Hannah Arendt in Hamburg: Clara Maier zur Rede bei der Verleihung des Lessingpreises 1959

Hannah Arendt gehört zu den bedeutenden Politischen Theoretikern des 20. Jahrhunderts. Ihre Hamburger Rede vom 28. September 1959 trägt den Titel ‘Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten’“. Zusammen mit flankierenden Texten ist ihre Lessingrede, herausgegeben von Matthias Bormuth, in diesem Jahr bei Matthes und Seitz (Berlin) in dem Buch ‚Freundschaft in finsteren Zeiten‘ neu erschienen.

Clara Maier ist Ideenhistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung und hat 2016 an der Universität Cambridge zu Debatten um den „Deutschen Sonderweg“ promoviert. Sie ist Autorin von „Gehegte Demokratie. Zur Idee des Rechtsstaats in Deutschland und Spanien“, Mittelweg 36 (2018).


Ei des Kolumbus – so umschrieb Hannah Arendt den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg, als sie diesen vor sechzig Jahren entgegennahm.[1] Arendt ironisierte gegen die, wie sie wohl fand, etwas gewaltsame Aneignung des Hamburger Senats, dessen Verhältnis zu Lessing ein nicht eben einfaches war. Schließlich hatte der Hamburger Senat nicht nur einst Lessings Stücke verboten, und verfügt, von dessen Tod 1781 „keine Notiz zu nehmen“,[2] der Lessing-Preis selbst war in der Nazi-Zeit zu einem „Instrument nationalsozialistischer Literaturpolitik“ verkommen.[3]

Arendt traf auf eine deutsche Gesellschaft, die in einem schwierigen Verhältnis nicht nur zu ihrer unmittelbaren Vergangenheit stand, sondern auch zu den positiven Aspekten ihrer Geschichte. Zum einen konnte eine Anknüpfung an die deutsche Aufklärung, an Lessing, Kant, Herder und Andere in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Korrektiv zu einer allzu einseitigen Geschichtsschreibung dienen. Arendt selbst hatte schon in den 1940er Jahren gegen eine Geschichtsschreibung argumentiert, die die deutsche Vergangenheit schlechthin als problematisch, gar als eine Einbahnstraße hin zum Nationalsozialismus, darstellte. Zum anderen konnte die positive Aneignung gerade von Figuren wie Lessing aber auch dazu dienen, Kontinuitäten zu überdecken und das emanzipative Potential einzelner Figuren der deutschen Ideengeschichte zu überschätzen.

Was bedeutete es nun also, wenn ein Hamburger Senator Arendts intellektuellen Stil in seiner Festrede als „lessinghaft“ pries?[4] Das ironisch temperierte Unbehagen Arendts war deutlich spürbar. Schon in einem Brief an Karl Jaspers hatte sie davon gesprochen, dass er ihr diesen Preis „eingebrockt“ habe.[5] Ihre Schulfreundin Anne Weil ahmte diesen Ton nach, wenn sie in einem Brief vom Hamburger „Klimbim“ schrieb.[6] Dennoch gelang Arendt mit ihrer Rede ein Balanceakt, indem sie die Schwierigkeiten ihres Verhältnis zum damaligen Westdeutschland und dessen politischer Kultur deutlich zur Sprache brachte und zugleich eine positive Vision einer aufgeklärten Politik entwickelte.

Arendts Hamburger Rede von der „Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ bildet einen faszinierenden Kulminationspunkt ihres Denkens. Sie verknüpft auf einzigartige Weise Arendts komplexe Ideenwelt, und spannt den Bogen von ihren frühen Arbeiten zum Problem der jüdischen Identität und der Aufklärung hin zu ihren philosophisch-politischen Grundlegungen zur Natalität in Vita activa. Lessing diente Arendt dabei sowohl zur Abgrenzung als auch als Figur radikaler Geistesverwandtschaft.

