Susanne Krasmann ist Professorin für Soziologie in der Kriminologischen Sozialforschung an der Universität Hamburg. Sie verbrachte Forschungsaufenthalte an zahlreichen Universitäten im Ausland, etwa an der University of Melbourne, der UC Berkeley und an der New York University. Ihr Buch „Die Kriminalität der Gesellschaft“ ist inzwischen zu einem Standardwerk der kritischen Kriminologie geworden. Weitere Veröffentlichungen behandeln u.a. den Einfluss von Wahrheit und Ungewissheit in der Politik und setzen sich mit poststrukturalistischen Perspektiven auseinander. Für Politik100x100 hat sie sich mit Michel Foucaults Hamburger Werk auseinandergesetzt. 2019 erschien “Abandoning Humanity? On Cultural Heritage and the Subject of International Law” in der Zeitschrift Law, Culture and the Humanities.
Vojta Drápal ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kriminologie an der Universität Hamburg. Er promoviert über das Verhältnis der genealogischen Kritikform Foucaults zur politiktheoretischen Idee von Progression und Regression.
Ja, die Hamburger kriminologische Sozialforschung ist eine Besonderheit. Als deutschlandweit einziges Institut, das sich dem Phänomenbereich des Verbrechens nicht aus strafrechtlicher, nicht aus polizeilicher und damit nicht aus staatlicher Perspektive nähern will, entsteht es in den 1980er Jahren aus einem bestimmten Geiste der Kritik heraus. Es erinnert hierbei nicht nur namentlich an die Heimatstätte der Kritischen Theorie. Vielmehr findet es in den Forschungsvorarbeiten aus dem Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, etwa derjenigen Georg Rusches (1933), einige Vorläufer.
Was aber heißt Kritik? Susanne Krasmanns Werk Die Kriminalität der Gesellschaft unternimmt eine Überprüfung des kriminologischen „Topos der Täterfixierung“ (Krasmann 2003, 13). Ihre Studie kann als Kritik der kritischen Kriminologie gelesen werden, insofern sie die Form einer dreifachen Reflexion der eigenen, kriminologischen Perspektive annimmt: (1) der historischen Möglichkeitsbedingungen, (2) der sozial- und machttheoretischen sowie (3) der epistemologischen Grundannahmen dieser Perspektive. Insbesondere unter den Bedingungen neoliberaler Reformen, die spätestens seit den 1980er Jahren auch das Feld der Verbrechenskontrolle grundlegend transformierten (vgl. Garland 2001), biete sich ein Umdenken in eingewöhnten Denkweisen an. Es bleibt aber nicht bei einer Problematisierung von Grundannahmen. Indem die Studie Foucaults Analytik der Subjektivierungsweisen für die Kriminologie fruchtbar macht, versteht sie sich zugleich als „eine Einladung zu einer anderen Betrachtungsweise“ (ebd.).
Zu Beginn skizziert Krasmann die Herausbildung eines bestimmten Kritikverständnisses der kritischen Kriminologie. Um der traditionellen Kriminologie als einer Verlängerung staatlicher Strafverfolgungspraxis zu entrinnen, setzte die kritische Kriminologie auf unterschiedliche theoretische Ansätze. Ein bedeutender unter ihnen war der vom symbolischen Interaktionismus inspirierte Etikettierungsansatz. In dieser Perspektive werden Kriminalität und Devianz nicht länger als soziale Gegebenheiten aufgefasst, sondern als Produkte eines sozialen Konstruktionsprozesses. Der kriminologische Untersuchungsgegenstand verschob sich damit grundlegend: das zu Erklärende war nun nicht mehr die Straftat, sondern die gesellschaftliche Zuschreibung von Devianz. Entsprechend war ‚der Täter‘ nicht länger derjenige, der einen Rechtsbruch begangen hat, sondern derjenige, der diesen Rechtsbruch in sozialen Kommunikationsprozessen feststellte. Mit diesem Perspektivwechsel erfuhr die traditionelle Täterfixierung der Kriminologie gewisser Maßen eine Umkehrung um 180°. Von Erkenntnisinteresse waren nun andere Täter: Richter, Polizisten, auflageorientierte Medien, wohlwollende Sozialarbeiter und all jene, die ebenfalls Rechtsbrüche begingen, sich aber systematisch der Zuschreibung des Kriminellen, Devianten, Delinquenten, entziehen konnten (vgl. 42-48).
