Die aktuelle Covid-19-Pandemie und die öffentlichen wie politischen Reaktionen zeigen: Ein rascher Mentalitätswandel, politisches Handeln und das Adressieren von existenziellen Krisen ist – wenn Politik und Bevölkerung möchten – möglich. Warum dagegen Maßnahmen gegen den Klimawandel, seit Jahrzehnten gefordert und spätestens seit Greta Thunberg und der Fridays for Future-Bewegung ganz oben auf der politischen ToDo-Liste, bislang kaum den Stellenwert der aktuellen Krise erlangen konnten, liegt, so Elvira Rosert in ihrem Beitrag, vor allem an zwei Faktoren: Zeit und Komplexität.
Elvira Rosert ist Juniorprofessorin für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Beziehungen, an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit internationalen Normen und internationalen Institutionen. Mit der Konstruktion und Wahrnehmung öffentlicher Angelegenheiten hat sie sich u. a. in dem Artikel „Salience and the Emergence of International Norms: Napalm and Cluster Munitions in the Inhumane Weapons Convention“, erschienen bei Review of International Studies, und in dem Artikel „Norm Emergence as Agenda Diffusion. Failure and Success in the Regulation of Cluster Munitions„, erschienen im European Journal of International Relations, befasst.
Es ist erfreulich und bitter zugleich: Nicht wenige Maßnahmen, die Staaten ergreifen, um die Covid-19-Pandemie zu bekämpfen, werden längst und mit Nachdruck zum Schutz unseres Klimas gefordert – weniger fliegen, weniger konsumieren, sich im Alltag auf das Nötigste beschränken. Die Bevölkerung verzichtet, der Staat zahlt. Um die Verbreitung des Sars-CoV-2-Virus aufzuhalten, werden einerseits soziale und wirtschaftliche Folgen in Kauf genommen, die das, was nötig wäre, um den Klimawandel aufzuhalten, in der Breite und Tiefe dramatisch übertreffen. Andererseits werden diese Folgen (wenn auch nicht in allen Bereichen) nach dem Whatever-It-Takes-Credo abgefedert. Die Länder, die es sich leisten können, schnüren milliardenschwere Hilfspakete; internationale Organisationen, etwa der Internationale Währungsfonds, sagen in Not geratenen Staaten Kredite zu und erlassen Schulden. Um Budgets für den Klimaschutz wird hingegen auf einem wesentlich geringerem Niveau gefeilscht; Klimaschutzpakete werden als unzureichend kritisiert. Nicht verwunderlich, dass Klimaaktivistinnen darin den Beweis dafür sehen, was sie schon lange kritisiert haben: Klimaschutz scheitert nicht an den Möglichkeiten, er scheitert am politischen Willen. Dieser Wille war bei der Covid-19-Bekämpfung vergleichsweise schnell da, während beim Klimaschutz auch nach Jahrzehnten der Widerwille dominiert. Warum ist das so?
Auf diese Frage hätte die Politikwissenschaft viele Antworten zu bieten, etwa die Interessenskonstellation der Akteure oder die materielle Anreizstruktur. Ich konzentriere mich im Folgenden auf Erklärungen, die die Covid-19-Pandemie und die Klimakrise als öffentliche Angelegenheiten in den Fokus nehmen. Entsprechende Ansätze sind für meine Forschung zu internationalen Normen zentral, weil sie Aufschluss darüber geben, welche Probleme weshalb die Agenda der politischen Entscheidungsträgerinnen erreichen und bei ihnen Handlungsdruck erzeugen – und welche nicht. Zwei Faktorenbündel scheinen mir hier besonders relevant, weil sie viele Unterschiede zwischen den Fällen Covid-19-Pandemie und Klimawandel offenbaren: Zeit und Problemkomplexität.
