Oliver Eberl: Replik (BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei)

Ich danke Leon Abich und David Weiß sehr herzlich für die Organisation und redaktionelle Betreuung dieses Projekts des Hamburger Blogs 100×100, von dem ich sehr viel Bedenkenswertes mitnehme. Die Beitragenden, denen ich ebenfalls herzlich danke, haben das Kunststück fertiggebracht, sehr viele interessante und wichtige Fragen aufzuwerfen und mir dabei dennoch das Gefühl zu geben, Satz für Satz richtig verstanden worden zu sein. Ihre Beiträge beziehen sich dabei vor allem auf meine Hobbes- und Kant-Interpretation, die kurz gesagt, darin besteht, dass Hobbes den Naturzustand aus der kolonialen Beschreibung der amerikanischen Ureinwohner gewinnt und Kant diesen negativen Begriff in die Kritik der europäischen Staaten überträgt. Ihre Rückfragen betreffen Punkte, die nicht einfach beantwortet oder zurückgewiesen werden können, sondern weiter diskutiert werden müssen. Dabei sind gerade die unterschiedlichen Lesarten und Interessen produktiv und weiterführend. Ich möchte daher einige Punkte ausführlicher diskutieren, bei einigen anderen noch einmal meine Lesart oder Sichtweise betonen und bei einigen schlicht meine Zustimmung erklären. Alle scheinen mir zuzustimmen, dass eine Dekolonisierung Politischer Theorie und des Staatsdenkens notwendig und erstrebenswert und mein Zugang zu diesem Projekt nicht ganz irreführend ist. Dennoch provoziert der von mir vorgeschlagene Weg einer Dekolonisierung Politischer Theorie natürlich Rückfragen. Diese beziehen sich auf die theoretische Durchführung der Dekolonisierung, die mögliche Rolle von Habermas‘ Metapher einer Kolonialisierung der Lebenswelt, die Weiterführung des Themas in der konkreten Analyse staatlichen Handelns, die mögliche Alternative der Theorie von John Rawls und schließlich Details zu meiner Kant-Interpretation, die die Möglichkeit betreffen, Kants Naturzustands- bzw. Zivilisationskonzept zu erhalten. Ich werde diese Themen in einzelnen Abschnitten behandeln.

 

Dekolonisierung als Abschied (auch) vom Recht?

