Im ersten Beitrag unseres Buchforums rekonstruieren Dina Delgado und David Müller Eberls Interpretation von Kants Konzeption des Naturzustands. Dabei beschäftigen sie sich u.a. mit der Frage nach dem Umgang von politischen Theoretiker*innen mit den kolonialen Implikationen des Naturzustandskonzepts und fragen nach alternativen Gedankenfiguren, die es beerben können.
Dina Delgado und David Müller studieren im Bachelorstudiengang Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Von Dina Delgado ist auf Politik100x100 bereits eine Rezension zum von Andreas Busen und Alexander Weiß edierten Sammelband Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens erschienen; von DaviD Müller ein Beitrag zur Hamburger Publikationsgeschichte von Marxens Kapital und eine Besprechung der Hamburger Dissertationsschrift von Ralf Dahrendorf (mit Peter Niesen).
Im April 2021 erschien Oliver Eberls neueste Studie „Naturzustand und Barbarei“, in der er sich mit den beiden titelgebenden Konzepten auseinandersetzt, um zu begründen, warum sie aus der modernen politischen Theorie ausgeschlossen gehören. In dem Kapitel Naturzustand und »Barbarei« als Begriffe der Staats- und Absolutismuskritik bei Kant zeigt er, welche folgenschwere Rolle „dem analytischen Denker und dem Meister der Definition“ (293)[1] bei der Etablierung dieser beiden Konzepte retrospektiv zukam. Obwohl für seine Zeit fortschrittlich in der Kritik der Gewalt der Staaten – zwischen einander und gegenüber nichtstaatlich organisierten Gesellschaften -, die im Kern leider bis heute Geltung beanspruchen kann, bleibt seine Konzeption des „Naturzustands“ eine schwere Hypothek. Die Forderung nach vollständiger Abstinenz, nicht nur von dem Wort oder den verschiedenen Konzeptionen, sondern auch vom Konzept überhaupt, ist in seiner Radikalität überraschend. Gerade deswegen lohnt sich eine genauere Betrachtung der Pointe des Werkes:
„Eine politische Theorie, die sich über ihre kolonialen Prägungen aufgeklärt hat, wird auf Naturzustandsbeschreibungen und den Begriff »Barbarei« verzichten“ (512). Es gehe in „einer politischen Theorie jenseits von Naturzustand und »Barbarei« nicht allein um eine begriffliche Abstinenz“ (513), sondern auch um die Überwindung der „dichotome[n] Begründung von Staatlichkeit als Überwindung einer als schrecklich vorgestellten Nichtstaatlichkeit“ (513).
Folgen wir nun Eberls Argumentation im Abschnitt zu Kant. In der Hobbesschen Tradition stehend, versteht Kant den „Naturzustand“ durchweg negativ; er ist bei ihm durch die Abwesenheit von Recht definiert (291f.) und nicht wie bei Rousseau von „Edlen Wilden“, sondern eher von „Bösen Wilden“ (290) bewohnt. An einer späteren Stelle führt Eberl Kants Gegenargumentation – gegen ein positives Verständnis der vorstaatlichen Zustände – weiter aus und kommt zu dem Ergebnis, dass Kant dem »guten« Naturzustand eine klare Absage erteile. In einer solchen Staatenlosigkeit erblicke er ein „Leben in Genuss und Müßiggang“, in dem „die Anlagen der Vernunft und der Moralität […] [nicht] zur Entfaltung“ gebracht werden könnten (306). Selbst wenn es ein glückliches Leben in einem nichtstaatlichen Zustand gebe, sei dies „kein glückswürdiger Zustand“ (Hervorhebung im Original, 308). Hier weist Eberl darauf hin, dass Kant einerseits politik-theoretisch und andererseits moralisch argumentiert; Kant reagiere damit auf einen „Schock“ im Europa der damaligen Zeit: das Bekanntwerden von Kulturen, die anscheinend ohne Staat und damit ohne juridisches Recht glücklich lebten (307f.).
