Günter Trautmann lehrte von 1978 bis 2001 am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Bis zu seinem Tod im Jahr 2001 war er dort zuletzt Professor für Politische Wissenschaft. Sein Forschungsinteresse galt vor allem den Chancen und Herausforderungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten nach dem Ende des Kalten Krieges. „Die hässlichen Deutschen“ ist eine Zusammenstellung verschiedener internationaler Perspektiven auf das frisch vereinte Deutschland.
Mate Szabó ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Eötvös Loránd in Budapest. Als Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung forschte er zwischen 1991 und 1992 an der Universität Hamburg. Sowohl Szabós persönliche Beziehung zu Trautmann als auch seine ungarische Herkunft verleihen der Rezension eine besondere Perspektive eines östlichen Nachbarn.
„Die hässlichen Deutschen“ ist ein Buch, das bereits vor 28 Jahren und damit vor mehr als einer Generation veröffentlicht wurde, aber dessen Aktualität und die der in ihm verhandelten Fragestellungen außer Zweifel stehen. Das Buch steht in der Tradition der Selbstkritik deutscher Intellektueller angesichts der Meinungen und Realitäten anderer Länder im 19.-20. Jahrhundert und gesellt sich somit zu einer Reihe an bekannten und anerkannten Autoren wie etwa Heinrich Heine, Helmuth Plessner und Herfried Münkler. Günter Trautmann, der Herausgeber, war Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. Er verstarb im Jahr 2001 im Alter von 60 Jahren unerwartet und zu früh mit vielen unerfüllten Plänen für sein berufliches Schaffen und seine private Zukunft. Trautmann war mit seinen zahlreichen Monographien und herausgegebenen Sammelbänden ein geschätzter Teilnehmer des öffentlichen Lebens und der Diskurse um die BRD und Gesamteuropa. Dieser Sammelband lässt sich als Zeugnis davon verstehen.
Die Themenbereiche, die die vielen verschiedenen Bücher mit Trautmanns Beteiligung bearbeiten, sind vielfältig. Sie reichen von Italien und seine politischen Krisen über wechselnde Profile des sozialen Liberalismus und Eurokommunismus, über den alternativen marxistischen Denker Georg Lukács, bis hin zum Reformkommunismus in Russland. Der rote Faden orientierte sich jedoch eindeutig an der Linie der Alternativen der gesellschaftlich-politischen Entwicklung und deren Erklärung bzw. Interpretation durch ein linkes Milieu. Trautmann studierte Politikwissenschaft in den 60er-Jahren in Heidelberg, unter anderen zusammen mit dem früheren Professor des Instituts für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg, Udo Bermbach, mit Rainer Eisfeld, Klaus von Beyme und vielen weiteren bekannten Politologen der BRD, die in den stürmischen Zeiten der Studentenrevolte dem Sozialismus nahestanden.
Dieser Sammelband ist ein Produkt seiner geschärften selbstkritischen Identitätssuche während des Wiedervereinigungsprozesses von West- und Ostdeutschland, dessen Verlauf er von ausländischen Perspektiven beleuchten und in einem europäischen Kontext kritisch erhellen wollte. Trautmann bereiste und lehrte in mehreren europäischen Nachbarländern im Osten und Westen wie etwa Italien und die Sowjetunion. Die Universitätspartnerschaft zwischen Hamburg und der Eötvös Loránd Universität ermöglichte Trautmann einen Besuch in Budapest, wo ich die Gelegenheit bekam Herrn Trautmann sowie andere Professoren aus Hamburg kennenzulernen. Die Wiedervereinigung, die Prozesse vor und nach dem Mauerfall bis hin zur ersten gesamtdeutschen Wahl und der Etablierung der neuen föderalen Gebilde hatten und haben auf europäischer und globaler Ebene Relevanz, insbesondere im Hinblick auf Deutschlands Rolle in einer bipolaren Welt zwischen den beiden Großmächten USA und Sowjetunion. Das Buch beschreibt die Reaktionen der Zivilgesellschaft und der politischen Klasse aus einer historischen Perspektive verschiedener Osteuropäischer Länder. Die Kontinuitäten und Brüche des jeweiligen Deutschlandbilds werden durch die verschiedenen Politik- und Kulturexperten aufgearbeitet. Dazu gehören zum Beispiel Jerzy Holzer und Klaus Ziemer (Polen), Dirk Käsler (Hamburg), Andrei S. Markovits (USA) Dominique Moïsi (Frankreich) oder Micheal Wolffsohn (München über Israel).
