Tilko Swalve über Peter Raschke, Vereine und Verbände. Zur Organisation von Interessen in der Bundesrepublik Deutschland (1978)

Peter Raschke (*1941) war von 1984 bis 2006 Professor für Politische Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Empirische Methoden an der Universität Hamburg. Nach seiner hier besprochenen Frankfurter Dissertation zur Verbändeforschung hat Raschke sich in der Forschung Themen der Gesundheits-, insbesondere der Drogenpolitik zugewandt. Raschke war seit 2000 stellvertretender Direktor des Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung der Universität Hamburg.

Tilko Swalve ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Vergleichende Politikwissenschaft der Universität Hamburg. Er wurde 2019 mit der Arbeit Decision-Collegial Courts – How Group Processes Shape Adjudication on the German Federal Court an der Graduate School of Economic and Social Sciences der Universität Mannheim promoviert.


Beinahe jeder zweite Bundesbürger ist Mitglied in einem von mehr als 600000 Vereinen in Deutschland, Tendenz ansteigend (ZiviZ-Survey 2017).[1] Allein die Anzahl der Vereine lässt ihre Bedeutung für das alltägliche Leben wie auch politische Entscheidungsprozesse erahnen. Vereine wirken als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Staat. Aber Vereine lassen sich nicht allein auf ihre Mittlerfunktion und Einflussnahme auf den politischen Entscheidungsprozess reduzieren. Sie stellen eine Vielzahl an Dienstleistungen bereit und sind Orte der Sozialisation für ihre Mitglieder.

Peter Raschke hat die Bedeutung der Vereine für die Zivilgesellschaft bereits früh erkannt. In seinem 1978 im Juventa-Verlag (heute Verlagsgruppe Beltz) erschienenen Buch Vereine und Verbände. Zur Organisation von Interessen in der Bundesrepublik Deutschland[2] wirft Raschke einen Blick auf die Vielzahl unterschiedlicher Vereine und Verbände, mit besonderer Aufmerksamkeit für die Typen und Funktionen der kleinen und mittleren Vereine, welche das gesellschaftliche Leben prägen. Das ist, besonders im historischen Kontext, ein außergewöhnlich moderner Fokus. Das Interesse der deutschen Politikwissenschaft lag in den 1950er und 60er Jahren bei der Analyse von Gewerkschaften und Dachverbänden, deren politische Einflussnahme oft kritisch gesehen wurde („Herrschaft der Verbände“). Vereine wurden einseitig im Zusammenhang mit ausuferndem Lobbyismus und einer Unterwanderung des demokratischen Entscheidungsprozesses betrachtet. Dem setzt Raschke eine umfassendere Perspektive entgegen, welche die Gesamtheit der Verbände, ihre Diversität und ihre gesellschaftliche Bedeutung betont.

Mit seiner Betrachtung der Vereine als Teil des alltäglichen Zusammenlebens steht Raschke am Beginn eines Forschungsfeldes, welches bis heute kaum an Aktualität verloren hat und weiterhin Politikwissenschaftlerinnen wie Soziologinnen beschäftigt. Es stellen sich grundlegende Fragen: In welche Kategorien lassen sich Vereine überhaupt einordnen? Welche Interessen verfolgen sie? Was für Einflussmöglichkeiten stehen den Mitgliedern im internen Entscheidungsprozess offen? Und: Streben die meisten Vereine eigentlich nach politischer Einflussnahme?

Zunächst wird der Untersuchungsgegenstand „Verein“ und ihr rechtlicher Rahmen abgesteckt. Interessenvereinigungen, so Raschke, sind gekennzeichnet durch eine Regelung von Aufnahme und Ausschluss der formal gleichgestellten Mitglieder, ein generalisiertes Vereinigungsinteresse und ein auf Dauer angelegtem geregeltes Zusammentreffen der Mitglieder. Auf dieser Definition aufbauend, widmet sich Raschke seiner Hauptaufgabe: der Erhebung und Auswertung aller Vereine in Frankfurt am Main.