Die Frage der Notwendigkeit zum juridischen Recht ist das Herzstück der kantischen Argumentation, die der Königsberger Philosoph in seinen Spätschriften Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre und Zum ewigen Friedenentwickelt (zur Friedensschrift veröffentlichte Eberl mit Peter Niesen eine kommentierte Version).[2] Insbesondere ist für Eberl Kants Verknüpfung von „Barbarei“ und „Naturzustand“ problematisch. Zwar habe Kant den Begriff der „Barbarei“ von konkreten Personen abgelöst und soweit es geht von seinen rassistischen Konnotationen befreit (294f., vgl. dazu auch das anschließende Kapitel), die Verbindung zum „Naturzustand“ dabei aber nicht nur nicht gelöst, sondern durch eine Verknüpfung noch vertieft – wobei dies, so Eberl in der Einleitung, beim Konzept des „Naturzustands“ notwendigerweise passieren müsse (22).
Der Hauptgrund, weshalb Kant den Ausgang aus einem „Naturzustand“ in einen staatlichen fordere, sei das fehlende Recht (291f.). Dabei schaffe der Staat den rechtslosen Zustand nach innen hin ab, verlagere ihn dabei aber auf eine höhere Ebene. Um verschiedene Zustände zu beschreiben, benutzt Kant die Begriffe „barbarisch“ und „wild“: „Wilde“ „leben untereinander im Naturzustand“, sie seien also diejenigen, „deren innere Streitigkeiten durch kein Recht entschieden“ werden können, da keines existiere – „in wilder Freiheit [kann der Mensch] nicht lange neben einander bestehen“ (Kant zitiert nach Eberl, 300);[3] „Barbaren“ „negieren die Idee des Rechts in ihrem äußeren Verhalten“, sie „haben Staaten gebildet, aber leben mit ihren Nachbarn im Naturzustand“ (294, 295). Auch wenn dies nicht mehr der „klassische Barbarenbegriff“ (295) ist, fällt Eberl auf, dass Kant offensichtlich nur „Begriffe einfallen, die ihm sicher als Träger eines Vorurteils gelten können: gesetzloser Naturzustand und kriegerische »Barbarei«“ (293). Die deskriptive Negativität entpuppt sich auch als normative Negativität.
Bekanntermaßen hält Kant den Menschen prinzipiell für ein vernunftbegabtes Wesen. Aus dieser „Möglichkeit des Menschen zur Vernunft folgt auch seine Verpflichtung, Vernunft zu entfalten“ (300) und den „unerträglichen“ (315) „Naturzustand“ zu verlassen. Diese schwerwiegende Feststellung bestimme nun Kants Sicht auf die verschiedenen menschlichen Lebensweisen und deren Fortschritt (300). Der Idee des Fortschritts bleibe Kant treu, indem er „in der Verarbeitung des Eindrucks der Gewalthaltigkeit und des Fortschritts der staatlichen Institutionen die Möglichkeit“ sucht der eigenen, das heißt „europäischen Zivilisation das Potenzial zur Verbesserung, oder sogar zur Vollendung, zuzusprechen“ (291).
Dieser normative Zwang, aus dem „Naturzustand“ heraus zu kommen, seine „wilde gesetzlose Freiheit“ zu verlassen und seine „Freiheit überhaupt“ „in einem rechtlichen Zustande unvermindert wieder zu finden“,[4] entstehe aus der Pflicht, seine Vernunft zu benutzen (300). Denn vernünftig, so Kant, ist ein „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit [dem] Rechtsprinzip [d.h. Republik] […], als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht“.[5] Dies münde nun in einer pauschalen Abwertung von Gesellschaften im nichtstaatlichen Zustand – Kant meine, die „Natur will Vernunft“ (300), d.h. „Kultur und Kunst“.[6] Kants Position ist, folgert Eberl: „Im Naturzustand tun sich Menschen nicht gegenseitig unrecht, »aber überhaupt tun sie im höchsten Grade unrecht, in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein rechtlicher ist«“.[7] Nachdem Eberl die Leserin darüber aufklärt, dass Kant zwischen Gewalttätigkeit und Gewalt so unterscheidet, dass erstere Gewalt ohne Recht, also Gewalt im „Naturzustand“ und noch nicht staatlich eingehegte Gewalt sei, argumentiert er mit Ingeborg Maus, dass es sich nun, bei den von Kant „transformierten“ Begriffen „Naturzustand“ und „Barbarei“ um Staatskritik handle (310).