Robin Koss nimmt die im Buch angedeutete Unterscheidung zwischen Begründen und Befragen auf und konstatiert richtig einen Abschied von der Begründung des Staates. Wie Koss feststellt, schlage ich mich aber nicht auf die Seite der Befragung, sondern versuche, die Befragung der Politischen Theorie auf ihren inhärenten Kolonialismus, also auf die Verarbeitung kolonialer Überzeugungen in den Begriffen der Politischen Theorie, erkennbar zu machen. Dazu bediene ich mich methodisch, wie Koss freundlich schreibt, eines „erfrischenden Pragmatismus“, der Momente der Selbstaufklärung von Ingeborg Maus, die Affizierung von Begriffen nach Ina Kerner und Diskurse als Praktiken bei Foucault zusammenführt. Man könnte noch die Ideologiekritik von Wissenschafts- und Alltagsverständnis im Anschluss an Hauke Brunkhorst ergänzen, auch wenn Foucault die Unterscheidung von einem richtigen und falschen Bewusstsein ablehnt, wie Koss betont. Er fragt nach, ob ich wohl „die Dekolonisierung der politischen Theorie durch eine Befreiung vom Begriffspaar Barbarei/Naturzustand und der hieran anschließenden Transformation zur Staatsbegrenzungstheorie bereits für vollbracht“ halte. Er gewinnt einen solchen Eindruck aus der Auseinandersetzung mit Kants Staatskritik, deren Inhalte sich relativ leicht in die Sprache des Rechts – wie ich im Kapitel zum Begriff des Genozids zeige – übersetzen ließen. Letztlich könne es sich bei der „bereinigten“ politischen Theorie[1] schlicht um einen begrifflich geläuterten Kant handeln, der mit seinem Antikolonialismus letztlich das Programm der Kritik vorgegeben hat. Hier würde ich an eine Grenze der Selbstaufklärung stoßen, schreibt Koss: „Entsprechend kann mit Kant die koloniale Ent-Eignung kritisiert werden, jedoch nicht das Selbst- und Weltverhältnis, das durch die Verknüpfung von Autonomie mit Eigentum und der Einrichtung einer Eigentumsordnung überhaupt erst konstituiert wird.“ Indigene seien gezwungen worden, so Koss im Anschluss an Daniel Loick, den Konflikt im Medium des Rechts und im System des Eigentums zu führen, was selbst einer Kolonialisierung entspreche. Konsequent schlussfolgert Koss, man müsse daher Dekolonisierung als eine „radikale epistemische Revolution der Denkungsart“ verstehen, die „zum Bruch mit der bürgerlichen Form des Rechts und seiner Fixierung auf Eigentum führt“. Damit geht Koss noch einen Schritt weiter als ich, denn er sieht Eigentum und Recht am Anfang des Kolonialismus, ich aber staatliche Expansion (von der mir bewusst ist, dass sie unter Druck oder im Bündnis mit privaten Unternehmern mit dem Ziel der Aneignung vollzogen wurde). Gleichzeitig ist mir die Schlussfolgerung zu schnell, weil ich nicht sicher bin, dass hier Problem, Ursache und Wirkung wirklich hinreichend trennscharf bestimmt sind. Zwar steht Eigentum am Beginn der Staatsdiskussion und Recht erscheint als Lösung des Eigentumsproblem, aber doch nicht nur. Es ist nicht zu klären, welche Formen der Konfliktaustragung möglich werden, wenn wir einmal keine Eigentumskonflikte mehr zu lösen hätten, aber solange es Eigentum und staatliche Ordnungen gibt (und es ist nicht ausgemacht, dass dies ohne Schritt in die Dystopie zu ändern ist), haben wir mit dem Recht ein Medium, das nicht aufgegeben werden sollte. Ich sehe also Recht nicht als Komplizen des Kolonialismus – sondern mit Kant nur das koloniale Scheinrecht. „Öffentliches Recht“ würde dem Kolonialismus eher Grenzen setzen als ihn zu bestätigen. Vor allem sehe ich das Problem darin, dass betroffene Indigene jetzt Landrechte und Souveränität wollen und benötigen, und nicht warten können, bis sich in den Metropolen die Revolution der Denkungsart durchgesetzt hat. Dabei sei auch angemerkt, dass Landrechte auch kollektive Nutzung und Formen kollektiven Eigentums bedeuten können. Den Goldsuchern, die heute in den Amazonas eindringen, muss man am Eigentumsbegriff klarmachen, dass sie sich auf fremdem Territorium befinden und die Nutzungsrechte anderer verletzen. Die Unterlassung dieser Klarstellung führt sonst umgekehrt in der Praxis zu einer erneuten Kolonialisierung der bereits Kolonisierten – was eine noch absurdere Folge wäre als die Beibehaltung des Rechtsbegriffs.

 

Kolonialisierung der Lebenswelt als Metapher der Dekolonisierung?

Moritz Fromm nimmt sich meinen Vorschlag vor, für eine kritische Staatstheorie, die Kolonialismus-sensibel ist, auf Jürgen Habermas‘ Figur der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ zurückzugreifen. Sehr klar beschreibt er das von mir benannte Problem der „mangelnden analytischen Eignung“ der Metapher der „Barbarei“, das spezifisch Moderne der Gewaltausübung zu erfassen. So will ich sagen, dass der moralische Skandal darin liegt, mit einer kolonialen Abwertungsvokabel koloniale und andere Menschheitsverbrechen zu beschreiben und damit eine Zuschreibung über die Ursachen der Gewalt zu suggerieren, dies dem Typus der kolonisierten Gesellschaften zuschreiben und so zur Entlastung der kolonialen Gesellschaften/Staaten beitragen. Ich will aber auch sagen, dass es analytisch-gesellschaftstheoretisch ungenügend ist, mit einer vornehmlich wertenden Vokabel zu operieren. Die Umstellung soll, wie Fromm ausführt, die Gewalt und die Grausamkeiten „als Spezifikum staatlicher Ordnungsbildung“ und als „Kontinuum expansiver Ordnungsbildung“ erkennbar machen. Schlüssig beschreibt Fromm, dass dies bedeuten würde, die von Habermas benannten Subsysteme Wirtschaft und Staat expansiv zu denken. Diese Sichtweise hätte den Vorteil, die äußere Expansion mit der inneren in einem Kontinuum zu denken und nicht mehr künstlich zu trennen. Dem widerspreche ich sicher nicht. Ich stimme Fromm darin zu, dass der Analyserahmen auf Gewaltphänomene des 20. und 21. Jahrhunderts erweitert werden müsste. Auch eine Notwendigkeit einer Überwindung der Trennungsthese von System und Lebenswelt sehe ich.[2] Seinen Hinweis, dass die Kolonialisierung der Lebenswelt bei Habermas keinem „Rückfall“, sondern eher einem „Umschlagen“ entspreche, nehme ich gerne auf. Moritz Fromm stellt fest, dass zur Nutzung dieses Konzeptes zur Staatskritik „die Theorie ihres Fortschrittscharakters entkleidet werden“ müsste. Es ist eine schwierige Aufgabe, zu bestimmen, wie dies gelingt und wie man dabei einem grenzenlosen Relativismus entgehen kann. Fromm bietet dazu einen Vorschlag: „Gelingt es der Politischen Theorie diese Logik auf den Begriff zu bringen, lassen sich die Pathologien im Zentrum durch eine innere, die Gewalt an der Peripherie durch eine äußere Kolonialisierung erklären.“ Politische Theorie sollte der Analyse der Pathologien und der Gewalt des Staates mehr Aufmerksamkeit widmen. Dazu sollte sie, so ist das vorgetragene Argument, Kolonialismus als Staatstätigkeit begreifen und ihre Begriffe auf koloniale Gehalte überprüfen. Davon ausgehend können auch die inneren expansiven Staatstätigkeiten in den Blick genommen werden. Moritz Fromm hat hierzu einen hilfreichen Vorschlag gemacht. Wie er sehe ich die Logik der Expansion mit der Metapher der Kolonisierung verbunden und leite daraus ihren möglichen diagnostischen und theoretischen Wert ab. Die Frage des Fortschritts ist komplizierter, denn es wäre zu bestimmen, welche Art Fortschritt überhaupt gemeint sein kann. Sicher dabei ist, dass es um eine Alternative zum technologischen Fortschrittsbegriff gehen muss. Die Unterscheidung von Zivilisation, Moralität und Kultur, die Kant vornimmt, könnte hierzu ein Anhaltspunkt sein (siehe dazu unten).

 