Am Beispiel von Lessings Theorie des Mitleids in der Hamburgischen Dramaturgie exemplifizierte Arendt die Abwendung von konkreten politischen Kategorien hin zu einer sentimentalen Philosophie der Humanität und Brüderlichkeit in der Zeit der Aufklärung. Einer Philosophie, die letztlich – in Arendts Sprache – weltlos bleiben musste. Wie später in ihrem Eichmannbuch polemisierte Arendt gegen einen Begriff der Menschlichkeit ohne politische Folgen. Dort würde sie schreiben, dass der deutsche Begriff „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ das „Understatement des Jahrhunderts“ sei – ganz so „als hätten es die Nazis lediglich an Menschlichkeit fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten“.[7]

In ihrer Hamburger Rede nahm sich Arendt nun also den historischen Prozess der Aushöhlung und Verinnerlichung der politischen Kultur – besonders der deutschen – vor. Arendt verband die Kultur einer apolitischen Menschlichkeit historisch mit der neuen Rolle des Mitleids als dem einenden Impuls menschlicher Soziabilität, wie sie im 18. Jahrhundert zuerst gedacht worden war. Das Mitleid, das in Lessings Umdeutung der Aristotelischen Dramentheorie eine entscheidende Rolle gespielt hatte, habe, so Arendt, die Vorstellungen einer aufgeklärten Politik entscheidend geprägt und so eine letztlich weltabgewandte politische Kultur hervorgebracht. Arendt argumentierte gegen eine Menschlichkeit, die auf dem Mitleiden mit dem Anderen aufbaute und sich im Glauben an die Bruderschaft aller Menschen erschöpfte. Eine solche Humanität sei unfähig Verantwortung für die konkreten Verhältnisse zu übernehmen, innerhalb derer Menschen eben keine Brüder sind. Es sei genau diese unpolitische Politik der Brüderlichkeit, die die Innere Emigration so vieler Deutscher ermöglicht habe. Natürlich sei es verständlich gewesen, so Arendt, sich „im Asyl des eigenen Inneren häuslich“ einrichten zu wollen. Das „Resultat“ sei jedoch immer, dass dabei „die Menschlichkeit mit der Wirklichkeit wie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet“ werde.[8]

Dieser Realitätsverlust bestimme auch in der Nachkriegszeit die Haltung der Deutschen zu ihrer Vergangenheit, so Arendt. Sie attestierte den ihnen eine „Neigung so zu tun, als habe es die Jahre von 1933 bis 1945 gar nicht gegeben“, das „Negative zu vergessen“ und so – mit Lessing – das „Furchtbare ins Sentimentale zu verfälschen“.[9] Die Menschlichkeit als Brüderlichkeit stehe eben nicht allen Menschen zu, argumentierte Arendt, sie sei das „Recht der Pariavölker“, derjenigen, die sich in der Unterdrückung mit einer „unheimlichen Realitätslosigkeit entschädigen“. Für die Anderen aber bestehe eine Verantwortung, eine „Verpflichtung“, sich der Welt zu stellen.[10]

Der lauwarmen Rhetorik der Menschlichkeit, dem „Es genügt ein Mensch zu sein“ des Nathan, stellte Arendt Lessings radikal-kritische Geisteshaltung entgegen. Hier, in seiner Haltung zur Welt und zur Wahrheit, die sich auch in der Ringparabel ausdrückte, sah Arendt das Potential zu einer aufgeklärten, der Welt zugewandten Politik. Arendt betonte die selbstbewusste Unabgeschlossenheit von Lessings intellektuellem Stil, durch den sein Denken ein „vorweggenommenes Sprechen mit anderen“ wurde.[11] Diese Offenheit, die Ablehnung eines Gesprächsstils des Rechthabens und der Objektivität, sei die Grundlage einer echten bezugnehmenden Menschlichkeit – einer Menschlichkeit, die sich nicht zurückzieht, sondern auf den Anderen zugeht. Diese Menschlichkeit, auch wenn Arendts sie in ihrer Rede mit dem Begriff der philia assoziiert, sollte aber nicht allzu leicht, wie in der Neuausgabe des Textes aus diesem Jahr geschehen[12], mit Arendts eigenen Freundschaften in Verbindung gesetzt werden. Wie faszinierend Arendts persönliche Beziehungen auch immer gewesen sein mögen, es wäre eine Entpolitisierung ihres eigenen gegen die Entpolitisierung gerichteten Denkens ihre Texte vor allem mit Verweis auf solche Verbindungen zu lesen. Philia ist mehr Lessings Verbindung zu Johann Melchior Goeze, als Arendts zu Mary McCarthy oder Karl Jaspers.

