Die Wissenschaft entkoppelter Politik. Falk Daviter über Friedbert Rüb, Policy-Analyse unter den Bedingungen von Kontingenz (2008)

Friedbert Rüb war von 2003 bis 2009 Professor für Regierungslehre, insbesondere Policy-Analyse, an der Universität Hamburg, bevor er in der Nachfolge von Claus Offe den Ruf auf eine Professur für Politische Soziologie und Sozialpolitik am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin annahm und hier bis zu seiner Emeritierung 2018 forschte und lehrte. Neben seiner Beschäftigung mit sozialpolitischen Transformationsprozessen verfasste Friedbert Rüb zentrale Beiträge in der Wissenspolitologie.

Falk Daviter hat am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz mit einer Arbeit zum Policy Framing in the European Union (Berlin 2011) promoviert. Nach Stationen an der Universität Potsdam, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Hamburg vertritt er zurzeit eine Professur am Institut für Politikwissenschaft der Leuphana Universität Lüneburg.


Wer sich in letzter Zeit mit den Versuchen sozialwissenschaftlicher Forschung beschäftigt hat, aus der Beobachtung aktueller politischer Herausforderungen und Entscheidungsprozesse Rückschlüsse auf die Notwendigkeit konzeptioneller Neuorientierungen zu ziehen, entdeckt schnell wiederkehrende Entwicklungslinien. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Temporalität der Politik erlebt einen Aufschwung. Aufmerksamkeitsdynamiken werden als Erklärungsansätze verstanden. Und die Beschäftigung mit der Komplexität, Ambiguität und Überlagerung politischer Problemlagen wird zunehmend als Herausforderung interpretiert, Politik als einen Prozess der Deutung und Auslegung konkurrierender Wirklichkeitswahrnehmungen und mehrfach denkbarer Begründungszusammenhänge zu begreifen. Viele politikwissenschaftliche Debatten der letzten Zeit greifen diese Ideen auf. Aber selten bewirken sie mehr als eine periphere Verunsicherung bestehender theoretischer Konstrukte.

Nur wenige Arbeiten haben die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen einer nur vorgeblich gemeinsamen politischen Welt zum Ausgangspunkt der theoretischen Auseinandersetzung und somit zum Anlass genommen, eine grundlegende Neuverortung politikwissenschaftlicher Forschung einzufordern. Eine Ausnahme ist der Aufsatz „Policy-Analyse unter den Bedingungen der Kontingenz“, den Friedbert Rüb während seiner Hamburger Zeit verfasst hat.[1] Der Aufsatz erscheint in einem Sammelband, der sich der Zukunft der Policy-Forschung im Kontext grundsätzlicher Debatten über die Grenzen und Möglichkeiten wissenschaftlicher Analyse widmet. Und so gerät dieses vergleichsweise kurze Kapitel zu einer umfassenden Bestandsaufnahme des Zustandes politikwissenschaftlicher Forschung allgemein, und der Policy-Forschung im Besonderen. Der Einstieg ist zunächst unverfänglich. Friedbert Rüb stellt das Multiple-Streams-Modell von John Kingdon in den Mittelpunkt der fachlichen Diskussion – einen Klassiker der Policy-Forschung aus den 80er Jahren, der in letzter Zeit neu entdeckt und umfassend weiterentwickelt wurde.[2] Rübs Arbeiten haben hieran einen erheblichen Anteil. Kingdon hatte im Rückgriff auf die viel zitierten, aber oft nur fragmentarisch rezipierten Arbeiten von James March und seinen Kollegen zu organisationalen Anarchien (gemeint waren hiermit übrigens Universitäten) ein Modell des politischen Agenda-Settings entworfen, das wenig Bekanntes der Policy-Forschung gelten ließ. Aus vorwiegend sequenziellen und rationalen Entscheidungsprozessen der politischen Problembearbeitung wurden weitgehend unabhängige Ströme von potentiell problematisierbaren Zuständen, ideologisch favorisierten und technologisch verfügbarer Lösungsoptionen und den spezifischen Gegebenheiten politischer und institutioneller Handlungsarenen. Entscheidungen entstehen in diesem Modell durch Verkopplung der Ströme, durch Erkennen von Möglichkeiten des Machbaren und durch absichtsvolles Ausnutzen von Interdependenzen. Politik ist also kontingent, nicht aber wahllos oder chaotisch.

Trotzdem ergeben sich Grenzen des Erkenntniszugangs. In der Welt, wie Rüb sie modelliert, scheitert die Suche nach invariablen Bestimmungsfaktoren und allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten. An ihre Stelle tritt die Rekonstruktion kausaler Mechanismen, also wiederkehrender Wirkungsmuster, deren Eintreten von zumindest teilweise unbekannten Rahmenbedingungen abhängig bleibt. In diesem Verständnis kontextualisierter Kausalität können Ketten der Verursachung somit zwar als Entscheidungsprozesse rekonstruiert, aber nicht vorhergesagt werden. Die Schlussfolgerung, dass das Sichtbarmachen politischer Wirkungszusammenhänge weniger methodische Innovation erfordert, als vielmehr eine methodologische Neuorientierung voraussetzt, verweist weit über den fachwissenschaftlichen Gegenstand des Beitrags hinaus.

Auch stilistisch weicht Rüb in seinem Aufsatz erkennbar vom Mainstream des politikwissenschaftlichen Zeitgeistes ab. Statt vorwiegend die Originalität des eigenen Beitrags zur aufkommenden Debatte um das Multiple-Streams-Modell ins Zentrum zu rücken, rekonstruiert der Aufsatz unaufdringlich die umfangreichen intellektuellen Wurzeln seiner zentralen Argumentationsstränge und Analyseperspektiven. Machiavelli spielt eine zentrale und ungewohnte Rolle, gefolgt von Max Weber, Jon Elster und Amitai Etzioni.

Und so lassen sich Friedbert Rübs Hamburger Arbeiten und seine folgenden Werke auf zumindest zwei Arten lesen. Zum einen als hochinstruktive Analyse politischer Prozesse unter Bedingungen fluktuierender Verfügbarkeiten, variabler Verfahren, unklarer Interessen, komplexer Interdependenzen und zeitlicher Beschränkungen. Zum anderen als Plädoyer für eine neue Form wissenschaftlicher Vergewisserung über die Welt in der wir leben.


[1] Friedbert Rüb, Policy-Analyse unter den Bedingungen von Kontingenz. Konzeptionelle Überlegungen zu einer möglichen Neuorientierung. In: Frank Janning, Katrin Toens (Hg.), Die Zukunft der Policy-Forschung. Theorien, Methoden, Anwendungen. Wiesbaden: VS 2008, 88-111.

[2] Vgl. etwa Reimut Zohlnhöfer und Friedbert W. Rüb (Hgs.), Decision Making under Ambiguity and Time Constraints. Assessing the Multiple‐Streams Framework. Colchester: ECPR Press

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