Es ist dieser „Topos der Täterfixierung“, durch welchen die kritische Kriminologie mit der traditionellen Kriminologie unweigerlich verflochten bleibt. Krasmann hinterfragt die diesem Topos zugrundeliegenden Vorstellung von „Instanzen“ (47) der Macht und Herrschaft und erweitert diese – u.a. im Anschluss an Foucault, Nietzsche und Deleuze – durch eine komplexere Auffassung derselbigen. Diese Perspektivumstellung macht zugleich eine Verflochtenheit der kritischen Kriminologie mit dem sichtbar, von dem sie sich ebenfalls zu distanzieren trachtet: Macht und Herrschaft.
Dies erfolgt durch die erste kritische Operation: den genealogischen Einblick in die historischen Möglichkeitsbedingungen der Kriminologie. Krasmann stützt sich hierbei auf die historischen Arbeiten u.a. Foucaults, Ewalds, Donzelots und Hackings. Hierbei zeigt sich, dass es insbesondere die Herausbildung der Bevölkerungsstatistik war, die es seit dem frühen 18. Jahrhundert erlaubte, Regelmäßigkeiten im Sozialen auf neue Weise sichtbar zu machen. In gewisser Hinsicht ließen diese Wissensproduktionen ein bestimmtes Soziales sogar erst entstehen: eine Bevölkerung, deren Merkmale in Zahlen vorliegen (in Geburts-, Mortalitäts-, Kriminalitäts-, Degenerationsraten). Auf Grundlage dieser „Erfindung des Sozialen“ (Donzelot) bildete sich nicht nur eine neue Auffassung von Kriminalität heraus, für die die quantitativen Studien Quetelets paradigmatisch sind (37). Vielmehr wurde damit in epistemischer Hinsicht die Entstehung einer neuen materiellen Wirklichkeit vorbereitet: des Wohlfahrtsstaates. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert kann sich ‚die Macht‘ nicht länger damit begnügen, auf Rechtsbrüche zu reagieren, sondern sieht sich gezwungen, Gefahren präventiv reduzieren und Risiken langfristig zu verwalten. „Unglückliche Ereignisse des Industriezeitalters, der Einsturz einer Brücke oder der Achsenbruch einer Eisenbahn“ (103) werden genauso zu alltäglichen Wirklichkeiten wie die soziale Frage, das urbane Elend und das Proletariat. Nachgezeichnet wird die Entstehung des uns bekannten staatlichen Versicherungssystem. Dieses erlaubte eine „technische Antwort auf die soziale Frage: die Sozialisierung von Risiken“ (102). Beschrieben wird damit ein Kontext umfassender Transformationen, in der sich das Verhältnis von Recht und Gesellschaft wandelt, und das Moralische Eingang in das Politische findet (vgl. 106-107). Es ist zugleich ein Kontext, dessen Sichtbarmachung Krasmann folgende These ermöglicht:
„Wenn die Kriminologie sich zum Experten des Gefahrenbegriffs und zum Garanten des Gesellschaftsschutzes erklären und sich auf diese Weise unabhängig vom strafrechtlichen Denken zur Wissenschaft vom ‚Kriminellen‘ machen konnte, […] dann konnte sie dies also vor einem bestimmten Hintergrund: Man hatte die Bevölkerung und die Gesellschaft als eine eigenständige Entität zu betrachten gelernt, gleichsam als ein zu schützendes eigenes Leben“ (127).