Arendt pries Lessings „erstaunlichen Mangel an Sachlichkeit“.[13] Kant habe zwar eingesehen, dass „es absolute Wahrheit für den Menschen nicht geben kann“, aber er habe das Absolute selbst in seiner Ethik letztlich doch nicht aufgeben können. Er habe damit den menschlichen Bereich auf etwas festgelegt, das dessen Wesen, nämlich dem der „grundsätzlichen Relativität“[14], widersprach. Lessing dagegen habe sich gerade über die Unsagbarkeit der Wahrheit, die die Philosophen so gequält habe, „gefreut“, so Arendt. Nicht nur „die Einsicht, daß es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben“ könne, sondern „die Freude, daß es sie nicht gibt und daß das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen überhaupt“ gebe, das zeichne „die Größe Lessings“ aus.[15]

Mit Lessing gelang es Arendt die problematischen Tendenzen, aber auch die enormen Potentiale einer von der Aufklärung geprägten politischen Kultur herauszuarbeiten. Ihre Hamburger Rede zeigt eindrücklich wie falsch es wäre, Arendt in eine Reihe mit Denkern wie Eric Voegelin oder Reinhart Koselleck zu stellen, die die Aufklärung letztlich als den Beginn eines Verfalls europäischer Kultur und Politik verstanden, der im Totalitarismus mündete. Für Arendt, die schließlich das Denken ohne Geländer erprobte, war „die schrankenlose Beweglichkeit des revolutionären Denkens“ nicht eine „dramatische Gefahr“, die die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zerstörte.[16]  In einem Brief an Arendt hatte Eric Voegelin einmal angemerkt, dass ihre Kritik des Totalitarismus nicht weit genug gehe, ja, dass die Geschichte des Totalitarismus nur im Zusammenhang des Verfalls des Christentums überhaupt zu verstehen sei. Arendt antwortete darauf lapidar, dass sie als jemand, „der nicht Christ sei, im Verfall des Christentums Gutes wie Schlechtes sehe“.[17] Sie ließ sich also auf eine zu eindeutige Deutung moderner Geschichte nicht festlegen.

Arendt, das macht ihre Rede deutlich, gehörte nicht zu denen, die aus der Kritik die Krise der Moderne ableiten wollten.[18] Kritik, die Unabgeschlossenheit, Widersprüchlichkeit und Offenheit des Denkens, das sich im Kontakt mit Anderen immer wieder neu entfaltet, ist für sie gerade das Lebenselixier einer wirklich menschlichen Politik.


[1] Hannah Arendt: Rede am 28. September 1959 bei der Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg, Hamburg 1999, S. 10.

[2] Jan-Philipp Reemtsma: Lessing in Hamburg, 1766-1770, München 2007, S. 101.

[3] Hanna Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor: Städtische Literaturpreise und Kulturpolitik in Deutschland, 1926-1971, Berlin und New York 1994, S. 189.

[4] Siehe: Hannah Arendt: Freundschaft in finsteren Zeiten: Gedanken zu Lessing, Berlin 2019, S. 10.

[5] Ibid., S. 7.

[6] Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen: Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolf, München 2017, S. 169.

[7] Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964, S. 399.

[8] Hannah Arendt: Rede, S. 41.

[9] Ibid., S. 34.

[10] Ibid., S. 29.

[11] Hannah Arendt: Rede, S. 18/19.

[12] Hannah Arendt: Freundschaft in finsteren Zeiten, hg. v. Martin Bormuth, Berlin 2019.

[13] Ibid., S. 51.

[14] Ibid., S. 48.

[15] Ibid., S. 48.

[16] Matthias Bormuth: Im Spiegel Lessings oder eine Republik der Freunde, in: Hannah Arendt: Freundschaft in finsteren Zeiten, Berlin 2019, S. 34.

[17] Peter Baehr (ed.), ‘Debating Totalitarianism: An Exchange of Letters between Hannah Arendt and Eric Voegelin. Introduced and edited by Peter Baehr and translated by Gordon C. Wells’, in: History and Theory, 51 (2012), S. 373.

[18] Vergleiche: Matthias Bormuth: Im Spiegel Lessings oder eine Republik der Freunde, in: Hannah Arendt: Freundschaft in finsteren Zeiten, Berlin 2019, S. 38/39.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert