Jürgen Zimmerer ist Historiker und Afrikawissenschaftler. Er ist seit 2010 Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg und leitet seit 2014 die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung. Zimmerer gilt als einer der führenden Kolonialismus- und Genozidforscher in Deutschland. Ein aktueller Vortrag von Jürgen Zimmerer mit dem Titel „Wissenschaft und Kolonialismus. Die Hamburger Universität vom Kolonialinstitut bis zum Sturz des Wissmann-Denkmals “ ist als Video auf dem Lecture2Go Portal der Universität verfügbar.
Andreas Ullmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt On the Causal (In)Significance of Legal Status: Assessing and Explaining Compliance with the “Views” of the UN Human Rights Treaty Bodies der Juniorprofessur für Politikwissenschaft, insb. Global Governance (Andreas von Staden). Sein Forschungsinteresse gilt der Beobachtung internationaler Menschenrechtsinstitutionen sowie globaler Wirtschafts- und Entwicklungspolitik mit dem regionalen Schwerpunkt Afrika.
Was hat mein Leben in Hamburg im Jahr 2019 mit Kolonialismus zu tun? Augenscheinlich zunächst erst einmal wenig. Deutschland hatte seine Kolonien ja nur ganz kurz, da konnte es ja gar nicht so viel Unheil anrichten wie beispielsweise Frankreich oder England – dieser Meinung begegnet man heute überall im Land. Ich erinnere mich, dass auch in meinem Geschichtsunterricht lediglich die politischen und technischen Rahmenbedingungen des Kolonialismus in ein bis zwei Unterrichtsstunden heruntergerissen wurden, von der physischen und psychischen Gewalt, die ganzen Völkern dabei angetan wurde, kein Wort. Es scheint sich um eine kurze, weit in der Vergangenheit liegende Episode der deutschen Geschichte zu handeln, der heute kaum mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Diese kollektive Verkürzung der deutschen Kolonialgeschichte stellt aber eine fatale Realitätsverweigerung dar, denn – in den Worten Aimé Césaires – niemand kolonisiert unschuldig.[1] Die koloniale Verantwortung der Stadt Hamburg und unserer gesamten Gesellschaft reicht bis in die heutige Zeit. Jürgen Zimmerer wird nicht müde, genau das immer wieder zu betonen.
Tatsächlich scheint es, als seien die Deutschen einer „kolonialen Amnesie“ verfallen. Nur durch das systematische Augenverschließen der letzten Jahrzehnte ist es zu erklären, dass beispielsweise eine Straße in München, die nach dem Schutztruppenoffizier Hans Dominik benannt war, erst 2017 umbenannt wurde. Das heißt, bis vor zwei Jahren wurde dort einer der brutalsten Schlächter des Kaiserreichs geehrt, der im heutigen Kamerun Menschen aus ihren Dörfern vertrieb, der Zwangsarbeit zuführte und dabei schon mal Gefangenen die Geschlechtsteile abschneiden oder zweiundfünfzig Kleinkinder in einen Fluss werfen ließ.[2] Bis 1968 stand eine Statue Dominiks vor dem Hauptgebäude der Universität Hamburg. Damals stürzten Studierende das Denkmal kurzerhand nach einem langen Hin und Her mit der Universität. Bis heute ist es der engagierten Arbeit zahlreicher zivilgesellschaftlicher Gruppen, wie der zu verdanken, dass ähnlich denkwürdige Erinnerungsstücke langsam aus unseren Stadtbildern verschwinden. Von einem breiten Interesse, geschweige denn Verständnis, seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft kann allerdings nicht die Rede sein.
Um die kritische Auseinandersetzung mit ebensolchen „Erinnerungsorten“ geht es Jürgen Zimmerer in seinem Sammelband Kein Platz an der Sonne – Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte (2013). Wobei der Begriff „Erinnerungsort“ keinesfalls auf tatsächliche geographische Orte beschränkt bleibt. Aufbauend auf, unter anderem, Konzepte des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs und der Gedächtnisorte von Pierre Nora versteht Zimmerer Erinnerungsorte als kollektiv geformte Prozesse, an denen sich der ‚typische Stil der Beziehung zur Vergangenheit‘ manifestiert.[3] Das können geographische Orte, aber auch Erinnerungen und Begriffe sein. Zimmerers Leistung ist es, diese Idee der Generationen überdauernden Verbindungspunkte kollektiver Erinnerung und Identität aus dem rein nationalen Kontext herauszulösen und mit dem postkolonialen Interesse am Zusammenhang von Diskurs, Wissen und Macht zu verbinden. Erst durch die Einbeziehung der nichteuropäischen, kolonialen Welt ist es möglich, bestimmte Narrative um die deutsche Identitätskonstruktion kritisch zu beleuchten. Die konkreten Erinnerungsorte, die im Buch besprochen werden, sind deshalb erwartungsgemäß vielseitig und reichen vom ‚Sarotti-Mohr‘ bis zur Berliner Afrika-Konferenz 1854/55. Besonders Jens Ruppenthals Kapitel über das Hamburgische Kolonialinstitut und die Kolonialwissenschaften verdient, an dieser Stelle genauer betrachtet zu werden. Ruppenthal zeigt auf, wie die Entstehung der Universität Hamburg eng verbunden war mit dem Bestreben, die Kolonialwissenschaften im Deutschen Reich zu institutionalisieren. Sich vor allem an angehende Kolonialbeamte und Kaufleute richtend, wurden Fächer wie Tropenmedizin, Nationalökonomie, Geographie oder Völkerkunde alle unter den Aspekt des kolonialen Projektes gestellt. Das 1919 in die Universität Hamburg umgewandelte Hamburgische Kolonialinstitut war das Resultat einer von Politik, Kolonialverbänden und interessierter Öffentlichkeit seit der Jahrhundertwende zunehmend geforderten Professionalisierung und Verwissenschaftlichung des deutschen Kolonialismus, so Ruppenthal.[5] Auch wenn die Kolonialwissenschaften nach der Umbenennung nicht mehr primär im Fokus der Universität standen, so wird doch die bis heute selten thematisierte Verquickung von Wissenschaft und Kolonialismus an diesem Beispiel besonders deutlich.
