Franziska Goebel über Amrita und Aruna Narlikar, Bargaining With A Rising India (2014)

Amrita Narlikar ist Präsidentin des in Hamburg angesiedelten GIGA Instituts und Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Hamburg. Sie hat in Oxford promoviert und als Reader für Internationale Politische Ökonomie an der Universität Cambridge gearbeitet. Narlikar hat zahlreiche Bücher und Aufsätze zu den Themen Welthandel, aufstrebende Mächte und multilaterale Verhandlungen veröffentlicht. In „Bargaining with a Rising India“, erforscht Amrita Narlikar gemeinsam mit ihrer Mutter Aruna Narlikar, einer Expertin für indisches Sanskrit, die kulturellen Wurzeln indischen Verhandlungsverhaltens.

Franziska Goebel studiert im Master Politikwissenschaft an der Universität Hamburg.


Die Forschungsfrage von Narlikar und Narlikar lautet: In welchem Maß spiegelt Indiens Verhandlungsverhalten als aufstrebende Macht kulturelle Kontinuitätslinien wider?[1]  Die zu erklärende Variable besteht also in Indiens außenpolitischem Verhandlungsverhalten, das von internationalen Verhandlungspartnern als einzigartig im Sinne von zögerlich, moralisierend, stur und ganz allgemein als „schwierig“ bezeichnet wird [9].

Während sich früher die dominanten global player des Westens über den widerspenstigen Neinsager des asiatischen Kontinents mit einem bloßen Schulterzucken hinwegsetzen konnten, wurde Indien im Verlauf der letzten Jahrzehnte als eine der bevölkerungsreichsten Wirtschaftsmächte so einflussreich, dass der Erfolg internationaler Verhandlungen maßgeblich von der indischen Kooperationsbereitschaft abhängt. Erfolgreiches Verhandeln mit Indien, so konstatieren die Autorinnen, wird eine Welt schaffen, die multipolarer, pluralistischer und stabiler ist. Scheiternde Verhandlungen hingegen führten zu wachsender Instabilität des internationalen Systems [20]. In dieses Spannungsfeld tritt „Bargaining with a Rising India“ als vermittelndes Handbuch zwischen Indien und der internationalen Gemeinschaft, indem es sich zum Ziel setzt, kulturelle Verhandlungstraditionen zu analysieren und das Verständnis für das heutige Verhandlungsverhalten Indiens zu schärfen [20]. Dieses Unterfangen impliziert die Diagnose, dass das indische Verhandlungsverhalten „erklärungsbedürftig“ im Sinne von normabweichend ist, womit sich die Autorinnen mit der Frage konfrontiert sehen, ob nicht ebenso das Verhandlungsverhalten der westlichen Industrienationen als etablierte Norm hinterfragt werden sollte.  Dieser Kritik eilen Narlikar und Narlikar voraus, indem sie argumentieren, dass es nicht die Absicht des Buches sei, normative Ratschläge zu geben „on how India should negotiate“, dass sie sich also von jeglicher „Soll-Dimension“ distanzieren, die man aus der Analyse ableiten könnte [20]. Allerdings löst dieser vorangestellte „disclaimer“ nicht die Frage nach der Legitimität der etablierten Verhandlungsnormen internationaler Institutionen. Vielmehr verstärkt es die Legitimität der vorgefertigten Entscheidungsstrukturen, indem Indiens neues Störpotenzial als ebensolches identifiziert wird, als störend.

Auf einem Spektrum zwischen distributiver und integrativer Verhandlungsstrategie lokalisieren die Autorinnen Indien weit am distributiven Ende, das heißt, dass der eigene Verhandlungserfolg vom Verlust des Gegenübers abhängt. Die optimale Vorstellung eines „Win-Win“- Verhandlungsergebnisses, bei dem alle Parteien dazugewinnen, ist somit außen vor. Die distributive Strategie mache sich problemunabhängig in den meisten Bereichen internationaler Verhandlungen bemerkbar. Beispielsweise verweigerte Indien im Zuge der Verhandlungen um das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) in den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts jegliche Zugeständnisse, ebenso bei der Uruguayer Verhandlungsrunde zum Welthandel, bei Vertragsaushandlungen zum Kampf gegen den Klimawandel oder im Bereich nuklearer Abrüstungsverträge [26].