Kritische Untersuchung staatlicher Institutionen

Hieran schließt in gewisser Weise der Beitrag von Nele Eisbrenner an. Sie interessiert sich vor allem für die Auswirkungen der von mir beschriebenen „kolonial geprägten Sichtweise“ und arbeitet Anschlussmöglichkeiten für eine „kritische Untersuchung staatlicher Institutionen wie Polizei und Militär“ (ich ergänze: man könnte dies auch auf die Stellen der Verwaltung und Justiz, vielleicht sogar die Schulen ausweiten), obwohl ich das, wie sie richtig schreibt, nicht ausführe. Ich stimme ihr voll zu, dass ich (nur) einen Beitrag dazu leiste und viele andere wichtig und notwendig sind. Es freut mich, dass sie Möglichkeiten sieht, den „Übersetzungsschritt“ für meinen Beitrag zu machen, der darin besteht, sich gesellschaftspolitisch weiter aufzuklären. Ich sehe mein Buch daher als eine Art Türöffner beschrieben, da das Ende „sich fast wie der Beginn der eigentlichen Auseinandersetzung liest“. Denn natürlich geht es auch um die Frage, wie wir aktuelle Ausprägungen des Missbrauchs des staatlichen Gewaltmonopols verstehen und bearbeiten können. Ich bin mit Eisbrenner ganz einer Meinung, dass die Übergriffe sowie die Praxis des racial profiling der Polizei zu diesen Auswirkungen zählen, man kann dies sicher noch ausdehnen auf den Gebrauch der Strafe in liberalen Gesellschaften schlechthin.[3] Allerdings kann ich nicht beurteilen, inwiefern die deutsche Polizei wirklich spezifische „Spuren der Kolonialzeit in sich trägt“. (In den USA wurde dieses Argument ja bezogen auf die Sklaverei durchaus historisch plausibel gemacht, in Deutschland ist natürlich an die Prägung durch den Nationalsozialismus zu denken.) Es scheint mir aber wie Eisbrenner ausgemacht, dass die Behandlung von Menschen aus ehemaligen Kolonien durch die Polizei häufig die Behandlung als Freie und Gleiche verletzt und damit auf ein Demokratieproblem verweist.[4] Daher ist die Frage berechtigt, „wie die Staaten und insbesondere die Siedlungsstaaten nun ihre Legitimation neu begründen können“. Zur Beantwortung müsse man aber den Finger „tiefer in die Wunde legen“. Meine Antwort auf diese Frage ist vielleicht unbefriedigend (dies hat ja bereits Koss durchblicken lassen). Radikale Demokratie muss sich über die Verwirklichung des Grundsatzes, Freie und Gleiche zur Selbstgesetzgebung zu vereinigen, noch einmal neu Rechenschaft ablegen. Eine Form dazu ist in meinen Augen die Anerkennung indigener Souveränitätsansprüche in Siedlerstaaten. Dazu frage ich, wie dies in Form einer indigenen Bürgerschaft gelingen kann. Für andere Staaten müssten entsprechend angepasste Formen demokratischer Berücksichtigung gefunden werden. Wichtig erscheint mir aber, den gesellschaftlichen Druck auf exekutive Stellen durch unabhängige Untersuchungen von Beschwerden und Verdachtsfällen zu erhöhen. Wenn ein Mensch von einem Polizisten oder einer Polizistin getötet wird oder in Polizeigewahrsam oder im Gefängnis umkommt, müsste der Staat selbst das als maximales Versagen begreifen, das, wie Eisbrenner schreibt, den Gesellschaftsvertrag verletzt. Dies zu konstatieren liegt eher in meiner Kompetenz als die nötigen Verfahren zur Einbindung von Betroffenen und weiteren Akteuren in solche Untersuchungen oder die Ausbildung der Polizei zu konzipieren.

 

Der Urzustand von Rawls als Naturzustand?

