Andreas Grimmel über Christine Landfried: Das politische Europa – Differenz als Potential der Europäischen Union (2002)

Christine Landfried lehrte von 1991 bis 2014 Vergleichende Regierungslehre am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Mit ihrem vielbeachteten Werk zur Europäischen Union, das inzwischen in der dritten Auflage erscheint, widmet sie sich einem lange vernachlässigten und zugleich hochaktuellen Thema: den Potenzialen von Differenz im politischen Prozess der europäischen Integration.

Andreas Grimmel ist Forschungsdirektor am Institute for European Integration des Europa-Kollegs in Hamburg und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Philosophie hat er im Jahr 2012 mit einer Arbeit über die „Europäische Integration im Kontext des Rechts“ in Hamburg (Wiesbaden: Springer VS, 2014) promoviert.


Die tiefgreifenden Herausforderungen und krisenhaften Verdichtungen politischer Probleme, mit denen sich die Europäische Union (EU) derzeit konfrontiert sieht, erfordern vermehrt auch politikwissenschaftliche Studien und Ansätze, die nicht nur Erklärungen anbieten, sondern perspektivisch auch Lösungsmöglichkeiten für die sich stellenden Aufgaben entwerfen. Mit ihrem im Jahr 2002 bei Nomos erstmals veröffentlichten Werk (2. Auflage, 2005; 3. Auflage im Erscheinen) „Das politische Europa“ hat Christine Landfried eine eben solche anspruchsvolle wie auch praxisorientierte politikwissenschaftliche Studie vorgelegt, deren Lektüre mit Blick auf den Brexit, den Aufstieg europafeindlicher Parteien, die ökonomischen Ungleichgewichte, die politische Uneinigkeit und den offensichtlichen Wertedissens in der EU (zumindest in der europapolitischen Praxis) aktueller denn je erscheint.

Das Werk widmet sich dabei mit der im Mittelpunkt stehenden Frage nach dem „Potenzial von Differenz“ einem auf den ersten Blick widersprüchlich anmutenden Themenkomplex, da Differenzen in der EU eine geradezu dominierende und in Teilen auch destruktive Rolle einzunehmen scheinen. Ist es denn nicht gerade die allenthalben sichtbar werdende Differenz politischer Interessen, die das Projekt der europäischen Integration in eine kritische Lage gebracht hat? Und sind es nicht gerade auch die immer schärfer konturierten Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten, die inzwischen in Richtung einer Ever-Looser-Union wirken?

Christine Landfrieds „politisches Europa“ ist freilich noch in einer anderen Phase der europäischen Integration entstanden, als in dem krisenbeladenen Entwicklungsabschnitt, den wir heute erleben und der alte Erklärungsmuster im Lichte von allgegenwärtiger Differenz zunehmend hinterfragt. So war nach dem „Neustart“ des Integrationsprozesses Mitte der 1980er Jahre, vor allem durch die Initiative der Delors-Kommission, eine für europäische Gemeinschaftspolitik geradezu rasante Vorwärtsbewegung im Integrationsprozess auszumachen: auf den Vertrag von Maastricht (1992) folgten schon bald der Vertrag von Amsterdam (1997) und der Vertrag von Nizza (2001) und schließlich auch der Verfassungsvertrag (2004), der die Grundlage für den Vertrag von Lissabon (2007) darstellte.

Auch wenn nicht jeder dieser Verträge fundamentale Neuerungen brachte, sondern eher zu einer Konsolidierung und Reformierung der politisch-institutionellen Ausgestaltung, aber auch der Rechtsgemeinschaft führte, so war es rückblickend verfrüht, hieraus eine neue und fast ungebremste Dynamik abzuleiten, die den Integrationsprozess fortan prägen sollte – wie einige Beobachter dies taten. Das Scheitern des Vertrags über eine Verfassung für Europa in zwei Referenden (in Frankreich und in den Niederlanden, beide im Jahr 2005) zeigte nicht zum ersten Mal, dass es so etwas wie einen Automatismus der Integration – wie es in Teilen der Integrationstheorie vermutet wurde – jedenfalls im politischen Europa nicht gibt und der Umgang mit Differenz, den Landfried in ihrem Buch herausstellt, weiterhin ein entscheidender Faktor für den Fortgang der Integration ist.