Der Faktor Zeit: Dringlichkeit und Tempo
So haben wir es bei beiden Krisen in mehrfacher Hinsicht mit verschiedenen Zeithorizonten zu tun. Täglich drängt eine Vielzahl von Problemen auf politische Tagesordnungen – welche dieser Probleme es überhaupt auf die Agenda schaffen und dann auch noch vorrangig bearbeitet werden, hängt unter anderem davon ab, als wie dringend sie wahrgenommen werden. Nach diesem Kriterium ist Prävention gegenüber der Reaktion immer im Nachteil, zumal es der Politik aufgrund begrenzter Ressourcen nicht einmal im Reaktionsmodus gelingt, alle dringenden Probleme anzugehen. Die Covid-19-Pandemie führte uns einmal mehr vor Augen, wie schwierig präventives Handeln ist: Fast alle Länder reagierten darauf zu spät, nämlich erst, als das Virus bereits endemisch war und seine Ausbreitung den Punkt überschritten hatte, an dem man sie noch hätte mit der Nachverfolgung einzelner Infektionsketten eindämmen können.
Das ist so tragisch wie erstaunlich. Denn zum einen entwickelt sich dieses Hybrid aus Natur- und Sozialkatastrophe in verschiedenen Ländern und an verschiedenen Orten innerhalb der Länder zeitlich versetzt, sodass man hätte aus den Fehlern anderer lernen können. Zum anderen haben die schnell verfügbaren Daten ziemlich genaue Vorhersagen ermöglicht, wie sich das Virus ohne Gegenmaßnahmen ausbreiten würde – und zwar nicht nur langfristig, sondern auch für kurze Prognosezeiträume mit der Dauer von eins bis zwei Wochen. Nichtsdestotrotz haben viele Staaten erst reagiert als IHRE Intensivstationen überlastet wurden und nicht etwa spätestens dann, als das bei den Nachbarn bereits der Fall war (eine Ausnahme waren die osteuropäischen Länder). Wenn Maßnahmen also selbst bei einem akuten Ereignis, das sich kurzfristig absehbar entwickelt, derart zögerlich ergriffen werden, ist es kaum überraschend, dass längere Zeithorizonte wie Jahre bzw. eher Jahrzehnte, um die es beim Klimawandel geht, umso weniger zu entschiedenem Handeln motivieren.
Das Tempo, in dem sich das Problem entwickelte, erklärt die plötzlichen drastischen und umfassenden Maßnahmen, die folgten, nachdem das anfängliche Zögern überwunden war. Vollzieht sich der Klimawandel langsam und ist vor allem an langfristigen Trends, etwa dem Anstieg der Durchschnittstemperatur, erkennbar, hat die Covid-19-Pandemie innerhalb von drei Monaten einen Großteil der Welt erfasst. Die Anzahl der Länder mit nachgewiesenen Sars-CoV-2-Infektionen wuchs und wächst weiterhin täglich. Wichtiger war jedoch von Beginn an ein anderer Indikator: die Fallzahlen (mit all ihren Messproblemen, die durch unterschiedliche Zählweisen, Testkapazitäten oder Übermittlungsprozesse bedingt sind). Weil sich das Virus nicht linear, sondern exponentiell verbreitet, nehmen sie rasant zu; dramatische Veränderungen werden in ihnen nicht erst innerhalb von Wochen, sondern schon innerhalb von Tagen sichtbar.
Die unterschiedlich schnelle Problementwicklung spiegelt sich zwangsläufig in der Konzentration entsprechender Nachrichten wider. Zwar hat die Fridays-For-Future-Bewegung dem Klimawandel enorm zur Salienz verholfen, doch das Problem selbst erzeugt nicht täglich Nachrichten und lässt mehr als genug Raum für anderes. Die Coronapandemie hingegen hat die Medienaufmerksamkeit schnell absorbiert. Ihre beispiellose Ubiquität speist sich aus einem unerwarteten Systemschock, der alle Ebenen – global, national, lokal und individuell – für sich wie auch im Zusammenhang miteinander durchrüttelt; ihre Dynamik speist sich nicht nur aus den Fallzahlen in verschiedenen Ländern, sondern auch aus täglich neuen politischen Entscheidungen, aus ihren unzähligen sozialen und ökonomischen Auswirkungen und aus immer neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Virus.