Lore-Marie Junghans schlägt vor, noch einmal andere Varianten der Staatsbegründung und -kritik zu prüfen. Sie sieht zwar meine Beschreibung von Hobbes‘ Verwendung eines negativen Naturzustands als zutreffend an, bezweifelt aber, dass dies für alle Gesellschaftsvertragstheorien gelte. Ihre Frage, „ob Eberl eine Prägung auch bei den auf Hobbes folgenden Naturzustandskonzeptionen am Werk sieht“, ist tatsächlich – wie Junghans zu Recht feststellt – an einer Stelle offengeblieben. Zwar sehe ich Kant durchaus in der Nachfolge von Hobbes‘ Beschreibung des Naturzustands stehend, äußere mich aber nicht zu Rawls und auch nicht ausführlich zu Locke. Dies mag man als Lücken ansehen, beide Theorie erschienen mir nicht zentral für den Punkt, dass Theorien, die den Staat entweder aus der Dichotomie Staatlichkeit/Nicht-Staatlichkeit begründen (wie Hobbes) oder ihn kritisieren (wie Kant) einer „kolonial kontaminierten“ Begrifflichkeit anhängen. Lockes Naturzustandstheorie ist zweifellos interessant, weil sie ebenso starke und eindeutige Verweise und Bezüge auf Amerika enthält wie die von Hobbes und daher als Bestätigung meiner These gelesen werden kann. Sie liefert aber insgesamt keine dichotome Gegenüberstellung, sondern beschreibt eher eine graduelle Entwicklung des Naturzustands und steht damit in dieser Hinsicht Ferguson und Rousseau näher als Hobbes. Junghans erinnert zu Recht daran, dass der Kontraktualismus auch etabliert hat, dass „Herrschaft grundsätzlich legitimationsbedürftig ist“. Folgendes kann ich dazu sagen: Wenn der Kontraktualismus Herrschaft legitimiert hat, dann hat er dies in meinen Augen in der Theorie von Hobbes auf eine irreführende Art getan. Seine Legitimation ist eine Schein-Legitimation, sie ist nicht nur ein Vertrag der Reichen, wie Rousseau sagt, sie ist auf dem Schein (oder der systematischen Fehlwahrnehmung) des Lebens nicht-staatlicher Gesellschaften aufgebaut. Junghans zitiert Wolfgang Kersting mit der Bemerkung, „Die Spezies der Hobbesianer ist selten“ – es handele sich also um eine radikale Sonderposition. Mein Eindruck ist (ähnlich wie der von Nele Eisbrenner), dass es in Zeiten der Krise eine Menge Hobbesianer gibt, die nämlich dann den „failed state“, den Bürgerkrieg, den Krieg, den Terror, das Kulturversagen oder irgendetwas anderes als Naturzustand beschreiben. Das ist sozusagen der Ausgangspunkt des Buches und ich gebe mir Mühe die Spur dieses Hobbesianismus bei Kant und bis zu Elias wenigstens illustrativ nachzuzeichnen. Kant behält den Hobbesschen Sprachgebrauch bei, begründet aber die Demokratisierung des Staates und nicht jede Form von Staatlichkeit. An dieser Rationalisierungsleistung des Kontraktualismus will ich festhalten, weil ich tatsächlich denke (wie Robin Koss herausgearbeitet hat), dass sich bei Kant Ansatzpunkte zur normativen Kritik von Staatlichkeit finden lassen.[5] Ob John Rawls mit seiner Theorie des „Urzustands“ überhaupt eine „Naturzustandsvorstellung“ hat, habe ich im Buch nicht diskutiert und kann es auch hier nicht tun. Ich habe Rawls nicht in den Kanon der dichotomen Staatsbegründung oder -kritik eingereiht, weil ich ihn nicht in dieser Reihe sehe – und gegen diese richtet sich meine Kritik. Es ist dann aber immer noch zu klären, ob die Urzustands-Konstruktion wirklich geeignet ist, koloniales Unrecht zu erfassen und den Unterschied, der zwischen der Gruppe der ehemals Kolonisierten und den ehemals Kolonisierenden (oder ihren Staaten) besteht, angemessen zu thematisieren und in die Gerechtigkeitstheorie aufnehmen zu können.[6] Die Völkerrechtskonzeption von Rawls bietet Anlass anzunehmen, dass koloniale Geschichte und die aus ihr folgenden Ansprüche nicht als solche von ihm thematisiert werden können.

 

Normative Begründung des Staates ohne Naturzustand?

