„Gibt es einen erlaubten Krieg?“ Oliver Vornfeld über Gerhard Beestermöller, Thomas von Aquin und der gerechte Krieg (1990)

Das Institut für Theologie und Frieden wurde 1978 in Hamburg gegründet und setzt sich in interdisziplinären Forschungsprojekten und Publikationen mit Fragen von Krieg, Friedensgefährdung und Frieden auseinander. In seiner umfangreichen Bibliothek sammelt es theologische und philosophische Literatur zum Thema Frieden. Als Einrichtung in der Trägerschaft der Militärseelsorge berät es die katholische Kirche in friedensethischen Fragen. Gerhard Beestermöller ist dem Institut seit 1984 verbunden. Zwischenzeitlich war der katholische Theologe stellvertretender Direktor, inzwischen ist er Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Instituts. Seit 2014 ist Beestermöller Professor für Moraltheologie und Sozialethik am Centre Jean XIII (Luxemburg). In seiner Dissertation rekonstruiert er den politiktheoretisch-ideengeschichtlichen Gehalt von Thomas von Auqins theologischem Hauptwerk.

Oliver Vornfeld studierte Soziologie und Religionswissenschaft und studiert Evangelische Theologie an der Universität Hamburg. 2019 wurde ihm der Förderpreis des Fördervereins des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Hamburg für eine Arbeit über John Deweys Berufspädagogik verliehen.


Gerhard Beestermöllers (der Sache nach) dogmengeschichtliche Dissertation Thomas von Aquin und der gerechte Krieg. Friedensethik im theologischen Kontext der Summa Theologiae erschien 1990 bei Bachem (Köln) als 4. Band der Reihe Theologie und Frieden des gleichnamigen Instituts. Thomas befasst sich in seinem Hauptwerk, der Summa Theologiae[1], ausführlich mit Fragen nach dem gerechten Krieg – und dies, wie Beestermöller nachweist, nicht nur in STh II-II, Questio 40 (De Bello/Der Krieg), sondern auch an vielen anderen Stellen.

Thomas, der 1224 oder 1225 bei Aquino, einer Stadt in Mittelitalien, als jüngstes Kind einer Adelsfamilie geboren wurde und 1274 starb, war Mönch im kurz zuvor als Bettelorden gegründeten Dominikanerorden und lehrte in Paris als Magister (vergleichbar mit dem heutigen Titel des Professors) der Theologie. Sein umfangreiches Werk, deren Mittelpunkt die Summa Theologiae darstellt, wird inzwischen landläufig als Höhepunkt der Scholastik angesehen, einer mittelalterlichen universitären Theologieströmung, die sich bemühte, Glaube und Wissen auf rationale Weise zusammenzubringen (bekannt sind bspw. die sog. „Gottesbeweise“). Die Fragment gebliebene Summa Theologiae des Thomas hat, wie es zu dieser Zeit in der Scholastik üblich war, den Anspruch, den gesamten Inhalt der christlichen Religion bündig darzustellen. Thomas unternimmt dies in einer den Disputationen nachgebildeten Form: in Artikeln werden Fragen formuliert, die in Abwägung von Pro- und Contra-Argumenten diskutiert werden. Thematisch zusammengehörige Artikel sind dabei in Questiones zusammengefasst. Die Summa Theologiae enthält insgesamt 2669 Artikel in 512 Questionen.[2]

Beestermöllers Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil, mit dem Stellenwert von Prolegomena, wird nachgezeichnet, warum Thomas der Auffassung ist, theologische Aussagen zum gerechten Krieg treffen zu können. Im anderen Teil wird inhaltlich aufgezeigt, was für Thomas einen gerechten Krieg ausmacht. Und im letzten Teil zeigt Beestermöller, wie Thomas diese Kriterien in apologetischer Absicht als Maßstab für von der Kirche geführte Kriege anwendet.