Der Faktor Komplexität: Ursachen, Erscheinungsformen und Gegenmaßnahmen
Neben zeitlichen Faktoren beeinflusst auch die Komplexität der Probleme den Handlungsdruck – allerdings negativ, denn zu komplexe Aufgaben können blockieren. Zu Beginn war dies sicherlich ein Grund für viele Staaten, die Risiken des Virus herunterzuspielen, weil schwer zu begreifen und schwer zu akzeptieren war, was ihnen bevorsteht, wenn sie die Coronapandemie in den Griff kriegen wollen (abgesehen davon, dass sich die Experten durchaus uneinig waren, wie dieser Griff aussieht, d. h. ob das Handeln auf kontrollierte Durchseuchung oder auf Eindämmung ausgerichtet sein sollte). Dennoch gewinnt die Pandemie in der Kategorie Problemkomplexität gleich dreifach gegen den Klimawandel. Erstens sind die Kausalketten unterschiedlich lang und verzweigt. Zwar ist bekannt, welche anthropogenen Mechanismen den Klimawandel verursachen, doch es sind viele verschiedene. So vielschichtig und disruptiv die Folgen der Pandemie sind, so einfach – und den Menschen auch durch andere ansteckende Krankheiten bekannt und damit nachvollziehbar – ist jedoch der Mechanismus, der sie antreibt: Ein Virus namens Sars-CoV-2 überträgt sich durch eine Tröpfchen-, seltener durch eine Schmierinfektion, von Mensch zu Mensch, sodass immer mehr von ihnen an der Krankheit Covid-19 erkranken und sie in der mobilen und vernetzten heutigen Welt verteilen.
Zweitens tritt der Klimawandel in sehr unterschiedlichen Formen in Erscheinung. Z. B. sterben Korallenriffe, Permafrostböden tauen auf, Wälder trocknen aus. Ihm fehlt deshalb das eine Symbol (Greta Thunberg, an die man dabei vielleicht denkt, ist ein Symbol der neuen Klimabewegung, nicht des Klimawandels). Indes sind die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie widersprüchlich, mitnichten für alle gleich und dennoch, zumindest in den westlichen Gesellschaften, auf eine bizarre Weise schablonenhaft. Ähnlich sind die Probleme, die jetzt unübersehbar werden; ähnlich ist auch, dass man um diese eigentlich längst weiß, jedoch vor der Coronakrise nicht wissen wollte. Die Lockdowns führen uns vor, dass die nun als systemrelevant klassifizierten und beklatschten Jobs, von denen viele eben nicht aus dem geschützten Home Office zu erledigen sind, zu den am schlechtesten bezahlten gehören – und dass in diesen Jobs überdurchschnittlich oft Frauen sowie Migrantinnen und Migranten arbeiten. Die öffentlichen Gesundheits- und Pflegesysteme sind personell und finanziell nicht bloß auf Kante genäht, nein, darin klaffen Löcher. Der wahre Wert der Care-Arbeit, die mehrheitlich Frauen – als Mütter oder als Erzieherinnen – leisten, wird auf einmal dadurch deutlich, dass sie sich nicht mehr outsourcen lässt und deshalb auch die höher geschätzte und bezahlte Arbeit nicht stattfinden kann. Die extrem ungleichen Wohnbedingungen (Eigenheime mit Gärten am Feldrand vs. Hochhaussiedlungen mit kleinen Zimmern ohne Nähe zu Parks und Wäldern) bestimmen nicht nur, wer wie gut mit Ausgangsbeschränkungen zurechtkommen kann; die beengten Wohnverhältnisse erhöhen auch das Ansteckungsrisiko.