Dina Delgado und David Müller beschreiben die Pointe des Buches als Überwindung der dichotomischen Gegenüberstellung von Staatlichkeit und Nichtstaatlichkeit. Sie konzentrieren sich dabei auf die Auseinandersetzung mit meiner Kant-Interpretation, besonders den Naturzustand bei Kant. Es ist richtig, dass meine These ist, dass der Naturzustand nicht ohne „Barbarei“ gedacht werden kann. Kant liefert das Beispiel dafür, indem er den zwischenstaatlichen Zustand ohne gemeinsames („öffentliches“) Völkerrecht als „Naturzustand“ beschreibt und das kriegerische Verhalten der Staaten nach außen „barbarisch“ nennt. Mein zentrales Argument zur Problematik von Kants Begriffen ist, dass er mit ihnen auf einer abstrakten Ebene zur Abwertung nicht-staatlicher außer-europäischer Gesellschaften beigetragen hat. Ihre Rückfrage (ähnlich der von Junghans), ob nicht der „Naturzustand“ durch ein „Säurebad der Kritik“ doch noch begrifflich zu retten sein könnte, weil die Organisation von Demokratie gerade in einer technisierten und differenzierten Gesellschaft eine politische staatliche Ordnung benötige, kann ich nicht einfach beantworten. Ich denke, dass zur Begründung der Demokratie kein Naturzustand nötig ist. (Man denke an Jürgen Habermas, der sogar noch ohne Urzustand auskommt). Delgado und Müller wollen aber gerade diese Möglichkeit offenhalten und fragen: „Muss also jede Dichotomie von Staat/Nichtstaat zur normativen Begründung politischer Organisationen abgelehnt werden?“ Dazu müsste man die auffindbaren Dichotomien prüfen. Es ist denkbar, dass sich eine Unterscheidung findet, die zur normativen Begründung politischer Organisationen ohne Abwertung des Nichtstaates zu finden ist. Was ich in der Tradition der Politischen Theorie vorgefunden habe, verweist allerdings auf das Gegenteil. Daher habe ich mich auf die Kritik des Vorhandenen konzentriert. Bezogen auf den Staat würde ich es genauso halten und die existierenden Formen und Praktiken im Angesicht der Forderung der Demokratie kritisieren – allerdings ohne sie dafür als „Barbarei“ zu markieren.

 