Zum ersten Teil. Es gehört zu den Grundüberzeugen auch der christlichen Theologie, dass Gott den Menschen mit Gottesebenbildlichkeit (imago Dei) schuf (Gen 1,27: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“). Was dies genau bedeutet ist seit jeher Gegenstand hitziger theologischer Debatten. Thomas ist der Auffassung, dass der Mensch seine Gottesebenbildlichkeit eben dadurch realisiert, dass er „sittlich gut handelt“ (S. 31), d. h. dass er Gottes Willen erfüllt. Sittliches Handeln ist bei Thomas bestimmt als vernunftgeleitetes Handeln. Dieses wird dadurch möglich, dass dem Menschen von Gott ein natürliches Gesetz (lex naturalis) eingegeben ist, das von dem ewigen Gesetz Gottes (lex aeterna) herkommt und auf dieses hinzielt. Die lex naturalis wird vom Menschen zur lex humana ausgestaltet, indem konkrete Bestimmungen (positives Recht) sowohl aus den Grundsätzen der lex naturalis (wie „du sollst nicht töten“) geschlussfolgert, als auch determiniert werden (wie das Strafmaß). Die lex humana hat das Gemeinwohl zum Ziel, für das der Einzelne den Maßstab bildet. Wer eine gesetzliche Ordnung konzipiert, übernimmt also die Stellvertretung Gottes, da er „Herr seiner Akte“ (S. 53) ist, Verantwortung trägt und sich um das Heil seiner Untertanen sorgt. Denn das Ziel der vernünftigen Gemeinordnung und ihrer Befolgung, insofern in ihr der Wille Gottes zum Ausdruck kommt, ist Sorge zu tragen für das eigene Seelenheil ebenso wie für das der Nächsten. Es zeigt sich also, dass theologische Aussagen über den gerechten Krieg getroffen werden können, da positives weltliches Recht und weltliche Ordnung ihren Ursprung und ihr Ziel bei Gott haben.

Zum zweiten Teil. Nach dem mittelalterlichen Verständnis der „Zweischwerterlehre“ autorisiert die Kirche die gesellschaftliche Ordnung – und zwar nicht nur die der christlichen Gesellschaft, sondern die der gesamten Welt, d. h. auch die der Nichtchristen. Geistliche und weltliche Gewalt liegen bei der Kirche (d. h. beim Papst), wobei diese den weltlichen Herrschern die weltliche Gewalt überlässt. Bei Thomas – Beestermöller schließt hier säkulare Deutungsversuche in Bezug auf Thomas aus – findet sich so dann auch eine Gleichsetzung von Kirche und Gesellschaft als allen Menschen offenstehender Republik der Gläubigen (respublica fidelium). Das Ziel von Kriegen ist, den Frieden der respublica fidelium, der positiv als Schutz und Sicherheit definiert wird, als Akt der Gottes- und Nächstenliebe zu verteidigen, da menschliches Leben und menschliche Gemeinschaft aufs Gute, d. h. auf Gott hin, geordnet sind. Friede ist also Bedingung und Konkretion gläubiger Existenz.

Thomas hat – folgend aus den eben dargestellten tugendethischen Bestimmungen – einen weiten Kriegs-Begriff: ein gerechter Krieg ist für ihn „jede mit richterlicher Autorität unternommene gewaltsame Rechtserzwingung“ (S. 71). Thomas gibt drei Erfordernisse, die für einen gerechten Krieg gegeben sein müssen: 1. er muss mit der Vollmacht eines Fürsten geführt werden, 2. es muss ein gerechter Grund gegeben sein und 3. muss er mit der richtigen Intention geführt werden.

Nur ein Fürst kann Subjekt eines gerechten Krieges sein, da ihm die Sorge für die öffentliche Ordnung anvertraut ist. Er partizipiert als „weltlicher Arm der Kirche“ (S. 198) an der göttlichen Autorität. Sein Kriegsführen muss intentional dem Frieden dienen, nämlich „entweder das Gute zu mehren oder das Böse zu meiden.“ (STh, II-II, q. 40, a. 1, resp., nach S. 182) Durch unlautere Intentionen von Soldaten hingegen wird ein gerechter Krieg nicht zum ungerechten Krieg und umgekehrt: Soldaten können, so Thomas, insbesondere durch kirchliche Verurteilungen ihres Fürsten erkennen, wenn der Krieg, den sie führen sollen, ungerecht ist. Sie sind dann nicht zum Gehorsam verpflichtet. Wenn Soldaten allerdings in einem gerechten Krieg kämpfen, so dienen sie als Werkzeuge des Guten und gelten als unschuldig: Ihr Töten – und hierin sieht Beestermöller eine Leistung des Thomas – ist dann nicht als sündhaft zu bewerten.