Der Band untersucht Stereotypen, nationale Identitätsbilder, Vergangenheits-Hypothesen über Deutsche und Deutschland als kulturelle, wirtschaftliche und politische Macht in zehn Ländern. Überdies geht es um problematische Fälle verschiedener Art: Länder, die Deutschland erobert oder angegriffen hat oder Länder, die mit Deutschland territoriale und Minderheitskonflikte ausgetragen haben. Dazu gehören etwa Polen, Dänemark, die Niederlande, Frankreich, Finnland und Ungarn. Die Auseinandersetzung Israels mit Deutschland wird anhand der Judenverfolgung des ‚Dritten Reiches‘ behandelt. Von den fünfundzwanzig Beiträgen beachten zweiundzwanzig eine länderspezifische Perspektive, drei weitere gelten einer allgemeinen Beschäftigung mit dem Thema Deutschland im Ost-West-Konflikt.
Ist es ein Schreckensbild, welches die internationale Gemeinschaft über Deutschland und die Deutschen zeichnet? Und haben die Deutschen denn nicht genügend Selbstkritik geübt nach dem zweiten Weltkrieg? Dies sind Fragen, die bei der Lektüre aufkommen. „Feindbild Deutschland“ könnte und wird inzwischen nach 30 Jahren deutscher Einheit in vielen Länder z.B. in Polen anders verstanden und verstanden werden. Nicht ohne Probleme, denken wir beispielsweise an die Angst der Briten vor einer aggressiven Macht. Was haben uns die drei Jahrzehnte gelehrt? Grundsätzlich lässt sich resümieren, dass viele historische Erfahrungen anders verstanden werden, sich aber gewisse festgefahrene Distanzierungen erhalten haben. In der Zwischenzeit löste die Aufarbeitung der Vergangenheit in Deutschland viele Streitigkeiten über den Umgang mit der eigenen Geschichte, über deren Historisierung und Opferorientierung, über enttarnte Täter und Tabubrüche aus. Deutschland erlebte erneute Wellen der Fremdenfeindlichkeit und die Öffnung der Grenzen für eine große Zahl an Flüchtlingen, es regelte weitestgehend den Umgang mit der großen türkischen Gemeinde, es gibt ein buntes Angebot an Bildern und Gegenbildern in einer deutschen Gesellschaft, in der sich manche eher inklusiv und andere eher exklusiv verhalten. Es gibt regionale Unterschiede im Engagement und der Entschlossenheit, die negativen Bilder der Nachbarn über Deutschland zu revidieren und neue Akzente in Deutschland und in der Wahrnehmung der Nachbarn zu setzen. Was uns heute im Band auffällt ist, wie selten die Problematik auf europäischer Ebene unter Einbezug der europäischen Institutionen thematisiert wird – ein Indiz für die großen Fortschritte des Europäisierungsprozesses der letzten Jahrzehnte, denn heutzutage stünde die Frage nach der Rolle und Bedeutung der EU-Institutionen sicherlich im Vordergrund. Es ist kein Zufall, dass das Engagement für die EU gegenüber Brexit und osteuropäischen EU-Skeptikern von der deutsch-französischen Achse getragen wird.
Vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Brexit verdient der Beitrag von Lothar Kettenacker besondere Bemerkung. Kettenacker war damals im Deutschen Historischen Institut in London tätig. Er beschreibt England als „Sonderfall“ im Bezug auf Deutschland und die Deutschen, bestimmt wurde von Faktoren wie derdurch die Kolonialherrschaft bedingten Überlegenheit, der „splendid isolation“ mit der Vorstellung Europas als „Balkan“, wo ständig Konflikt herrscht,der Reichseinigung in Deutschland (Disraeli: 1871 ist gefährlicher als 1789), Militarismus und Militanz, schließlich der Konkurrenz in Wirtschaft und Weltpolitik. „Gerade weil die Briten ihren Machtverlust zu verschleiern vermochten …, fragen sie sich unentwegt, was die Deutschen mit ihrem unerwarteten Machtzuwachs wohl anfangen werden“ (S. 204).
Ähnlich verhalten sich Polen (S. 83-104), Dänemark und die Niederlande (S.145-194) und insbesondere Frankreich (S. 209-264), wo der Teufel ein Deutscher ist. Wirtschaftswunder, Wiederaufrüstung, territoriale Fragen und Fragen der Nationalität, die Wiedervereinigung des Verlierers als eine Herausforderung der Sieger des zweiten Weltkriegs, zusammen mit negativen Erfahrungen erneuter Sicherheitsbedrohungen – diese Aspekte bewegen die Nachbarn. Weniger zugespitzt ist die Attitüde von Finnland und Ungarn (S. 244-278), die im zweiten Weltkrieg zunächst Verbündete waren und später zu den vom ‚Dritten Reich‘ eroberten Ländern gehörten.
Im Gegensatz dazu steht Russland, zu dem Trautmann selbst einen der Beiträge geschrieben hat (S. 126-145). Hier werden lebendige, „positive“ Erfahrungen mit dem deutschen Volk für viele Jahrhunderte während des Zarenreichs und danach beschworen. Allerdings folgen bald darauf der Einmarsch Hitlers in die Sowjetunion und viele harte Jahre des großen patriotischen Krieges, an dessen Ende die Eroberung Berlins steht. Der Fall der Mauer war von russischem Reformkommunismus, Glasnost und Perestroika bedingt.[1] Im Beitrag der russischen Perspektive kann man eher positive Erwartungen aus der damals noch sowjetrussischen Sicht erhalten (S.104-126).
Ähnlich wie in Russland ist das US-amerikanische Deutschlandbild (S. 278-316), wo die Wiedervereinigung weit weniger kritisch betrachtet wird als in den direkten Nachbarländern. Die Wiedervereinigung wurde hier weniger als Gefahr, sondern eher als ein Produkt des Endes des Kalten Krieges verstanden und als Ausdruck der Krise und des Zerfalls des sowjetischen Ostblocks erlebt und interpretiert. Die USA haben eigentlich, wenigstens nach politische Aussagen, für die Einheit von Deutschland gestanden und gegen die Russen für die Wiedervereinigung gekämpft. Das Resultat in Form eines mächtigen pro-westlichen Verbündeten in der NATO und der EU stieß dort auf Wohlwollen. Die politische Kultur der neuen Welt ließ sich von den historischen Bildern weit weniger beeinflussen als der historisch vorbelastete alte Kontinent. In den USA werden „der historischen Phantasie keine Grenzen gesetzt, nur die Wirklichkeit von heute und morgen wird dabei ausgeblendet“, während in Europa “Die Zukunft … das gestern mit der Datum von morgen [ist]“(Kettenacker, S. 207).