Zivilisierung als Moralisierung bei Kant

In ähnlicher Weise fragen Leon Abich und Finn Haberkost, ob ich vielleicht zu weit gegangen bin mit meinem „Exorzismus“ des Naturzustandes bei Kant. Sie weisen auf die doppelte Bedeutung der „Wildheit“ in Kants Geschichts- und Rechtsphilosophie hin. Dazu führen sie Kants Unterscheidung von Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung ein und wollen zeigen, dass „Zivilisierung für […] Kant nur eine Moralisierung bedeuten kann“. Gerade angesichts von Kants Kritik an der unvollendeten Moralisierung der europäischen Staaten (und ihrer Menschen), werde der Begriff des Naturzustands von seiner eurozentrischen Funktion „entlastet“. Dieser interessante Punkt wendet mein Argument mit Kant gegen mich und läuft darauf hinaus, dass Kant bereits meine Kritik an den Prämissen der Rede von einem „Rückfall in die Barbarei“ mitvertreten habe. Dieser Punkt zielt also einerseits auf meine Kritik an Kant, die in Teilen unzutreffend sein könnte und andererseits auf das daraus folgende Gegen-Programm, das möglicherweise aus den falschen Schlüssen abgeleitet wird. Wie Robin Koss (im Anschluss an McPherson) sehen sie die Notwendigkeit des Eintritts in den bürgerlichen (staatlichen) Zustand (im Anschluss an Herb und Ludwig) eigentumstheoretisch begründet. Damit wäre begründungslogisch der Zusammenhang des Hobbesschen Defizitmodells aufgelöst und durch ein Eigeninteresse der Eigentümer ersetzt. Dem gegenüber betone ich (mit Peter Niesen und Ingeborg Maus) stärker, dass das Problem im Naturzustand nicht unsichere Eigentumsverhältnisse, sondern unvollständige Rechtsverhältnisse sind, die wir als „epistemischen Unilateralismus“ beschreiben. Richtig ist trotzdem, dass Kant den Naturzustand als Mangelzustand nicht benötigt, weil der Naturzustand nicht mehr den Staat, sondern nur seine Kritik begründet. Insofern steuern Abich und Haberkost zielstrebig auf die Frage zu, ob Kant, der also keine anthropologischen Annahmen im Naturzustand verarbeitet, „sie dennoch hinzufügt und weiterhin vertritt“. Wenn dies so sein sollte, müsste ich zeigen, dass Kant den Naturzustand über den Begriff der Wildheit (der zweifellos in engstem Zusammenhang zum Naturzustand steht) nicht nur rechtsphilosophisch im weitesten Sinne neutral, sondern auch geschichtsphilosophisch im Sinne eines „zivilisatorischen Tiefstandes“ benutzt. Diese These wollen sie durch eine Differenzierung von Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung abschwächen. Der Einwand beruft sich vor allem auf das ungeteilte Urteil Kants über die moralische Rückständigkeit aller Menschen – der Menschen im Naturzustand ebenso wie der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Ähnliches belege die Unterscheidung von Kultivierung, Zivilisierung und Moralisierung: Hier ergibt sich das Bild, dass Kant (im Einvernehmen mit Rousseaus Zweitem Diskurs) Kunst und Wissenschaft der Kultivierung zuordnet, Zivilisierung aber als „Artigkeit“ und „äußere Anständigkeit“ (man könnte hier an Elias‘ Begriff der Zivilisation denken) beschreibt. Nicht-europäische Gesellschaften würden dann vor allem im Rahmen der Kultur und Zivilisation beschrieben, ein Mangel an Moralität aber beiden abgesprochen. Dadurch wäre die Dichotomie, so Abich und Haberkost, „unvollständig“. Ich denke, man müsste für eine weitergehende Diskussion noch einmal genau schauen, in welchem Zusammenhang Elemente der Kultur mit der Moralisierung bei Kant stehen. Ich bin zwar ebenfalls der Auffassung, dass er Rousseaus Zivilisationskritik (verstanden als Kultur) weitgehend teilt, doch scheint mir die Ablehnung des Rousseausschen „Schäferlebens“ und die Einordnung der Subsistenzweisen für eine Fortschrittskonzeption zu sprechen (die auch Moritz Fromm sieht), die dann wiederum nicht-staatliche Gesellschaften im Hintertreffen sieht. Allerdings ist der Hinweis sehr bedenkenswert, dass Kant sich nicht für die technische, sondern ausschließlich moralische „Zivilisation“ interessiert – und hier liegt auch die Verbindung zur Bedeutung des Rechts.

 

Schluss: Wie weiter?

Diese intensive Diskussion einiger Unklarheiten und möglicher Schlussfolgerungen meiner Thesen führt schließlich zu dem Punkt von Nele Eisbrenner, dass die Politische Theorie damit ja erst „am Beginn der eigentlichen Auseinandersetzung“ steht. Zunächst lässt sich festhalten, dass damit ja auch viel erreicht wäre. Klarheit über die „eigentlichen Auseinandersetzungen“ ist in der Politischen Theorie ja eigentlich unendlich umstritten. Bezogen auf meinen Punkt aber stellt sich als Hauptfrage, was es heißen soll, von einer Staatsbegründungstheorie auf eine Staatsbegrenzungstheorie umzustellen. Dies bedeutet in meinen Augen schlicht, radikale Demokratietheorie zu betreiben. Dazu verstehe ich (mit Kant) die Staatsgewalt als usurpierte demokratische Gewalt, (mit Maus) Volkssouveränität als Gegenspieler der exekutiven Instanzen und (mit Brunkhorst) das Bündnis staatlicher mit ökonomischer Herrschaft als System der Fremdrepräsentation, das durch Selbstrepräsentation zu ersetzen ist. Nur mehr Demokratie hilft gegen die Systeme Staat und Ökonomie, denen die Menschheit unterworfen ist. Daraus schließlich ergibt sich die Frage, ob Demokratie nicht aber den Staat zu ihrer Institutionalisierung benötigt. Meine Antwort beruht auf einer Differenzierung von Staats- und Rechtszustand: das Leben im Rechtszustand beinhaltet kein Staatsgebot, nur ein Verfassungsgebot. Die demokratische Rechtsgenossenschaft ist ohne Staat denkbar. In der existierenden Staatenwelt jedoch dient die Idee der demokratischen Rechtsgenossenschaft der Begrenzung staatlicher Übergriffe.[7]


