischer Geschichte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nun bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts gezogen. In drei Abschnitten werden längsschnittartig wichtige geschichtliche Ereignisse, die Veränderung im institutionellen Gefüge der Republik und zentrale Themenfelder kritisch und bilanzierend nachgezeichnet. Zwei überaus beachtenswerten Beiträge, am Beginn von Hans Peter Schwarz selbst über 100 Jahre deutscher Jubiläumsbilanzen, und am Ende von Peter März über den Ort der Bundesrepublik in der deutschen Geschichte, rahmen die mit großem Verständnis für die diversen Zusammenhänge getätigte Verortung der deutschen Geschichte in den facettenreichen internationalen Kontexten des letzten Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt war Hans Peter Schwaz schon nahezu ein Jahrzehnt emeritiert, seiner Leidenschaft zu schreiben und zu kommentieren tat dies aber auch in den Jahren danach keinen wesentlichen Abbruch.

Hans Peter Schwarz war Zeit seines Lebens nicht nur ein gefragter und hoch geschätzter wissenschaftlich-politischer Sachautor, er war auch als Kommentator und politischer Berater gerne gelesen und gehört. In der Erinnerung der wissenschaftlichen Peers wird er wohl in erster Linie als kritischer und expressiver Beobachter deutscher gesellschaftspolitischer Realität und Befindlichkeit in einer zuerst langsam, dann sich immer schneller verändernden Welt bleiben. Und es sind überdies seine biografischen Werke über zentrale Persönlichkeiten deutscher Politik und seine dicken Bände über deutsche und internationale Politik, insbesondere die Arbeiten zu Außen- und Sicherheitspolitik, die noch lange aus dem Gesamtwerk herausragen werden. In seinen Einschätzungen und Wertungen von Personen und deren Entscheidungen hielt er sich nie mit Kritik zurück. Es war sein bemerkenswerter Stil, aktuelle Problemen beim Namen zu nennen und nicht selten mit unkonventionellen, aber weitsichtigen Ideen und Einschätzungen produktiv zu provozieren. Schwarz war insbesondere aber ein stets unabhängiger Beobachter und Analyst, der durchaus auch die Nähe zu den Mächtigen seiner Zeit suchte, und sich dennoch nicht an irgendwen oder -was anpasste, und seine Überzeugungen immer offen legte. Mit seinem Tod im Jahr 2017 hat die deutschsprachige und darüber hinaus die internationale Politikwissenschaft einen wahrhaft Großen ihrer Zunft verloren, dessen Werk aber wohl lange Bestand haben wird.

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