Knapp zwanzig Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage des Bandes ist die darin zum Ausgangspunkt genommene Hypothese heute wieder hochrelevant: „Ein demokratischer und kommunikativer Umgang mit Differenz bei der Vorbereitung und der Umsetzung von Entscheidungen, so die Annahme, trägt zu einem höheren Maß an Steuerungs- und Problemlösungsfähigkeit bei als ein nichtdemokratischer und nichtkommunikativer Umgang mit Differenz.“[1] Denn die Frage, wie sich ein demokratischer und kommunikativer Umgang mit Differenz erfolgreich gestalten lässt, ist keinesfalls eine Randbedingung für gelingende Integration; und sie ist weder abschließend geklärt, noch abschließend zu klären (auch wenn dies allenthalben in politischen Debatten nahegelegt wird). Denn die europäische Integration ist ein Prozess, der ständige Anpassungen verlangt. Diese Anpassungen sind im Wesentlichen solche, die aus Differenz(en), aber eben auch den nicht vorhersehbaren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen hervorgehen bzw. durch diese erforderlich werden.

In der jetzt erscheinenden dritten Auflage von „Das politische Europa“ werden zudem Interviews publiziert, die Christine Landfried und ihre Mitarbeiter, Kolja Raube und Annika Sattler, in mehreren Reisen nach Brüssel geführt haben und die in der Zeit der Tagungen des Verfassungskonvents entstanden sind. Diese Gespräche sind weit mehr als eine wertvolle und einsichtsreiche Momentaufnahme des damaligen Verfassungsprozesses und der damit eingeführten demokratisch-kommunikativen Neuerungen. Zugleich und darüber hinaus, so Landfried in dem Vorwort der neuesten Auflage ihres Buches, könnten diese Gespräche schließlich auch über den näheren Zusammenhang des zwischen 2002 und 2003 zusammengetretenen Verfassungskonvents Einsichten in den Wert eines solchen Modells für die Lösung der sich aktuell stellenden Herausforderungen bieten. Dies gilt vor allem, weil eine Änderung der Verträge im Lichte eben dieser Herausforderungen unabdingbar geworden sei und eine erneute Einberufung eines Konvents naheliege, der allerdings aus den Fehlern seines Vorgängers lernen müsse.

Es ist das entscheidende Verdienst von Christine Landfrieds „Das politische Europa“, die Frage nach dem Potenzial von Differenz in den Fokus des europawissenschaftlichen Diskurses zu rücken und nicht nur theoretisch, sondern vor allem auch empirisch in den neun Kapiteln des Bandes zu fundieren. So wird durch die von ihr analysierten Politikfelder und Institutionen deutlich, dass Differenz letzen Endes nicht als ein Problem oder jedenfalls politisches Hindernis zu betrachten ist – z. B. in den Abstimmungen der europäischen Institutionen, bei denen es gilt Mehrheiten oder gar Einstimmigkeit zu erzielen. Viel eher sind die Unterschiede, die sich in der EU in Differenzen der Ideen, Interessen oder auch Problemwahrnehmungen manifestieren, der Ausgangspunkt für die stetige Abstimmung und Annäherung, die sich im politischen Prozess vollzieht und die als kreatives Element im Umgang mit Problemen und für gesellschaftliches Lernen[2] verstanden werden sollen. So gilt die von Christine Landfried entworfene Zielvorstellung für das politische Europa weiterhin uneingeschränkt, nämlich, „auf der Basis eines soliden Binnenmarktes mit Phantasie und in demokratischer Kommunikation über Differenz ein soziales, ökologisch verantwortungsbewußtes, kulturell vielseitiges und außenpolitisch handlungsfähiges Europa zu entwickeln“.[3]


[1] Landfried, Christine 2005: Das politische Europa – Differenz als Potential der Europäischen Union (2. Auflage), Baden Baden: Nomos, S. 15.

[2] Ebd.: S. 393.

[3] Ebd.: S. 23.

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