[1] Koss stellt zutreffend fest, dass es sich dabei etwas unglücklich um eine „Sauberkeit“ evozierende Beschreibung handelt. Sollte sich dieser Eindruck auch bei anderen Leser*innen einstellen, wäre dies für mich bedrückend, weil der faschistische Kampf des „Trockenen“ gegen das „Feuchte“ mir sehr wohl bewusst ist. Siehe dazu Jonathan Littell, Das Trockene und das Feuchte. Ein kurzer Einfall in faschistisches Gelände, Berlin Verlag 2009. Gleichwohl verwende ich „bereinigt“ im Sinne des „bereinigt von“ Einflüssen, Prägungen etc. Das „Aufräumen“ im Sinne von Ordnung schaffen, scheint mir diesen Sinn eher zu verfehlen. Das Verhältnis von Metaphern und Politischer Theorie ist wohl noch einmal einen eigenen Beitrag wert.

[2] Siehe hierzu Oliver Eberl/David Salomon: Politische Theorie in der postdemokratischen Konstellation. Gesellschaftstheoretische Grundlagen einer sozialen Demokratietheorie, in: Michael Haus/Sybille De La Rosa (Hg.), Politische Theorie und Gesellschaftstheorie – Zwischen Erneuerung und Ernüchterung, Baden-Baden: Nomos 2016, 337-362.

[3] Didier Fassin, Der Wille zum Strafen, Suhrkamp Verlag 2018.

[4] Darüber hinaus bin ich auch der Auffassung, dass der Blick auf die „Barbaren“ sich auch von den Kolonien nach innen wenden kann (dies scheint Eisbrenner ebenfalls für möglich zu halten). Eine solche Bewegung untersuche ich mit den Kolleginnen und Kollegen des Darmstädter Projekts „Der Blick nach unten: Soziale Konflikte in der Ideengeschichte der Demokratie“ anhand der Diskurse des 19. Jahrhunderts, in denen verarmten Arbeiterinnen und Arbeitern als „barbarisch“ und als „in die Barbarei“ zurückgefallen beschrieben wurden. Die Verschmelzung kolonialer und sozialer Abwertung ist ein bleibender Effekt dieser Diskurse.

[5] Siehe hierzu die wichtige Arbeit von Martin Welsch, Anfangsgründe der Volkssouveränität: Immanuel Kants ‚Staatsrecht‘ in der „Metaphysik der Sitten“, Klostermann 2021.

[6] Siehe zum Ganzen, Katrina Forrester, In the Shadow of Justice: Postwar Liberalism and the Remaking of Political Philosophy, Princeton University Press 2019.

[7] Ich danke Hauke Brunkhorst und Martin Welsch für die Diskussion über diese Fragen in Hauke Brunkhorsts Kolloquium und die Einsicht in das Kant-Kapitel seines neuen Buches zu Rechtsrevolutionen. Peter Niesen danke ich für die Initiative zu diesem Forum und die immer wieder treffenden Rückfragen.


Hier geht es zum einführenden Beitrag des Buchforums: BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei – Ankündigung und Vorbemerkungen

und hier zum letzten Beitrag: Nele Eisbrenner: Koloniale Kontinuitäten in Mitten des Staates – Warum Dekolonisierung als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden muss (BUCHFORUM Naturzustand und Barbarei #6)

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