Gründe für gerechten Krieg sind sowohl „Heilsfürsorge als auch […] Verteidigung der Ehre Gottes“ (S. 89), d. h. es geht um die „Ahndung der Sünden zur Wahrung und Wiederherstellung der Ehre Gottes, die sich in äußeren Handlungen manifestieren“ (S. 91). Ein gerechter Krieg zielt sowohl auf die Bestrafung der Sünder als auch auf den Schutz der Unschuldigen ab. Er wird zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit und nicht zur Rache geführt (die Bestrafung wird eher in einem pädagogischen Sinne zur Besserung des Sünders verstanden). Ein gerechter Krieg wird dabei gegen innere und äußere Feinde der Kirche geführt, weil alle Menschen – ob Christen oder nicht – der Autorität Gottes und seines Stellvertreters auf Erden, dem Papst, unterstehen. Unglaube bedeutet eine Verletzung der lex naturalis, denn „die Vernunft des Menschen kann nicht anders, als der Wahrheit des Glaubens zuzustimmen, wenn sie ihr begegnet“ (S. 124) und ist somit Sünde. Also wird ein gerechter Krieg gleichermaßen gegen Häretiker, Apostaten (d. h. vom christlichen Glauben abgefallene) und Schismatiker geführt. Hierbei ist unerheblich, ob diese Waffenträger sind: ein gerechter Krieg wird „gegen alle geführt, die durch ihre Sünde ihr eigenes Heil und das anderer gefährden“ (S. 156).

Klerikern allerdings ist es generell verboten, sich mit der Waffe an einem Krieg zu beteiligen. Thomas begründet dies auf nicht unübliche und doch hermeneutisch abenteuerliche Art mit einem Rekurs auf die Bibel: Als Jesus in der konkreten Situation seiner Verhaftung zu Petrus, der ihn verteidigen wollte, sagte, er solle sein Schwert wegstecken (Mt 26,52), sagte er dies „dem Petrus stellvertretend für die Bischöfe und Kleriker“ (STh II-II, q. 40, a. 2, sc.), d. h. allen Kirchenmännern sei fortan das Tragen von Waffen verboten. Kleriker unterstützen den Krieg jedoch ohne Waffen durch Erbauung, und dem Papst kommt zudem die Funktion eines Streitschlichters zu.

Zudem arbeitet Beestermöller heraus, dass Thomas verschiedene „Proportionalitätsforderungen“ (S. 125 et passim) für den gerechten Krieg erhebt: Krieg kann nur das letzte Mittel (ultima ratio) einer Auseinandersetzung sein, es muss beim Führen des Krieges eine begründete Erfolgsaussicht geben, es müssen die richtigen Mittel (zu denen auch Enteignung, Verstümmelung und Tötung gehören können) nach gründlicher Abwägung gewählt werden, drakonische Strafen sind zu vermeiden, es sind in erster Linie die Hauptverantwortlichen zu bestrafen, Unschuldige dürfen keinesfalls getötet werden. Dies bedeutet auch, dass das Töten von Frauen und Kindern per se ausgeschlossen, da sie „keine politische Verantwortung“ (S. 147) tragen können und somit als unschuldig angesehen werden. Die thomasische Lehre vom gerechten Krieg ist also durchaus kontextsensibel, es geht um einen generell maßvollen Umgang mit dem Mittel des Krieges.