Mit einer bemerkenswert systematischen quantitativ-empirischen Untersuchung betritt Raschke Neuland in der Verbandsforschung. Eine umfassende Erhebung und Analyse aller Vereine in der Bundesrepublik, ihrer Funktionen und ihres Einflusses, wäre kaum realisierbar gewesen. Raschke muss sich also in seiner Neugier zügeln und beschränkt sich sowohl geografisch als auch in seinem Erkenntnisinteresse. Es geht ihm zunächst weder um eine Einflussanalyse noch um eine Mitgliederbefragung, sondern um eine Charakterisierung der Frankfurter Verbandsstruktur. Damit die Generalisierbarkeit der Erkenntnisse nicht der notwendigen räumlichen Einschränkung zum Opfer fällt, sucht Raschke nach einem im Hinblick auf die Vereinstypen und- struktur möglichst repräsentativen, aber eng begrenztem Gebiet. Die Wahl fällt schließlich auf Frankfurt am Main, welches als Großstadt nicht nur eine große Anzahl an Vereinen bietet (mehr als 2600), sondern auch das Spektrum der Vereine besser abdeckt als ländliche Gebiete und als „Nebenlandeshauptstadt“ zusätzlich Spitzen- und Dachverbände beherbergt. Damit ist Frankfurt zwar sicherlich nicht repräsentativ für eine „typische“ Region Deutschlands, aber eignet sich zumindest dafür, einen Überblick über die Vereinsstruktur zu gewinnen.

Die Beschreibung der Frankfurter Vereinigungen nimmt mit 120 Seiten den Hauptteil des Buches ein. Analysiert werden die Vereinssatzungen und die Antworten zu einem kurzen Fragebogen, welcher schriftlich an alle Vereine übersendet wurde. In Kapitel 5 unterscheidet Raschke die Vereine zunächst anhand ihres Interessenbereichs, welcher in der Satzung festgelegt sein muss. Die folgenden neun Kapitel tragen eine Vielzahl von Informationen zu Vereinsgründungen, Namensgebung, Anzahl der Mitglieder, der Vereinsorganisation und -struktur, sowie zu den durch die Vereine bereitgestellten Dienstleistungen, der Kommunikationsformen der Vereine, Mitwirkungsmöglichkeiten der Mitglieder und Arbeit der Vereinsfunktionärinnen zusammen. Das ist beinahe alles erstmal deskriptiv und das Erkenntnisinteresse auch nicht immer ganz ersichtlich, z.B. die Analyse der Namensgebung der Vereine. Trotzdem ist diese Zusammenstellung allein in ihrer schieren Größe und Detailgenauigkeit beeindruckend. Was aber sagt sie uns über die Organisation von Interessen in der Bundesrepublik?

Die Interpretation der Ergebnisse fällt nach der monumentalen Datendeskription eher knapp aus. Raschke unterscheidet zwei Modelle des Verbandssystems: Organisations- und Systempartizipation. Das erste Modell beschreibt die innerorganisatorischen Legitimitätsprozesse, das letztere den Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse. Mit Blick auf Organisationspartizipation werden den Frankfurter Vereinen trotz ihrer im Durchschnitt eher niedrigen Mitgliederzahl, lokalen Organisationsebene und angemessenen Funktionärsapparate keine guten Voraussetzungen für innerorganisatorische Teilhabe attestiert. Selten stattfindende Mitgliederversammlungen und ein geringes Ausmaß an vereinsinterner Ausschussarbeit lassen darauf schließen, dass die betreffenden Vereine kaum als Forum eines lebhaften Meinungsaustausches beschrieben werden können. Diese Erkenntnis passt zum Befund, dass zur Systempartizipation der überwiegenden Mehrheit der Vereine keine wesentlichen Machtressourcen zur Verfügung stehen. Stattdessen sind Vereine in erster Linie Dienstleister für ihre Mitglieder.