Diese Staatskritik meine nicht die zweite Verwendungsweise von „Barbarei“ bei Kant, als eine Kategorie in der Typologie von Staaten – „A. Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt (Anarchie). B. Gesetz und Gewalt, ohne Freiheit (Despotism). C. Gewalt, ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei). D. Gewalt, mit Freiheit und Gesetz (Republik)“[8] -, sondern eine Kritik des Nichtentkommens aus den „Naturzuständen“. Staaten blieben, wie wir oben schon angedeutet haben, so lange in einem „Naturzustand“, wie sie ihre (zwischenstaatlichen) Beziehungen nicht in einen rechtlichen Zustand (≠ Weltstaat) überführt und so ‚vernünftig‘ geregelt hätten; nur dann sei es möglich, Gewaltsamkeit effektiv zu unterbinden. Dieser Weg führe über das „Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht“ (311).
Eberl geht nun näher auf die Art des Rechts ein – denn anders als für Hobbes sei für Kant nicht jedes Gewaltmonopol legitim. Eberl schreibt: „Das Gewaltmonopol kann nämlich nur die Frage nach der Durchsetzung des Rechts, nicht aber die nach seiner Legitimität beantworten. Das ist der Punkt, der Kant zur Forderung der Republik bringt.“ Der „Naturzustand“ sei für Kant ein „zivilisatorischer Tiefstand“ – für uns hier von größerer Bedeutung – und ein „rechtlicher Notstand“ (309). Der „Naturzustand“ habe eine juridische Perspektive; er herrsche dort, „wo der republikanische Zustand nicht verwirklicht worden ist“ (309). Für Eberl begründet die Rechtslehre „das Postulat des öffentlichen Rechts [und also] die Forderung, den Naturzustand zu verlassen“ (310), denn der „Kriegszustand zwischen souveränen Staatspersonen ist gerade das Resultat der Herstellung des gesellschaftlichen Friedenszustandes“.[9] Das läuft darauf hinaus, dass anscheinend auf allen Ebenen der „Naturzustand“ droht, beziehungsweise ist und deswegen für Kant auf allen Ebenen überwunden werden muss, weshalb er die verschiedenen Rechtssysteme fordert. Erst dann sind Menschen nicht mehr im Zustand der „Barbarei“.
Der Unterschied von „Wilden“ und „Barbarei“ soll hier nochmal hervorgehoben werden. Ein Irrtum kann als Prüfstein dienen. Man könnte meinen, dass analog zum „wilde[n] Menschen“, der in seiner „brutale[n] Freiheit“ lebt (302), auch der Staat in einem zwischenstaatlichen Naturzustand existiert, solange kein Völker- oder Weltbürgerrecht ihn einhegt. Aber Kant benutzt für Staaten nur den Begriff „barbarisch“. Eberl ausführlicher: „Nachdem Kant nun den Krieg zwischen Staaten als das eigentliche Problem eingeführt hat, benutzt er nicht mehr nur »brutal« zur Kennzeichnung, sondern auch »barbarisch«. »Barbarisch« ist dabei für den Zustand von Staatlichkeit reserviert, während »wild« vorstaatliche Verhältnisse betrifft“ (302). Wobei Kant diesen Vergleich selbst bei der Erörterung des Völkerrechts in seiner Rechtslehrebenutzt: Staaten seien „gesetzlose Wilde“, solange es kein Weltbürgerrecht gebe und sie bloß im Völkerrecht seien.[10]Somit wird ein weiteres Mal der Begriff der „Barbarei“ prominent gemacht – noch heute müsste Kant den Auszug aus dem „Naturzustand“ ins Heilige Land des Weltbürgerrechts als nicht vollzogen ansehen.
„Zwar befreit er den Begriff [des „Naturzustands“] gleichzeitig von konkreten Bezügen, um ihn umso freier für seine Staatskritik zu verwenden. Doch etabliert er damit auch die bleibende Prägung der Staats- und Herrschaftskritik durch Naturzustand und »Barbarei«, die das politische Denken Europas bis heute prägt“ (297). Nach der Auseinandersetzung mit seinem Rassismusbegriff fasst Eberl Kants „eigentlichen Beitrag zu einer Abwertung der nicht europäischen Völker“ zusammen. Dieser solle „nicht in seiner Rassetheorie und seinen Vorlesungen und in eher frühen Schriften verteilten pejorativen Bemerkungen und Einordnungen gesehen werden, sondern in seiner Beschreibung des Naturzustands, dessen negative Merkmale er aus dem Diskurs über »Wilde« und »Barbaren« in die Rechts- und Staatstheorie übernimmt, während er mit seinem Rassebegriff um die Einheit der Gattung trotz Differenz bemüht ist. Seine Beschreibung des Naturzustands als »wilder« Zustand hat auf einer abstrakteren Ebene mehr zur Abwertung der nicht europäischen Gesellschaften beigetragen“ (361). Dies ist das zentrale Argument von Eberl in diesem Abschnitt.
