Totaler Staat und Rechtsprechung: Florian Meinel über Ernst Forsthoffs Gastspiel in Hamburg

Ernst Forsthoff, Autor von Der totale Staat (1933), wurde nach einer Empfehlung von Carl Schmitt als Nachfolger von Kurt Perels auf einen Lehrstuhl für öffentliches Recht der Universität Hamburg berufen. Er gehört zu den Juristen, die in der Nachkriegszeit bleibenden Einfluss auf die Politikwissenschaft ausübten, vor allem mit seiner Monographie von 1971, Der Staat der Industriegesellschaft.

Florian Meinel hat den Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg inne. Er ist der Autor von Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit (Berlin: Akademie 2011). Zuletzt erschien Vertrauensfrage. Zur heutigen Krise des Parlamentarismus (München: Beck 2019). Meinel lebt mit seiner Familie in Hamburg.


Der Staatstheoretiker und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff, dessen Name sich heute vor allem mit der Heidelberger Universität der Nachkriegszeit verbindet, lehrte 1935 ein einziges Semester an der Hamburger Universität. Ein kurzes Intermezzo während des nationalsozialistischen Revirements der Universität, aber kein unbedeutendes.

Forsthoff kam im April 1935 aus Frankfurt,[1] auch das eine junge bürgerlich-liberale Universität, die nach dem Wissen der neuen Machthaber zu einer nationalsozialistischen Vorzeigeuniversität werden sollte, aber nicht wirklich wurde. In Hamburg war schon Ende 1933 der Lehrstuhl von Kurt Perels vakant geworden, der sich aus Verzweiflung über die gegen ihn gerichteten Diskriminierungen das Leben genommen hatte. Forsthoff war der Kandidat des nationalsozialistischen Rektors Adolf Rein und des Ministeriums,[2] die den Widerstand der Fakultät, die ganz andere Pläne hatte, zu brechen wussten. Forsthoffs akademischer Lehrer Carl Schmitt machte dabei seinen Einfluss geltend und hatte schon vor dem Tod Perels‘ mit Rein über die Wiederbesetzung des Lehrstuhls korrespondiert. So übernahm Forsthoff zum 1. April 1935 einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Juristischen Fakultät.

Bekannt war er damals vor allem als Verfasser einer kleinen, im Sommer 1933 erschienenen Broschüre „Der totale Staat“: eine nationalsozialistische Bekenntnisschrift mit einigen schwachen konservativen Rest-Vorbehalten gegen die Hitler-Diktatur. Den Begriff des totalen Staates hatte Carl Schmitt 1931[3] als Analogie zu Ernst Jüngers „totaler Mobilmachung“ geprägt,[4] und in diesen Begriffen deutete Forsthoff die sich formierende NS-Herrschaft in ihrer frühen Phase. Es ist die Apologie eines faschistischen, durch Führertum und Gesinnung integrierten Arbeitsstaates, der sich ganz bewusst als Gegensatz zum liberalen Rechtsstaat versteht: Die Verfassungsfrage des bürgerlichen Rechtsstaates war für Forsthoff mit dem Nationalsozialismus „erledigt“, denn die Verfassung des Führerstaates stelle die Wissenschaft nicht mehr vor jene „Interpretationsprobleme, wie sie das Verfassungsgesetz von Weimar enthielt“. Alle an die Verfassungsordnung des Rechtsstaates gebundenen Institute und Begriffe des öffentlichen Rechts seien fortan nicht mehr „erörterungsbedürftig“.

Vor allem in der Hervorhebung der Rolle von Verwaltung und Technik weist die Schrift aber über den totalen Staat auf Forsthoffs spätere Theorie des Verwaltungsstaates voraus. Ein „Volk des Radios, des Sports, des Wochenends, der Siedlungen, der Maschinenwerkstätten, der Autobahnen“ sei „an besondere, wesentlich durch Technik und Maschine bestimmte Formen und Lebensbedürfnisse gebunden“. Es könne deswegen nicht allein durch Artgleichheit und Gesinnung, durch Bewegung und Führertum integriert werden, sondern bedarf daneben eines leistungsfähigen Verwaltungsapparats. Aus der Hamburger Zeit stammen zwei Aufsätze, in denen Forsthoff begann, die Konsequenzen dieser Einsicht für das Verwaltungsrecht zu ziehen, und in denen seine spätere Theorie der staatlichen „Daseinsvorsorge“ Form annahm.[5]

Als Theoretiker dieses jungkonservativen totalen Staates präsentierte sich Forsthoff im Wintersemester 1935/36 den Hamburger Studenten. Neben einem öffentlich-rechtlichen Seminar las er vierstündig „Verfassung“, zweistündig die in „Volk und Staat“ umgetaufte Vorlesung Allgemeine Staatslehre sowie eine dreistündige Vorlesung „Arbeiter“.