Insgesamt wirkt die Interpretation seltsam losgelöst von der vorausgehenden Datenbeschreibung. Nur selten wird auf die Ergebnisse der Erhebung Bezug genommen, was auch daran liegt, dass sich auf Grundlage der Daten nur begrenzt Aussagen über den politischen Einfluss der Vereine und der Teilhabe der Mitglieder treffen lassen. Raschke betont auch immer wieder, dass es sich bei Erhebung weder um eine Mitglieder- noch um eine Einflussanalyse handele und damit die Studie wenig bis keine Rückschlüsse auf zentrale Fragen der Verbandsforschung zuließe (beispielsweise inwiefern Verbände politische Einflussnahme ausüben). Der knappe Interpretationsteil ist dennoch etwas unbefriedigend nach der Lektüre von 120 Seiten Datendeskription. Als Leserin wünscht man sich, Raschke hätte dem großen Aufwand, welcher in die Datenerhebung geflossen ist, eine tiefergehende Analyse angeschlossen.

Möglicherweise hätte sich das Potenzial für eine detailliertere Datenanalyse unter einem anderen theoretischen Rahmen geboten. Der Interpretationsteil orientiert sich stark an der Systemtheorie, welche zwar analytische Begrifflichkeiten zur Beschreibung der Funktionen und Stellung von Vereinen im Bezug zur Gesellschaft bereitstellt, sich aber der Herleitung empirisch falsifizierbarer Hypothesen weitestgehend entzieht. Ein Blick auf die angelsächsische Literatur und ein analytisch-empirischer Zugang hätte der Studie wohl erlaubt weitergehende empirische Erkenntnisse zu gewinnen. Raschke bleibt jedoch beinahe ausschließlich der deutschsprachigen Literatur treu. Das ist schon erstaunlich. Mancur Olsons The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, ein Klassiker der Interessensgruppenforschung von 1965, wird beispielsweise nicht mal erwähnt.

So wird man den Eindruck nicht los, dass diese Datensammlung eine tiefergehende Analyse verdient hätte. Diese kann aber durchaus noch kommen. Im Zeitalter von „Data Science“ erweisen sich historische Datensätze manchmal als wahre Goldgrube für aktuelle Fragestellungen. Mit der wachsenden Rechenleistung von Computern haben sich in den letzten Jahrzehnten viele neue Möglichkeiten der Datenanalyse eröffnet. Daher sind viele Wissenschaftlerinnen auf der Suche nach qualitativ hochwertigen historischen Datensätzen, die bei der Beantwortung heutiger Fragestellungen helfen können. Auch bei der Kommunikation und Darstellung von Daten und Erkenntnissen daraus hat sich einiges getan (Stichwort: Datenvisualisierung – im Buch findet sich keine einzige Abbildung). Welche Muster sich durch eine sorgfältige Aufbereitung der Daten entdecken lassen könnten, lässt sich nur erahnen. Gut möglich also, dass Raschkes Datensatz aus dem Jahre 1978 noch einmal ein Comeback erleben könnte.

Wie aktuell sind die Erkenntnisse des Buches heute noch? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass Peter Raschke mit seinem Buch eine enorme Weitsicht bewiesen hat. Forschung rund um Vereine und ihre Rolle in der Zivilgesellschaft ist aktuell und relevant, was nicht zuletzt das vierjährig stattfindende ZiviZ-Survey zeigt. Im Buch beschreibt Raschke Vereinsmitglieder als weitestgehend apathisch, was interne Mitarbeit betrifft und Vereine als uninteressiert an politischer Einflussnahme. Laut ZiviZ-Survey 2017 verstehen sich dagegen heute viele Vereinsmitglieder als „Akteure der politischen Willensbildung”.[3] Zumindest hier scheint sich einiges geändert zu haben.


[1] Jana Priemer, Holger Krimmer & Anaël Labigne 2017. ZiviZ-Survey 2017 – Vielfalt verstehen. Zusammenhalt stärken, verfügbar unter https://www.ziviz.de/ziviz-survey (29. Mai 2020).

[2] Peter Raschke 1978. Vereine und Verbände. Zur Organisation von Interessen in der Bundesrepublik Deutschland, München.

[3] Jana Priemer, Holger Krimmer & Anaël Labigne. ZiviZ-Survey 2017, 5.

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