Die literarische Analyse beruht auf dem traditionellen Sanskrit-Epos „Mahabharata“, das allgemeinhin mit dem Begriff des Krieges übersetzt wird, aber nach Auffassung der Autorinnen im gleichen Maß eine Epik des Verhandelns umfasst [6]. In vier Kapiteln wird das Verhandlungskonzept anhand von vier Kategorien analysiert: der Verhandlungsstrategie, der Art des „Framings“, den Koalitionsbildungen und anhand des Faktors Zeit.

Anhand von zahlreichen Geschichten aus dem Mahabharata demonstrieren Narlikar und Narlikar die traditionellen Wurzeln der distributiven Verhandlungsstrategie, die sich unter anderen durch hohe Startforderungen, unflexible Positionen und einer hohen „no-deal“ Bereitschaft auszeichnet [31]. So handelt eine Geschichte von einem König, der sich in die Tochter eines Fischers verliebt. Diese darf er allerdings nur heiraten, wenn der König verspricht, dass der Nachkomme der beiden ein Recht auf die Thronfolge hat und nicht der bereits existierende Sohn des Königs. Um das Glück seines Vaters nicht zu beeinträchtigen und die Heirat zwischen der Fischerstochter und seinem Vater zu ermöglichen, verspricht der Königssohn dem Fischer, dass er auf die Thronfolge verzichten wird. Allerdings überbietet daraufhin der Fischer seine hohe Startforderung und verlangt, dass nicht nur der Königssohn auf die Thronfolge verzichte, sondern ebenso alle seiner Nachkommen. Nach Narlikars Auslegung verringert der Fischer somit die „best alternative to negotiated agreement“ (BATNA) seines Verhandlungsgegners, des Königssohns, was eine klassische Charakteristik der distributiven Verhandlungsstrategie darstellt. Die wichtigste Moral der Geschichte scheint zu sein, dass der Königssohn, anstatt die Forderung empört abzulehnen oder einen Kompromiss vorzuschlagen, bereitwillig ein Zölibatsgelübde ablegt. Der Königssohn selbst macht also keine Anstalten gemäß der Verhandlungsstrategien seines Gegenübers zu einer integrativen Lösung zu kommen. Dafür wird er mit der Bewunderung der Götter belohnt. Und auch der Fischer fungiert nicht als „bad guy“ der Geschichte, denn letztendlich hat er nur das Beste für seine Tochter im Sinn [31]. Alle Geschichten perpetuieren die distributive Verhandlungsstrategie nicht nur als Norm der Schurken, sondern vielmehr als Norm von tugendhaften Helden. Die integrative Strategie wird grundsätzlich selten angewendet und falls doch, kommt dies die Anwender oft teuer zu stehen [68].

Im dritten Kapitel „Framing from a Moral High Horse“ untersucht Narlikar den Akt des moralisierenden Framings als Teil des indischen Verhandlungskonzepts, das einige Parallelen in den Geschichten des Mahabharata aufweist. Die Rechtschaffenen des Epos legen größeren Wert auf eine moralische als auf eine interessenbasierte Rechtfertigung ihrer Handlungen [83]. Trotz mäßigem Verhandlungserfolg des moralisierenden Framings greifen die verhandelnden Akteure nur äußerst selten auf pragmatische Argumente zurück. Nämlich nur dann, wenn das Gegenüber als besonders schwierig, skrupellos und verdächtig eingestuft wird. Angesichts „normaler“ Verhandlungspartner geht man hingegen davon aus, dass das moralische Argument ausreichend  überzeugend ist. Diese Erkenntnis nehmen die Autorinnen zum Anlass die gängige Einschätzung zahlreicher Kommentatoren anzuzweifeln, dass das aufstrebende Indien einen wachsenden Pragmatismus an den Tag lege und anders als das alte Indien nicht länger am typischen Wertegerüst der Entwicklungsländer festhalte. Vielmehr, so schreiben Narlikar und Narlikar, ist die Nutzung strategischer Argumente „less a function of India‘s growing power  and socialization and more symptomatic of how Indian negotiators view their opponents“ [101]. Darüber hinaus dominiere nach wie vor die moralisierende framing-Strategie, die lediglich durch pragmatische Argumente ergänzt, jedoch niemals ersetzt werde [109]. So hat Indien nie seine moralische Überlegenheit aufgegeben und bemängelt die diskriminierende Beschaffenheit jeglicher internationaler Institutionen oder Verträge, denn „equality of treatment is only equitable among equals“. Dieses Prinzip ist nach der Auffassung Indiens nirgends vertreten,  weder im  GATT, noch in der  WTO oder im Atomwaffensperrvertrag [101].

Im vierten Kapitel beleuchten die Autorinnen die Art und Weise der Koalitionsbildung als Puzzleteil des indischen Verhandlungsverhaltens. Denn „how a rising power chooses its friends and allies can offer important information regarding the vision of global order“ [113]. Stärker als in den vorangegangenen Kapiteln wird hier die Zugehörigkeit des Buches zur Disziplin der Internationalen Beziehungen deutlich. Die Logik internationaler Koalitionsbildung ist ein Phänomen, das von der gesamten Bandbreite der klassischen IB-Theorien, vom Realismus zum Konstruktivismus, erklärbar und vorhersagbar gemacht wird. Allerdings distanzieren sich Narlikar und Narlikar sogleich von jeglicher theoretischen Erwartung an Indiens Koalitionsverhalten, und betonen stattdessen den Einfluss kulturspezifischer Einstellungen auf die Bildung von Koalitionen als Teil von Verhandlungen [115]. Aus der Analyse des Mahabharata ziehen die Autorinnen den Schluss, dass die Charaktere eine starke Tendenz aufweisen, Machtverhältnisse auszugleichen („balance“), statt sich einer starken Partei anzuschließen („bandwagon“). In dieser Tendenz sieht Narlikar die Parallele zu der Art und Weise wie sich das heutige Indien als Verhandlungsführer der Entwicklungsländer positioniert. Die Absicht, ein Machtgleichgewicht zu den Industriestaaten anzustreben, sei entgegen der Erwartung, dass Indien mit zunehmenden Einfluss zu einer flexibleren und problembasierten Koalitionsbildung bereit werde, durch den wachsenden Status Indiens vielmehr weiter gestiegen [155].

Letztlich berücksichtigen die Autorinnen zur Analyse der Auswirkungen des antiken Sanskrit-Epos auf die gegenwärtige indische Verhandlungskultur den Zeit-Faktor. In Kapitel fünf erforschen Narlikar und Narlikar das Zeitelement sowohl als strategisches Verhandlungsmittel, als auch gemäß dem Verhältnis zur Vergangenheit und der eigenen Geschichte. So fördern die Geschichten des Mahabharata die Norm „of caution and delay“ [192], indem jene Charaktere belohnt werden, die viel Geduld und eine hohe Verzögerungsbereitschaft an den Tag legen, während hastige Entscheidungen und kurzfristige Deadlines als törichtes und bedauernswertes Verhalten gebrandmarkt wird [193]. Unter Rückgriff auf andere Forschung, die sich mit dem historisch-kulturellen Einfluss auf den Verhandlungsstil verschiedener Kulturen beschäftigen, argumentieren Narlikar und Narlikar, dass Indiens ausgeprägter Sinn für die Geschichte seiner Zivilisation zu dem tendenziell überheblichen und scheinbar unendlich geduldigen Verhandlungsverhalten führe [168]. „Negotiators with an eye on the 3,000 year old history are unlikely to be swayed by the pressure of immediate deadlines“ [168].

Die Parallelen, die die Autorinnen zwischen der Verhandlungsstrategie der Figuren des Mahabharata und dem Verhandlungsverhalten heutiger indischer Verhandler*innen erkennen und aufzeigen, sind erstaunlich. Wie die Autorinnen schreiben ist „the importance of culture in negotiation“ anerkannt und „Bargaining with a Rising India“ liefert dementsprechend einen überzeugenden Befund des Einflusses des Sanskrit-Epos des Mahabharata auf das indische Verhandlungsverhalten. Gleichzeitig ist nicht zu vernachlässigen, dass das Epos lediglich als Puzzleteil des kulturellen Einflusses und der kulturelle Einfluss wiederum als eine von mehreren Variablen im Erklärungsmodell des indischen Verhandlungsverhaltens zu verstehen ist. „Bargaining with a Rising India“ ist somit ein wertvoller Beitrag zur Analyse internationaler Verhandlungen als Forschungsfeld der Internationalen Beziehungen. Gleichzeitig ermöglicht das Buch durch die bemerkenswerte Expertise der Autorinnen eine einzigartige Einsicht in ein bedeutendes Werk indischer Kultur, dessen Relevanz für Indiens Verhandlungsstragie lebendig und nachvollziehbar und dargestellt wird.


[1] Narlikar, Amrita und Aruna Narlikar (2014). Bargaining With A Rising India. Lessons from the Mahabharata. Oxford: Oxford University Press, S. 2.

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