Zum dritten Teil. Für Thomas haben auch Kreuzzüge, die gegen Schismatiker und ‚Ungläubige‘, wie ‚Heiden‘, Juden, Häretiker, Apostaten geführt werden, als gerechte Kriege zu gelten. Dass es sich bei ihnen nicht um „Heilige Kriege“, die von gerechten Kriegen abzugrenzen wären, sondern um gerechte Kriege schlechthin handelt, arbeitet Beestermöller überzeugend heraus. Alle, gegen die Kreuzzüge geführt wurden – zu der Zeit des Thomas insbesondere auch gegen neue religiöse Bewegungen wie die Katharer, Albigenser und Waldenser – stellen in einer Gesellschaftsordnung, die komplett auf Glauben begründet ist, eine Gefahr dar, insofern sie kirchliche Lehre und Autorität ablehnen. Deshalb müssen sie als ultima ratio kriegerisch zurückgeschlagen werden. Auch hier arbeitet Beestermöller wieder thomasische Proportionalitätsforderungen heraus. Zudem unterscheidet sich die Position des Thomas zu den Juden von der zu anderen ‚Ungläubigen‘: Da Thomas die Juden als „Sklaven der Kirche“ (STh II-II, q. 10, a. 10, resp.) betrachtet, kann zwar über ihr Eigentum verfügt werden, ihre Verletzung und Tötung ist aber verboten und der jüdische Kultus ist zu tolerieren. Dies alles gilt im Umgang mit anderen ‚Ungläubigen‘ nicht. Auch die in der Hebräischen Bibel (aus christlicher Perspektive: dem „Alten Testament“) geschilderten Kriege, die Israel gegen seine Feinde führte, beschreibt Thomas als gerechte Kriege. Er versucht damit aufzuzeigen, dass es sich bei den israelitischen Gesetzessatzungen um sinnvolle, weiterhin vorbildliche (wenn auch seit Christus nicht mehr verpflichtende) Determinationen der lex naturalis handelt.

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Es ist die große Leistung Beestermöllers, mit kritischer Distanz luzide, anschaulich und leser*innenfreundlich die thomasische Friedensethik in der intellektuell nicht leicht zugänglichen Summa Theologiae und auch in entlegeneren Texten aus dem zeitgeschichtlichen Kontext (Kreuzzüge, Auseinandersetzungen zwischen Friedrich II. und der Kirche) verständlich zu machen. Er lobt an der thomasischen Lehre vom gerechten Krieg ihre „Stringenz und ihre[] theologische[] Tiefe“ (S. 164), ebenso räumt er mit einigen Vorurteilen gegenüber Thomas auf, etwa dass dieser keine Proportionalitätsforderungen erhebe, Krieg nicht als ultima ratio sähe oder keine Zweck-Mittel-Relationierung vornähme.

Die dogmen- und philosophiegeschichtliche Bedeutsamkeit des Thomas ist nicht bestreitbar. So schreibt auch Jürgen Habermas kürzlich, dass sich, durch die Prämisse des Einklangs mit dem Naturrecht, das Rechtssystem „öffnet […] für einen moralischen Universalismus”, wenngleich dieser sich bei Thomas noch „allein auf dem personalisierten Umweg über die Bindung des Recht setzenden Herrschers an die christliche Ethik zur Geltung bringen sollte.“[3]

Doch Beestermöller fragt auch, „ob die thomasische Lehre vom gerechten Krieg mit dem Ende des Mittelalters obsolet geworden ist.“ (S. 230) Er lässt die Antwort dabei offen: „Es kann nicht die Aufgabe dieser Untersuchung sein, diese Frage zu beantworten.“ (ebd.) Liest man allerdings aufmerksam, so kommt man einer Antwort näher, die Beestermöller selbst nahezulegen wollen scheint. Seine Leistung besteht ja gerade darin, Thomas konsequent im Mittelalter mit seinen Konflikten und Anschauungen zu verorten. In die thomasische Argumentation gehen „kulturelle Selbstverständlichkeiten der damaligen Zeit“ (S. 22) ein. Diese, „eine Grenze sichtbar“ machenden Selbstverständlichkeiten (S. 165), beinhalten sowohl die Einheit von Staat und Kirche, den Autoritätsanspruch von Papst und Kirche über die gesamte Menschheit, die Selbstverständlichkeit einer theologischen Fundierung des Zusammenlebens, das Zusammenfallen von Moral und Recht, die Nichtvorstellbarkeit eines individuellen Rechts zur Glaubens- und Wahrheitsfindung, wie auch die – von Beestermöller ebenfalls deutlich benannte – „Intoleranz“ (S. 170) in Glaubensfragen, den „mittelalterlichen Antisemitismus“ (S. 82 et passim) der sich auch bei Thomas niederschlägt, die Ablehnung von (vollen) Bürgerrechten für Frauen und Kinder, sowie ein anderes Verhältnis zu Gewalt, bei dem bspw. „die Verstümmelung eines Menschen als nicht unvereinbar mit der Nächstenliebe gegen den Unrechttäter gilt.“ (S. 75)