Diese unheilige Verbindung von „Barbarei“ und Kolonialismus sowie „Barbarei“ und „Naturzustand“ führe dazu, dass der „Naturzustand“ nicht ohne „Barbarei“ gedacht werden könne. Der Begriff und die verschiedenen Konzeptionen von „Barbarei“ sollten in der politischen Theorie schon lange überwunden sein (11-29). Die Beschreibung des Naturzustandes- sowie die der „Barbaren“ und „Wilden“ -, wie Kant sie vorgenommen hat, konnte nur aufgrund des negativen „Bedeutungsüberschusses“ des Begriffs „Barbarei“ gelingen (293).
Eberls Text besticht durch seine Klarheit und klärt darüber auf, weshalb trotz der scheinbaren Evidenz für uns Sozialwissenschaftlerinnen die fundamentale Kritik des Naturzustandes so überraschend ist. Denn „[d]ass dieser Umstand verdeckt bleibt, hat viel damit zu tun, dass seine [Kants] kritische Verwendung von Naturzustand und »Barbarei« die Begründung des Staates und seine Kritik bis heute anleitet“ (361).
Auf zwei Punkte dieser schlüssigen Argumentation wollen wir nun noch ein fragendes Schlaglicht werfen. Auch auf die Gefahr hin, dass wir uns als im Netz des Altbekannten gefangen outen, fragen wir uns a) ob das Konzept des „Naturzustands“ durch ein noch kritischeres „Säurebad der Kritik“ vom Ballast befreit werden kann. Es ist schwierig vorstellbar, dass demokratische Prinzipien in einer hoch technisierten und differenzierten Welt Verwirklichung finden, wenn es kein Korsett aus politischen Organisationen gibt. Über einen „Naturzustand“ könnte deren Existenz nun nicht mehr begründet werden. Aber muss dann die Figur eines staatenlosen Zustands als Begründungsargument für solche politischen Ordnungen nach Eberls Lektüre vollständig unterlassen werden? Muss also jede Dichotomie von Staat/Nichtstaat zur normativen Begründung politischer Organisationen abgelehnt werden? b) Eberl spricht von Abstinenz. Aber: Bedarf es nicht eher eines aktiven Aktivismus‘, der über die Forderung hinausgeht, diese Konzepte nicht mehr nur nicht zu verwenden? Es scheint uns beim Problem des Kolonialismus wie bei einer bakteriellen Infektion zu sein, die mit Antibiotika behandelt werden muss: Man muss hart genug eingreifen, um alle schädlichen Bakterien zu beseitigen. Wie auch immer, die Autorinnen des Textes leben nun zumindest abstinent.
[1] Oliver Eberl 2021. Naturzustand und Barbarei, Hamburg. Zitate im Folgenden im Fließtext in Klammern.
[2] Oliver Eberl & Peter Niesen 2011. Zum ewigen Frieden, Kommentar von Oliver Eberl und Peter Niesen, Berlin.
[3] Immanuel Kant AA, VIII, S. 22.
[4] Immanuel Kant AA VI, S. 316.
[5] Ebd., S. 318.
[6] Immanuel Kant AA, VIII, S. 22.
[7] Immanuel Kant AA VI, S. 307f.
[8] Immanuel Kant AA VII, S. 330f.
[9] Olaf Asbach 2002. Die Zähmung der Leviathan, Die Idee einer Rechtsordnung zwischen Staaten bei Abbé de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseau, Berlin, S. 34, zitiert nach Eberl. Naturzustand und Barbarei, S. 310f.
[10] Immanuel Kant AA VI, S. 344.
Hier geht es zum einführenden Beitrag des Buchforums: BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei – Ankündigung und Vorbemerkungen
und hier zum ersten Beitrag: „Politische Theorie jenseits von Naturzustand und ‚Barbarei'“ – Auszug aus Oliver Eberl, Naturzustand und Barbarei (BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei)
Der nächste Beitrag von Leon Abich und Finn Haberkost mit dem Titel Zivilisierung bei Kant – ein kleiner konzeptioneller Klärungsversuch erscheint am morgigen Samstag, den 15. Mai.