Die Herausarbeitung solcher Kontinuitäten kolonialen Denkens ist seit 2014 Aufgabe Zimmerers Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die frühe Globalisierung an der Universität Hamburg. Die Forschenden dort haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Verbindungen und Nachwirkungen des Kolonialismus in Hamburg, Deutschland und den ehemaligen Kolonien zu untersuchen. Wichtig ist dabei zu verstehen, dass der Kolonialismus kein rein wirtschaftliches Unterfangen einzelner Kaufleute und Beamter war, sondern durch rassistische Narrative in den Köpfen der Menschen in Deutschland vorbereitet wurde. Traurige Berühmtheit hat hier beispielsweise Hegels Bestreben erlangt, der Bevölkerung eines ganzen Kontinents jegliche Menschlichkeit und eigene Geschichte abzusprechen.[6] Erst durch die Entmenschlichung der „Anderen“ und die Überhöhung alles Deutschen und Europäischen konnte die Ausbeutung der Menschen in den Kolonien reibungslos ablaufen. Politische und wirtschaftliche Weltaneignung durch den Kolonialismus ist also ohne die kulturelle und wissenschaftliche Vor- und Nacharbeit nicht zu verstehen. Der Sammelband Kein Platz an der Sonne – Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte beleuchtet, wie die damals entstandenen Narrative teilweise bis in die heutige Zeit weiterbestehen. Und gibt dem Leser zu verstehen, dass der Kolonialismus keinesfalls überwunden wurde, sondern verklärt und verkürzt im Bewusstsein der Deutschen bis heute präsent ist.
Aber auch in umgekehrter Richtung bedingen sich koloniales Projekt und geistiges Leben in Deutschland. Denn ein großer Teil des Wohlstands, der wichtige kulturelle und wissenschaftliche Leistungen erst möglich gemacht hat, basiert auf der jahrhundertelangen Ausbeutung der Ressourcen ganzer Erdteile. So merkt Zimmerer in einer Diskussionsrunde in der Schaubühne Berlin beispielsweise an, dass die Bank, die Goethes Italienreise mitfinanzierte im Sklavenhandel involviert war. An anderer Stelle fasst er es so zusammen:
„Wir erzählen in Europa […] die Globalgeschichte immer nur zur Hälfte. Wir erzählen immer nur die Erfolgsgeschichte in Europa […] als würde das alles aus eigener Kraft geschehen sein. Und wir erzählen NICHT die Ausbeutungsgeschichte, die es eigentlich ermöglichte, dass in Europa eine Wohlstandsakkumulation stattfand, auf deren Grundlage Denker wie Kant ihre Konzepte entwickeln konnten.“[7]
Viele Thesen und Ansichten, denen man heute im öffentlichen Diskurs begegnet, sind nur unter völliger Ausblendung dieser Zusammenhänge aufrechtzuerhalten. Das Sichtbarmachen konkreter historischer Ereignisse während des Kolonialismus und damit einhergehender kolonialer Denkmuster ist nicht bloß akademische „Fingerübung“, sondern dient gleichzeitig als aktives Engagement gegen grassierende rechts-nationalistische Tendenzen in der aktuellen Politik. Nur wenn wir ein Bewusstsein dafür bekommen, dass koloniale Sichtweisen noch heute in uns wirken, können wir eine gewisse Sensibilität gegenüber den ehemals Kolonisierten im heutigen Globalen Süden und damit eine informierte und angemessene Haltung entwickeln.
Um auf meine eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Was hat mein Leben in Hamburg im Jahr 2019 mit dem Kolonialismus zu tun? Wie es scheint einiges! Als weißer Europäer, als Deutscher und als Mitarbeiter der Universität Hamburg bin ich bis heute Nutznießer eines Systems, dessen Strukturen über Jahrhunderte einen Teil der Menschheit bevorzugt und den anderen Teil erniedrigt und ausgeschlossen hat. Jürgen Zimmerer gehört zu den wenigen öffentlichen Stimmen, die uns immer wieder daran erinnern.
[1] Aimé Césaire; Rede über den Kolonialismus; Alexander Verlag Berlin; 2017, S.33
[2] Bommarius, C; Der Gute Deutsche: Die Ermordung Manga Bells in Kamerun 1914; Berenberg Verlag, Berlin; 2015, S.43
[3] Zimmerer, J.; Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte; in: Zimmerer, J. (Hrsg.); Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte; Frankfurt a. M./New York: Campus, 2013, S.11-13
[4] ebd.
[5] Ruppenthal, J.; Das Hamburgische Kolonialinstitut und die Kolonialwissenschaften; in Zimmerer, J. (Hrsg.); Kein Platz an der Sonne: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte; Frankfurt a. M./New York: Campus ,2013, S.264
[6] Hegel, G.W.F.; Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte; Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 128/29
[7] Zimmerer im Arte Beitrag „Africa Rising“ Ernst, T./ Ntivyihabwa, 2019