Beestermöller kommt zu dem Schluss, dass wenn „man die thomasischen Kriterien für einen gerechten Krieg formal [betrachtet], […] sie überzeitliche Bedeutung“ (S. 230) haben. Dies mag stimmen, allerdings ist zu beachten, dass die Begründungsfiguren für jedes einzelne Kriterium des gerechten Krieges ebenso wie die materialen Ausgestaltungen der Kriterien bei Thomas komplett ausfallen, wenn sie aus dem mittelalterlichen Rahmen gelöst werden: Die Autorität ist nicht mehr der Fürst, der vom Papst (als Stellvertreter Gottes) das weltliche Schwert anvertraut bekommt; ein Grund für einen Krieg ist nicht mehr, dass jede Form von ‚Unglauben‘, da sie gegen die lex naturalis verstößt, eine Gefährdung der respublica fidelium darstellt; die rechte Intention ist schwerlich noch mit Augustinus zu begründen, der – nach Thomas – schreibt, dass „[b]ei den wahren Verehrern Gottes […] auch die Kriege Friedenscharakter bekommen“ (STh II-II, q. 40, a. 1, ad 3) haben. Auch die Bewertung des ethischen Verhaltens von Soldaten wird nicht mehr entlang der Richtschnur erfolgen können, dass sie „gewissermaßen von Gott Selbst bevollmächtigt, das Schwert gebrauch[en]“ (STh II-II, q. 40, a. 1, ad 1). Auch andere Forderungen, wie die nach dem Schutz von Frauen im Krieg, lassen sich heute nicht mit ihrer generellen politischen Unmündigkeit begründen. Es gehört zu Beestermöllers Leistungen, deutlich auf die Unzeitgemäßheit des Thomas hinzuweisen, häufig in klarer Abgrenzung zu der von ihm referierten beschönigenden Forschungsliteratur, die Thomas letztendlich als Vertreter einer modernen Staats- und Gesellschaftstheorie darstellt.

Was dann aber, nach dem Abzug von allem Unzeitgemäßen, von der thomasischen Lehre vom gerechten Krieg übrig bleibt, sind äußerst formale Kriterien für einen gerechten Krieg (Autorität, Intention, Grund, Proportionalität), die sich inhaltlich nicht mehr herleiten, konkretisieren und begründen lassen und die so formal sind, dass sie sich in eigentlich allen Kriegsethiken seit der griechischen Antike finden.

Erschwerend kommt hinzu – und auch dies zeigt Beestermöller auf –, dass nicht nur das mittelalterliche Selbstverständnis ein anderes war als das heutige, sondern auch das politische System: So gibt es zum einen keine Trennung von Staat und Kirche und zum anderen kann von „Staaten“ im heutigen Verständnis überhaupt nicht gesprochen werden. Vielmehr gibt es Feudalgesellschaften, in denen die Herrschaft stark an einzelne Personen gebunden ist. Hieraus folgt die Zentralstellung des Fürsten bei Thomas. An einer der wenigen Stellen, an denen Beestermöller explizit nach der Bedeutung der thomasischen Kriegslehre für aktuelle Konflikte fragt, stellt er deshalb auch fest, dass „es nun in einer Welt souveräner Staaten, die keinen Richter über sich anerkennen, möglich ist, daß ein Krieg zumindest subjektiv auf beiden Seiten gerecht ist“ (S. 157). Für Thomas war dies nicht möglich, da es mit Kirche und Papst – das Problem von Kirchenspaltungen und Gegenpäpsten einmal außen vor gelassen – eine oberste Entscheidungsinstanz gab.

Beestermöller behauptet, die Frage nach Kollateralschäden stelle sich für Thomas noch nicht (S. 159). Dies überzeugt allerdings nicht, da Thomas argumentiert – was Beestermöller diskutablerweise als implizite Kritik an den Kreuzzügen liest – , Städte, in denen nur einige ‚Ungläubige’ leben, dürfen nicht komplett zerstört werden (S. 148ff.) und auch, dass es besser sei, Übeltäter davonkommen zu lassen, wenn sie nicht klar identifizierbar sind, d. h. bei einem Schlag gegen sie unweigerlich auch Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen würden.