Die Kriminologie sieht sich also eingespannt in einen komplexen Funktionszusammenhang. Ihre historisch tradierte Aufgabe erweist sich darin, „eine der Verbindungen“ zwischen zwei historischen Machtformen „her[zu]stellen“: Der auf Bevölkerungsstatistiken setzenden, entpolitisierenden Regulierung der Bevölkerung, die Foucault als Bio-Macht bezeichnet, sowie der „auf das abweichende Subjekt oder den Kriminellen“ fokussierenden Macht, die vom „Modell der Norm bestimmt“ ist und die Foucault als Disziplinarmacht bezeichnet (ebd.). Derart in einen Macht-Wissen-Komplex eingespannt, erweist sich der macht- und herrschaftskritische Impetus der kritischen Kriminologie als eine äußerst komplizierte Angelegenheit.[1]
Dies leitet zur zweiten kritischen Operation über, die diese Studie vornimmt: eine macht- und sozialtheoretische Reflexion kriminologischer Grundannahmen. Vor dem Hintergrund der historischen Analyse, die den Wandel und die beständige Entstehung neuer Machtformen sichtbar macht, besteht die Herausforderung einer kritischen Kriminologie (wie einer kritischen Gesellschaftstheorie und -analyse überhaupt) zu allererst in einem Verzicht. Es ist die Herausforderung, „sich einer ungeduldigen Zuschreibung und Erklärung zu enthalten, die eine Funktionslogik erkennen und immer schon wissen will, wo das Zentrum der Macht sich befindet und wo schließlich eine Befreiung von Herrschaftsverhältnissen ansetzen müsste“ (158). Um der Fluidität von Machtformen gerecht zu werden, entwirft Krasmann ein Analyseraster, das sie als „Analytik der Oberfläche“ bezeichnet. Im Fokus dieser Perspektive stehen „Materialisierungen der Macht“ (160). Was ist hierunter zu verstehen?
Zur Erläuterung dieser Analytik kann der Begriff der Subjektivierung herangezogen werden. Genauso wie das wissenschaftliche (z.B. kriminologische) Erkenntnissubjekt als Ergebnis historischer Formierungen aufgefasst werden kann, so sind auch ‚der Staat‘, ‚die Ökonomie‘, ‚das Recht‘ und ‚die Gesellschaft‘ genau dies: „bewegliche Effekt[e]“ (Foucault). Das Konzept der Gouvernementalität erlaubt es, diese Subjektivierungen als Taktiken und Strategien zu untersuchen, die sich in Rationalitäten des Regierens assemblieren. Indem die großen sozialen Kategorien als temporäre Resultate spezifischer Subjektivierungsweisen verstanden werden, ist es nicht nur möglich, sie in ihrer wechselseitigen Verflochtenheit zu erfassen[2]. Vielmehr erweisen sich all die großen Kategorien als Zusammensetzung aus kleinstteiligen Praktiken. Und es sind diese Praktiken, die als „Weisen unseres Denkens, […] Sehens und […] Erkennens“ (157) den Untersuchungsgegenstand der Analytik der Oberfläche bilden. Ihr Auftauchen auf der sichtbaren Oberfläche dessen, was zu einer bestimmten Zeit gesagt, getan und bemerkt werden kann, erweitert die kritische Kriminologie dabei nicht nur macht- und sozialtheoretisch, sondern zugleich epistemologisch.
Wie einleitend erwähnt, konnte sich die kritische Kriminologie als Wissenschaft etablieren, indem sie eine neue Perspektive auf die gesellschaftliche Wirklichkeit des Verbrechens entwarf. Es ist die Befragung der hierin operativen Grundannahmen, die die dritte kritische Operation in Die Kriminalität der Gesellschaft darstellt. Herausgestellt wird die „Differenz zwischen einer Fokussierung auf die Konstruktion von Realität einerseits und die Machteffekte im Realen andererseits, auf die Foucault aus war“ (161). Beim geschilderten Aufkommen neuer Praktiken der Subjektivierung handelt es sich niemals nur um Verschiebungen in der Organisationsform der Macht, sondern immer auch um das Aufkommen neuer „ways of knowing the truth“ (Dean, zit. in Krasmann 2003, 162). Es geht also darum, die Prozesse nachzuzeichnen, durch welche sich neue Wahrheiten formen können, oder in den Worten von Susanne Krasmann: „zu rekonstruieren … was durch bestimmte Weisen der Problematisierung selbst als Wahrheit hervorgebracht wird“ (163). Der konstruktivistische Impuls der kritischen Kriminologie wird damit zugleich überstiegen und limitiert: an die Stelle des doch großen Anspruchs herauszufinden, was die Wahrheit (des Menschen, der Gesellschaft, des Verbrechens) ist, tritt die bescheidene, aber mühsame und kritische Erarbeitung dessen, wie diese Wahrheiten auf beständig neue Weise hervorgebracht werden.