Ist die Tatsache, dass in dem Buch ausschließlich von West-Deutschen gesprochen wird, ein merkwürdiges Zeitzeichen, das vielfach zum Nachdenken zwingt? Das Selbstbildnis der Deutschen wird von Peter Reichel, der ebenso wie Trautmann in der Zeit des Buchprojektes Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg war und über die politische Kultur des ‚Dritten Reiches‘ geforscht hat, wie folgt charakterisiert: „Die Übereinstimmung von nationalen Selbst- und internationalen Fremdbild mag als Ausdruck gefestigter kollektiver Identität gelten… Bei uns Deutschen ist das viel komplizierter. Auch widersprüchlicher. Zwischen Selbsterniedrigung und Hochmut schwanken wir seit Generationen unsicher hin und her. Die Frage nach unserer kollektiven Identität wird immer wieder gestellt und ist doch noch nicht schlüssig, geschweige denn abschließend beantwortet worden. Uns beunruhigt unser zwiespältiges Image in der Welt, in dem sich neidvolle Bewunderung, Angst und Verachtung mischen.“ (Reichel, S. 316)
Er vertritt die These, dass die BRD ein Staat ohne symbolische Repräsentation gewesen sei und dass nun, nach der Wiedervereinigung, dieser Mangel nachgeholt werde. Denken wir an die Hauptstadt-Diskussion, den Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche und des Hohenzollernschlosses in Berlin, denken wir an die anhaltenden Debatten über Holocaust-Denkmäler, Stasi-Gedenkstätten, die Vergangenheitsbewältigung, die durch politische Bildung Zukunftsgestaltung sein sollte.
Wenn ich mir zum Schluss eine persönliche Bemerkung erlauben darf: Mich haben die Versuche der Institutionalisierung des Anti-Militarismus in der BRD immer beeindruckt, etwa die Möglichkeit einer zivilen Karriere von Offizieren an Bundeswehr-Universitäten, die Institution des Bundeswehrbeauftragten, die den Geist des „Staatsbürgers in Uniform“ mit den ihr zustehenden Machtbefugnissen implementieren kann. Sie ist eine einzigartige Institution in der Welt, genauso wie die vor der Wende in der BRD blühende politische Bildung, die in einer post-totalitären Gesellschaft so wichtig wäre, wenn es sich zum Beispiel die postkommunistischen Länder hätten erlauben können. Die der demokratischen Aufklärung Deutschlands dienende kritische politische Bildung eignet sich als Vorbild für andere post-autoritäre Gesellschaften und die gut aufgebauten Institutionen dienen als Alternativen für westliche Demokratien, nicht zuletzt für deren Geburtsstätte, den USA. Vielleicht gäbe es in den USA gute Gründe noch einmal über die Einrichtung dessen nachzudenken, was sie den Deutschen nach dem zweiten Weltkrieg während der Besatzungszeit aufoktroyiert haben?
Viele würden an dieser Stelle noch die auf dem ‚Dritten Reich‘ aufbauende und an die Regierungskriminalität der DDR angewendete Vergangenheitsbewältigung auflisten. Allerdings ist es meines Erachtens eine einzigartige und nicht zum Umpflanzen geeignete Problematik, weil dazu eine historische Konstellation gehört: die Übernahme der Souveränität durch den Westen und die Auflösung der Souveränität des Oststaates, was die schonungslose Aufklärung und die Sanktionierung der Regierungskriminalität und der Stasi-Aktivitäten ermöglicht hat. Anderswo ist dieses Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten nicht geschehen. Man könnte seit 1991 über die Verdienste, die Unterlassungen und vielleicht vertanen Chancen – wie etwa eine neue Verfassung Deutschlands und Europas – lange diskutieren.
Günter Trautmann hat diese Diskussionen nicht mehr miterlebt, aber ich bin sicher, wenn er dabei gewesen wäre, hätte er kritische Positionen bezogen. Denn er erlebte die ersten Schritte des neuen deutschen politischen Systems und hat daraus die Pflicht verspürt, sich für die Vermittlung zwischen Gegenwart, Zukunft und Tradition, zwischen Deutschen und Nachbarn, zwischen Politik und Zivilgesellschaft zu engagieren. Die Diskussion um Deutschland und die Deutschen nach der Wiedervereinigung zu initiieren war ein starker und kritischer Beitrag Trautmanns. Man kann nur hoffen, dass viele seinen Spuren auf dem schwierigen Weg der Selbsterkenntnis gefolgt sind und folgen werden, gemäß dem Spruch von Delphi, bei den alten Griechen.
[1] dem hat der Herausgeber Günter Trautmann eine ganze Monographie gewidmet: Sowjetunion im Wandel. Wirtschaft, Politik und Kultur seit 1985. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989.