Positiv ist hervorzuheben, dass Beestermöller sichtlich bemüht ist, nicht beschönigend mit dem Thema der Kreuzzüge umzugehen – was leider immer noch nicht selbstverständlich ist.[4] Dieses Bemühen gelingt allerdings nicht vollständig, was sich z. B. darin ausdrückt, dass auf derselben Seite (S. 149) konstatiert wird, dass die Albigenserkreuzzüge „Züge eines Vernichtungskrieges angenommen“ haben, ebenso wie der folgende Euphemismus zu finden ist: „Auch die Kreuzfahrer hielten sich nicht immer an die Grundgebote der Sittlichkeit.“

Dass aber die ethischen Fragen, die Thomas beschäftigten, weiterhin relevant blieben und bleiben – wobei jedoch aktuelle theologische Entwürfe eher nach den Möglichkeiten eines gerechten Friedens fragen – , wird u. a. deutlich, wenn man sich Luthers Schrift Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können von 1526[5] und umliegende Schriften ansieht. Die Frage nach der möglichen Seligkeit von Soldaten beantwortet Luther – wie Thomas – entschieden mit Ja und er begründet dies über Gottes Schöpfungsordnung, in der es verschiedene Berufsstände gibt, die die Welt erhalten und in der der Soldatenstand einer ist. Allerdings ist hier, im Vergleich zu Thomas, eine deutlichere Vorsicht zu spüren hinsichtlich der Vermischung von geistlichem und weltlichem Schwert: Gegen Häretiker und ‚Ungläubige‘ soll – wenn es geistliche Dinge betrifft – nunmehr nur noch mit geistlichen Mitteln vorgegangen werden und nicht mehr mit dem weltlichen Schwert; Verteidigungskämpfe, bspw. gegen die Türken, dürften nicht als Kreuzzüge theologisch aufgeladen werden. Es ist allerdings zu beachten, dass Luther gut zehn Jahre später beginnt, Juden, Papstkirche und Türken als apokalyptische Instrumente des Satans zu bezeichnen und es für geboten hält, das Christentum in einer Art Martyrium militärisch gegen die Türken zu verteidigen.[6]


[1] „Summa Theologiae“ heißt so viel wie „Summe/Gesamtheit der Theologie“. Mitunter auch als „Summa theologica“ („theologische Summe/Gesamtheit“). Abgekürzt im Folgenden: STh. Zitiert wird nach: Thomas von Aquin, Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica, übers. u. komm. v. Dominikanern u. Benediktinern Deutschlands u. Österreichs, hrsg. v. d. Albertus-Magnus-Akademie Walberg b. Köln, Bd. 17 B, Heidelberg/Graz/Wien/Köln 1966.

[2] Für einen kurzen und fundierten Überblick über Thomas, insbesondere seine Summa Theologiae und die Wirkungsgeschichte siehe: Miriam Rose, Thomas von Aquin: Summa theologiae, in: Rebekka A. Klein/Christian Polke/Martin Wendte (Hrsg.), Hauptwerke der Systematischen Theologie. Ein Studienbuch, Tübingen 2009, S. 70-90.

[3] Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 2019, S. 758. Hervorhebungen im Original.

[4] Ein Negativbeispiel liefert meiner Meinung nach: Manfred Lütz (unter Mitarbeit von Arnold Angenendt), Der Skandal der Skandale. Eine geheime Geschichte des Christentums, Freiburg i. B. 2018.

[5] WA 19, S. 623-662

[6] Bspw. in seiner Vermahnung zum Gebet wider den Türken (von 1541, WA 51, S. 585-625) Vgl. auch Heiko A. Oberman, Luthers Beziehung zu den Juden: Ahnen und Geahndete, in: Helmar Junghans (Hrsg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546. Festgabe zu seinem 500. Geburtstag. Im Auftrag des Theologischen Arbeitskreises für Reformtationsgeschichtliche Forschung, Bd. 1, Göttingen 1983, S. 519-530, hier: S. 526.

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