Diese dreifache Umstellung hat Konsequenzen für den kriminologischen „Topos der Täterfixierung“. Die Analytik der Oberfläche unterbreitet wie dargelegt den Vorschlag, die „Signatur der Gegenwart als ein Geflecht von Technologien zu begreifen“ (175-6). Die zweite Hälfte von Die Kriminalität der Gesellschaft vollzieht genau dies für den Phänomenbereich des Verbrechens und des gesellschaftlichen Umgangs mit diesem. Erwies die historische Analyse die tendenzielle Eingebundenheit der kritischen Kriminologie in die Normativität und Regierungspraxis des Wohlfahrtsstaates, so wird nun im Anschluss an die Studien zur Ökonomisierung des Sozialen den Transformationen der Gegenwart nachgespürt. Was geschieht mit der Sozialtechnologie der Verbrechensprävention, wenn mit der neoliberalen Reform des Wohlfahrtsstaates zugleich „das Soziale als Bezugsfolie des Regierens verblasst“ (266)?
Krasmanns Studie rekonstruiert anhand zahlreicher Beispiele die vielfältigen Praxen eines Unsicherheits- und Risikomanagements unter neoliberalen Vorzeichen. Es zeigen sich Technologien, in denen das, was ein ‚Täter‘ ist, auf gänzlich neue Weise hervorgebracht wird, wie im Falle der neueren Theorie und Praxis des Profilings (vgl. 276f.). Der ‚Täter‘ ist aber zugleich eingebunden in mediale Spektakel, in denen weniger der Tatbestand des Verbrechens selbst, als vielmehr durch das Verbrechen hindurch regiert wird: ‚governing through crime‘. Oder aber die Figur des Täters fällt beinahe gänzlich aus dem Spektrum der zu behandelnden Gefahren. Es deutete sich bereits im wohlfahrstaatlich-statistischen Modell der gesellschaftlichen Normalverteilung an und wird im neoliberal-algorithmischen Risikomanagement noch stärker deutlich: bei ihnen handelt es sich um Technologien, in denen der Delinquent als „zentrale Wissenskategorie der Kriminologie verschwindet“ (243).
Und der macht- und herrschaftskritische Ansporn, mit dem sich die kritische Kriminologie von ihrem traditionellen Vorläufer zu emanzipieren trachtete? Susanne Krasmanns Die Kriminalität der Gesellschaft spielte nicht nur die Konsequenzen einer poststrukturalistischen Soziologie für die Wissenschaft vom Verbrechen durch. Das Werk legte gleichsam den Grundstein für eine neue Wissenschaftspraxis des Faches selbst. Mit der Erosion der Gewissheiten darüber, ‚wo‘ Macht und Herrschaft vorzufinden und was die Substanzen ihrer Fortbildung sind, werden sicherlich gewohnte Unterscheidungen und Trennlinien fluide, die eine klare Identifizierung in binären Schemata ermöglichen. Zugleich wird damit aber genau die Frage nach dem Politischen für die Kriminologie zu einer Frage der Disziplin selbst. In seinen Konsequenzen durchgespielt wurde damit der macht- und herrschaftskritische Impuls der kritischen Kriminologie selbst.
Literatur:
Garland, David ([i. Orig. 2001] 2008): Kultur der Kontrolle. Verbrechensbekämpfung und soziale Ordnung in der Gegenwart. Frankfurt/Main: Campus-Verl.
Krasmann, Susanne (2003): Die Kriminalität der Gesellschaft – Zur Gouvernementalität der Gegenwart. Konstanz: UVK.
Rusche, Georg (1933): Arbeitsmarkt und Strafvollzug – Gedanken zur Soziologie der Strafjustiz, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 2 (1), S. 63-78.
Vogelmann, Frieder (2017): Measuring, Disrupting, Emancipating: Three Pictures of Critique. In: Constellations, Jg. 24 (1), S. 101–112.
[1] Dies erfolgt in Übereinstimmung mit Horkheimers Unterscheidung zwischen traditioneller und kritischer Theorie: Selbstreflexion des wissenschaftlich-erkennenden Subjekts auf die Möglichkeitsbedingungen der eigenen Erkenntnispraxis, wobei Letztere nicht zuletzt die Form der unbewussten Verflochtenheit mit Macht- und Herrschaftspraxen annehmen kann (vgl. Vogelmann 2017, 108).
[2] Wie dies auch die Systemtheorie Luhmanns möglich macht. Diese klingt zwar in Krasmanns Buchtitel an, wird jedoch, abgesehen von vereinzelten Referenzen, durch die Heranziehung der genealogischen Perspektive Foucaults überschritten. Nach Letzterer erweist sich die Logik von System und Funktion nämlich selbst als kontingentes Resultat politischer Kämpfe, als Regierungsweise.