Ähnlich äußert sich auch die Krankheit selbst, obwohl sich Covid-19 als unberechenbarer und gefährlicher herausgestellt hat als anfangs gedacht. Sie hat mit Husten und Fieber eine typische Symptomatik, mit der Beatmung eine für die schweren Fälle typische Behandlungsmethode, und mit den Masken, die auch hier immer mehr zum Straßenbild gehören, eine sichtbare Schutzmaßnahme mit Symbolcharakter. Bei den Covid-19-Opfern gibt es zwar unterschiedliche Zählweisen und sicherlich auch Kollateralschäden, die (noch) nicht statistisch erfasst werden können. Doch immerhin hat man eine Menge Zahlen, und sie wachsen täglich. Und man hat Bilder von überfüllten und improvisierten Leichenhallen. Beim Klimawandel hingegen gibt es das Problem der Zurechenbarkeit: Weil es ungleich schwieriger ist, einzelne Naturkatastrophen als Ausdruck des Klimawandels zu vermitteln, ist es auch schwierig, die Opfer des Klimawandels zu beziffern und zu visualisieren.
Drittens wirken die Maßnahmen, die die Staaten gegen den Klimawandel und gegen die Covid-19-Pandemie einleiten, unterschiedlich schnell. Wie gut die eingesetzten Strategien den Klimawandel aufhalten, wird nur langfristig sichtbar, ihre Kosten aber sind kurzfristig spürbar. Die positiven Effekte der Maßnahmen sind zudem diffus, nur schwer von anderen Einflüssen isolierbar und sie werden durch fehlende oder halbherzige Maßnahmen andernorts reduziert, wenn nicht gar neutralisiert. Weil das Problem außerdem schon so lange auf der Tagesordnung vor sich hindümpelt, ist es schwer, zu begründen, dass JETZT unbedingt gehandelt werden muss. Eine Pandemie dieses Ausmaßes ist hingegen nicht nur ein neues Thema. Auch machen die Zahlen der Covid-19-Infizierten unmissverständlich klar: Jeder weitere Tag Nicht-handeln bedeutet signifikant mehr Infizierte und damit auch Tote – und das würde man sehen. Sowohl am Verlauf einzelner Fallkurven als auch im Vergleich mit anderen Orten lässt sich, verzögert um die Inkubationszeit und Testergebnisse, innerhalb von zwei bis vier Wochen ablesen, dass und wie Lockdowns, Abstands- und Hygienegebote die Ausbreitung des Virus eindämmen. Entsprechend leicht ist es, den Entscheidungsträgern Erfolge zuzuschreiben und Versäumnisse anzulasten.
Für die Zukunft: Prävention als Prinzip
Die Frage, was man aus der Coronapandemie lernen kann, um die Politik auch beim Klimawandel zum entschlossenen Handeln zu bewegen, ist einen eigenen Beitrag wert. Dennoch will ich zum Schluss einige Botschaften erwähnen, auf die man dabei setzen könnte. Eine solche Botschaft hat die Klimabewegung bereits früh aus der Coronakrise extrahiert: Die Politik kann, wenn sie will. Ich würde diese noch, ausgehend von den hohen Zustimmungswerten für die Maßnahmen und die seltenen Verstöße, wie folgt ergänzen: Und die Bevölkerung macht mit, wenn sie den Grund versteht. Der Staat kann durchaus in die Lernfähigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger vertrauen und braucht sich nicht hinter dem Argument zu verstecken, die Maßnahmen seien unzumutbar und nicht durchsetzbar. Außerdem kann man darauf pochen, dass die Pandemie den hohen, lebensrettenden Stellenwert der Prävention demonstriert hat. Diese Einsicht müssen wir festhalten und mobilisieren. Sie kann helfen, die Regierungen dahin zu drängen, sich auch bei ihren Klimaanstrengungen zukünftig vom folgenden Satz, der eine Umkehr des bisherigen ist, leiten zu lassen: There IS glory in prevention.
Wird dieserArtikel von Entscheidern gelesen? Hoffentlich!!!!
Es ist ein vielleicht albernes Gedankenspiel – aber in der Überlegung, wo „Prävention“ mittlerweile wertgeschätzt wird komme ich u.a. auf Sexualverhütung. … lässt sich eine konstruktive Analogie aufbauen? laute denkend, und dankend für den Artikel