Es war wohl vor allem das geistige Umfeld und weniger die Universität, die Forsthoff in Hamburg interessierte, besonders der Kreis um die Hanseatische Verlagsanstalt und ihren Verleger Wilhelm Stapel. Zur „Hava“ gehörte die damals führende Kulturzeitschrift des völkisch-jungkonservativen Spektrums, das Deutsche Volkstum, zu dem Forsthoff seit 1930 enge Beziehungen pflegte und in dem er 1935 einen wichtigen Text über „Richter und Rechtsprechung“ veröffentlichte.[6] Darin skizzierte er eine Neubegründung der richterlichen Unabhängigkeit auch gegenüber dem „totalen“ Staat aus dem Prozess richterlicher Hermeneutik heraus und formulierte damit das Programm, das er 1940 in Recht und Sprache weiterführte. Der Herausgeber des Deutschen Volkstums, Albrecht Erich Günther war sicher der wichtigste Gesprächspartner Forsthoffs während seiner Hamburger Zeit. Nach der schnellen und dezidierten Parteinahme des Hauses für den Nationalsozialismus wechselten Carl Schmitt, Ernst Rudolf Huber und viele andere zu diesem Verlag, der dadurch in einem solchen Maße der Hausverlag des historisch-politischen Nationalsozialismus darstellte (?), dass das „Denken über den ‚totalen Staat‘ praktisch zu einer verlagsinternen Angelegenheit der Hava“ wurde.[7] Über die Hanseatische Verlagsanstalt ergab sich in Hamburg auch der Kontakt zu dem erst 24-jährigen Wilhelm Grewe, der bald Forsthoffs Assistent werden sollte, nach dem Krieg im Auswärtigen Amt die Hallstein-Doktrin formulierte und es zum deutschen Botschafter in Washington brachte.[8]

Forsthoffs schneller Fortgang aus Hamburg war darum nicht freiwillig. Bei einem Vortrag über „Richter und Gesetz“ vor dem Hamburger Rechtswahrerbund im September 1935 hatte er den Gauführer und Präsidenten des Hanseatischen Oberlandesgerichts, Curt Rothenberger, in einem Streit über die Frage der Rechtsverbindlichkeit des NSDAP-Parteiprogramms mit ironisch-hintersinnigen Bemerkungen gegen sich aufgebracht. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat diese Begebenheit später wie folgt wiedergegeben: „Forsthoff nahm hier zu der in Parteikreisen verbreiteten, auch vom Gauleiter wohl selbst vertretenen These Stellung, das Parteiprogramm müsse im NS-Staat Gesetzesrang erhalten. Er fragte, was dies denn letztlich bedeuten würde. Es würde bedeuten, so seine These, dass über die Interpretation des Parteiprogramms in letzter Instanz das Reichsgericht zu entscheiden hätte. Dies sei aber mit den Prinzipien des nationalsozialistischen Staates unvereinbar, nur der Führer könne verbindlich über die Interpretation des Parteiprogramms entscheiden.“[9] Rothenberger erzwang daraufhin Forsthoffs Versetzung nach Königsberg. Dort, im eher abseitigen Ostpreußen, begann er die Texte zu schreiben, die seine heutige Bedeutung ausmachen und mit denen er sich von der Theorie des totalen Staates losmachte, vor allem seine wichtigste Schrift über Die Verwaltung als Leistungsträger.


[1] Umfangreiche Nachweise finden sich bei Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft. Ernst Forsthoff und seine Zeit, 2011, 2. Kapitel.

[2] A. Goede, Adolf Rein und die „Idee der politischen Universität“, 2008, 80 f., 139; zu Forsthoffs Berufung nach Hamburg im einzelnen H. Weber, »Es ist nichts bekannt, was Respekt abverlangt«, in: uni hh v. April 1984, 6 f. Zu Adolf Rein vgl. auch Lennart Riebes Blog-Beitrag zur „Idee der politischen Universität“.

[3] C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, 79.

[4] E. Jünger, Die totale Mobilmachung, in: Krieg und Krieger, hrsg. v. E. Jünger, 1930, 9 ff.

[5] Das neue Gesicht der Verwaltung und die Verwaltungsrechtswissenschaft, Deutsches Recht 5 (1935), S. 333 ff.; Von den Aufgaben der Verwaltungsrechtswissenschaft, Deutsches Recht 5 (1935), S. 398 ff.

[6] Richter und Rechtsprechung, Deutsches Volkstum, Januar-Heft 1935, S. 20 ff.

[7] So S. Lokatis, Hanseatische Verlagsanstalt, 1992, 35.

[8] Zu Greves Dissertation „Gnade und Recht“ siehe demnächst an dieser Stelle den Eintrag von Markus Abraham.

[9] E.-W. Böckenförde, Zum Briefwechsel zwischen Ernst Forsthoff und Carl Schmitt, in: AöR 133 (2008), 265.

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