Der[1] Altphilologe Bruno Snell (1896-1986) prägte den Wiederaufbau der Universität in den Nachkriegsjahren, unter anderem als Universitätsrektor zwischen 1951 und 1953. Sein bedeutendstes Buch, Die Entdeckung des Geistes von 1946 stellte nach dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus den geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit der europäischen Philosophie und Wissenschaft wieder her. 1935 hatte Snell seine Gegnerschaft gegenüber dem Nationalsozialismus in einer gelehrten Miszelle über die unterschiedlichen Weisen, in denen natürliche Sprachen den Ruf von Eseln nachahmen, zum Ausdruck gebracht. Snell erklärte dort, dass die Esel der Antike stets verneinen, während die deutschen Esel immer „j-a“ sagen.
Dorothea Frede ist emeritierte Professorin für die Philosophie der Antike. Vor ihrer Zeit an der Universität Hamburg (1991-2006) hatte sie Professuren am Swarthmore College und der Rutgers Universität inne. Gastprofessuren führten Sie nach Stanford, Berkeley und Princeton. Frede hat Standardwerke zu Platon und Aristoteles verfasst, aber auch Aufsätze zu Heidegger und Cassirer. Für Studierende der Politikwissenschaft von besonderem Interesse: Aristotle on Citizenship (2005).
Die Bedeutung Bruno Snells für die Universität Hamburg in den Nachkriegsjahren lässt sich kurz zusammenfassen: Ein unerschrockener Gegner des Nazi-Regimes, der sich auch für seine jüdischen Kollegen eingesetzt hatte, stelle er sich 1945 ebenso unerschrocken und energisch der Aufgabe, zum Wiederaufbau der darniederliegenden Universität beizutragen. So wirkte er 1945-46 als Dekan der Philosophischen Fakultät, 1951-53 als Rektor der Universität. Vor allem aber versuchte er, die Universität dank seines Ansehens wieder in die internationale Gemeinschaft der Wissenschaften zurückzuführen. So trug er 1947 entscheidend zur Gründung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften bei und setzte 1953 die Gründung des ‚Europa-Kollegs‘ durch, einer Stiftung, in der Studierende aus ganz Europa gemeinsam leben und arbeiten sollten.
Europa ist aber auch das Thema von Snells berühmtestem Buch: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen. Obwohl seine erste Auflage von 1946 (in entsprechender Papierqualität bei Classen & Govertz gedruckt) dies nahelegen könnte, ist das Buch kein Manifest der Notzeit nach dem Krieg. Es dient nicht der moralischen Wiederaufrüstung des Geisteslebens in Deutschland. Vielmehr signalisiert es die Rückkehr zur wissenschaftlichen Normalität; denn es enthält bereits vor und während des Krieges verfasste und veröffentlichte Aufsätze und Artikel zu einem Themenbereich, der Snell bereits in seiner Dissertation (1924) und in seiner Habilitationsschrift (1928) umtrieb, nämlich eine Art Genealogie des geistig-moralischen Menschen von der griechischen Frühzeit bis zur Entfaltung von Philosophie und Wissenschaft in der klassischen Zeit. Die von der Philosophie etablierten Standards für die wissenschaftliche Forschung sollten während vieler Jahrhunderte das Fundament der Kultur Europas und die Grundzüge von Wissenschaft und Technik liefern.
Wie das Wort ‚Studien‘ im Untertitel seines Werks anzeigt, will Snell keine Universalgeschichte der Entwicklung des menschlichen Geistes liefern, sondern nur bestimmte Aspekte der Entstehung des Denkens bei den Griechen herausstellen. Bei der Rekonstruktion dieser Entwicklung beflügelte ihn die Überzeugung, dass die Geschichte im wesentlichen Geistesgeschichte ist und dass Geistesgeschichte immer zugleich Sprachgeschichte ist, weil Geist und Sprache untrennbar sind, eine Überzeugung, zu der sich Snell – wie schon seine frühesten Arbeiten zeigen – durch Herder und Humboldt ermutigt sah.
Zu den verschiedenen Stufen der ‚Entdeckung des Geistes‘ sei hier in aller Kürze bemerkt: Bei Homer, dem frühesten erhaltenen Zeugnis der griechischen Kultur, wird das Individuum noch nicht als eine Einheit, als eigenständig moralisch entscheidende Person behandelt. Nicht nur bilden Seele und Körper keine Einheit; sondern sie sind auch für sich genommen nichts Einheitliches. Unter Seele (psychê) versteht Homer nur den Lebenshauch, unter Körper (sôma) nur den Leichnam. Stattdessen nimmt er eine Vielzahl seelischer Funktionen an: ein Organ der Regungen und Bestrebungen, der Kraft, des Sehens und des Vorstellens. Mit einer ähnlichen Vielzahl von Bezeichnungen verweist Homer auch auf Aspekte des Körpers.
In ihren moralischen Entscheidungen werden die homerischen Helden von den Göttern bestimmt. So ergreift die Göttin Athene den Helden Achilleus gewissermaßen beim Schopf, als er Agamemnon aus Zorn über dessen Beleidigung mit seinem Schwert durchbohren will, und nötigt ihn zur Mäßigung (Il. 1, 190-221). Auch Agamemnon macht später die Götter für sein Verhalten verantwortlich: Nicht er, sondern Zeus, die Schicksalsgöttin und die nächtliche Erinys haben ihn verblendet (Il. 19, 87-90).
Der Weg zur Entdeckung des Geistes als der Entscheidungsinstanz des eigenverantwortlichen rationalen Individuums führte über die verschiedenen Gattungen der Literatur, die daher auch nicht gleichzeitig nebeneinander bestanden, wie man das heute erwarten würde, sondern einander ablösten. So folgte auf das Epos des 8. Jh. die Dichtung der frühgriechischen Lyriker des 7. -5. Jh., die darin ihre persönlichen Gefühle über Leid, Schmerz, den Wechsel des Schicksals, oder auch ihre Abkehr von allgemein geteilten Vorstellungen zum Ausdruck brachten. Die Lyrik ihrerseits wurde im 5. Jh. durch das Drama abgelöst; erst die Tragödie stellt den Menschen als die Instanz dar, die allein für ihre eigenen Entscheidungen und Handlungen verantwortlich ist. Dass auf die Tragödie im 5. Jh. die Philosophie folgen sollte, ist laut Snell wesentlich der Kritik des Sokrates an der Rechtfertigung und Bewertung tragischer Entscheidungen geschuldet. Die sokratische Forderung nach Allgemeinheit, Zeitlosigkeit und Widerspruchsfreiheit philosophisch begründbarer Prinzipien sollte entscheidend zur Herausbildung des theoretischen Denkens und damit der Hinwendung zur Wissenschaft durch Platon und Aristoteles und ihrem Nachleben beitragen.
Snells ‚Entdeckung des Geistes‘ ist über Jahrzehnte nicht nur in vielen Auflagen erschienen, mit Erweiterungen, Ergänzungen und Umarbeitungen, sondern sie ist auch in viele Sprachen übersetzt worden. Kritik an seiner Darstellung der Geistesgeschichte ist nicht ausgeblieben. Sie betrifft nicht nur Einzelheiten, sondern auch Grundlegendes. So hat ein ‚Eurozentrismus‘ heutzutage keine gute Presse, der nicht nur das europäische Denken wie selbstverständlich auf die Griechen zurückführt, sondern es auch als die Grundbedingung für Wissenschaft und Philosophie überhaupt darstellt. Fachleute haben zudem moniert, dass Snell die Einflüsse der älteren Kulturen des Vorderen Orients auf das frühgriechische Geistesleben ignoriere.
Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass Snell für Europa den Geist betreffend kein Monopol in Anspruch nimmt. Auch die Einflüsse der älteren Kulturen des Vorderen Orients auf das frühe Griechentum hat er keineswegs geleugnet. Seine Rekonstruktionen der ‚Entdeckung des Geistes‘ beschränken sich bewusst auf die erhaltenen schriftlichen Zeugnisse aus der griechischen Frühzeit und aus der klassischen Zeit. Auch war es nicht seine Absicht, eine allgemeine Kultur- und Geistesgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart zu liefern, vielmehr wollte er Grundlagen des geistigen europäischen Erbes und ihrer Entwicklung vorstellen.
Andere Kritiker sehen in Snells Betonung des Einwirkens der Götter auf das Individuum bei Homer eine Überinterpretation und führen dagegen Zeugnisse für persönliche Verantwortung an, wie etwa die Vorhaltungen des Patroklos angesichts der Unnachgiebigkeit seines Freundes Achill: „als habe dich die finstere Meerflut geschaffen, als einen hochstarrenden Felsen, so starr ist dein Herz und gefühllos“ (16. 30-35). Auch Achill macht keine Gottheit für sein Verhalten verantwortlich: „Vergangen lassen wir Vergangenes sein, wie es auch kränkte; dennoch den Zorn in der Brust bezähmen wir auch mit Gewalt uns“ (18, 107-113).
Niemand wird aber leugnen wollen, dass es eine Entwicklung vom 8. bis zum 4. Jh. gegeben hat, aus der – auf verschlungenen Pfaden − der wissenschaftliche Geist hervorgegangen ist, der für Europa bestimmend bleiben sollte. Snells kühne Nachzeichnung der Entdeckung des Geistes verdient daher den Respekt, den Snell von den Kritikern an Euripides forderte und dazu an Goethes Urteil erinnerte (Gespräche mit Eckermann 28. 3. 1827): „Wenn ein moderner Mensch an einem so großen alten Fehler zu rügen hätte, … so sollte es billig nicht anders geschehen als auf den Knien.“ Manche Werke sind Monumente ihrer Zeit und sollten auch so gelesen und gewürdigt werden. Und das gilt bis heute für Snells ‚Entdeckung des Geistes‘.
[1] ad „Habent sua fata libelli“: Terentianus Maurus ca. Ende des 2. Jh. n. Chr.: Pro captu lectoris habent sua fata libelli – Je nach Auffassungsgabe des Lesers haben Bücher ihre Schicksale.