Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen an der Universität Hamburg. Er hat an der Universität Bern studiert, promoviert und habilitiert. Straubhaar war Direktor des Instituts für Integrationsforschung des Europa-Kolleg Hamburg und Direktor und Sprecher der Geschäftsführung des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). Er hat zu den Themenbereichen Migration, Volkswirtschaftslehre, Grundeinkommen veröffentlicht.
Kim Kristin Henningsen ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Politische Theorie an der Universität Hamburg. Sie bestritt einen trinationalen M.A. in European Studies: Law and Politics und promoviert mit einer Doktorarbeit zum Thema Legitimität des internationalen Migrationsrechts.
Im Morgendunst des 21. Jahrhunderts – veröffentlicht bei Mohr Siebeck im Jahr 2002 – schreibt Thomas Straubhaar über die Migration des beginnenden Jahrhunderts. In neun Kapiteln entwickelt er seine Argumentation, die – so der Anspruch – „den migrationspolitischen Diskurswechsel aus einer ökonomischen Sicht [zu] unterstützen“ sucht.
Der Autor diagnostiziert in seiner Monographie einen diskursiven Wandel, statt Problemen, so der Autor, rücken zunehmend positive Aspekte der Zuwanderung in die öffentliche Aufmerksamkeit. Der von der CDU-Opposition propagierten „Kinder statt Inder“-Parole habe Bundeskanzler Schröder symptomatisch den Vorschlag entgegengesetzt, ausländischen Informatikern über Green Card-Verfahren den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erleichtern (86f). In der bundesdeutschen Diskussion steige seitdem das Bewusstsein für die positiven Impulse, welche von ausländischen Arbeitskräften für die deutsche Volkswirtschaft ausgingen. Den migrationspolitischen Diskurswechsel nimmt Straubhaar zum Anlass und zum Gegenstand; sein Ziel ist eine ökonomische Analyse der Vor- und Nachteile der Migration (13). Seine Grundbotschaft ist dabei eindeutig: Die Migration dürfe nicht als Bedrohung, müsse vielmehr als Chance für die soziale Markwirtschaft verstanden werden; sie sei „Schmieröl des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels“ (13). Zwar werde der „Homo migrans“[1] sicher nicht alle Probleme, mit welchen die alternden europäischen Sozialstaaten konfrontiert seien, lösen, aber zumindest werde durch ihn die Problemlösung vereinfacht.
Straubhaar beginnt mit einer empirischen Beobachtung: Auch im Zeitalter der Globalisierung präferiere der Mensch das Leben „zuhause“ und bleibe lieber Inländer. Die mikroökonomisch attraktive Entscheidung für Immobilität und Sesshaftigkeit habe, makroökonomisch betrachtet, jedoch seinen volkswirtschaftlichen Preis. Schließlich korrigiere Migration Marktunvollkommenheiten, indem Einwanderung (relativen) Mangel hier und Auswanderung (relativen) Überschuss dort beseitige (52f). Migration diene als Anpassungsreaktion und ermögliche eine verbesserte Allokation der Arbeitskräfte (53). Wenn die einheimische Bevölkerung den „Luxus“ genießen wolle, sesshaft zu bleiben, „biete es sich an, Menschen von außen als Ersatz für die makroökonomisch erforderliche Mobilität sorgen zu lassen“ (54). Im Sinne Adam Smiths substituiere die Einwanderung die fehlende Bewegung der Inländer. Gleichzeitig lasse sich durch Einwanderung auch die Wachstumsspirale positiv beeinflussen: „Zuwanderung vergrößert den Pool an Arbeitskräften, erhöht so das verfügbare Humankapital, dadurch steigt die Kapitalrentabilität, und das wirtschaftliche Wachstum wird stimuliert.“ (56) Im Gegensatz zu den (neo-)klassischen Modellannahmen sei es jedoch durchaus möglich, dass Einwanderung wiederum mit mikroökonomischen Nachteilen einhergehe, indem Zuwandernde inländische Arbeitskräfte in die Erwerbslosigkeit drängen, nämlich dann, wenn diese im Arbeitsmarkt Aufgaben erfüllen, die substitutiv seien zu den Tätigkeiten der Immigranten. Straubhaar lässt diese Diagnose allerdings nicht als Problem der Zuwanderung gelten; nicht die Einwanderung der Ausländer verursache die Arbeitslosigkeit, sondern die fehlende Mobilität der Einheimischen. Gleichzeitig schlägt er eine Entschädigungszahlung der Gewinner an die Verlierer vor, um die Zuwanderungseffekte zu kompensieren.
Die konzentrierte Argumentation Straubhaars, die an vielen Stellen von analytischen Aufzählungen getragen wird und sich an migrationsökonomischen Theorieansätzen, vielfältigen Migrationsursachen und grundsätzlichen Migrationstrends abarbeitet, mündet in der Skizze einer Migrationspolitik, in welcher sich das Ziel manifestiert, die Migration als Stützpfeiler der bundesdeutschen sozialen Marktwirtschaft zu installieren (12). Deutschland müsse sich als Einwanderungsland verstehen und dafür eine zukunftsorientierte Zuwanderungspolitik gestalten, die über die Elemente Allokationseffizienz, Planungssicherheit, Ursachenorientierung und Bedarfsbezogenheit charakterisiert werde. Eine ökonomisch effiziente Migrationspolitik lasse sich analog zu einem Gebäude mit zwei Eingängen skizzieren – der Seitenpforte ‚Asyl- oder Flüchtlingspolitik‘ und dem Hauptportal ‚Arbeitsmigration‘ (91). Während die Seitenpforte aus humanitären Gründen geöffnet werde, schlägt Straubhaar für das Hauptportal folgenden Öffnungsmechanismus vor: Die staatliche Politik lege die „Höhe der temporären bzw. permanenten arbeitsmarktorientierten Zuwanderung“ (Quote) fest, die Marktwirtschaft entscheide „über die spezifischen, individuellen Charakteristika der Zuwanderung“ (Selektion) (92). Gleichzeitig solle eine Eintrittsgebühr für temporäre befristete Aufenthalte bzw. eine Einwanderungsgebühr für dauerhafte Einwanderung erhoben werden, die der Arbeitgeber bzw. der Zuwanderer zahlen müsse (93). Die Logik des Marktes ist für Straubhaar die zentrale Argumentationsfigur; Zuwanderungspolitik müsse strikt auf das „Gleichgewicht“ (91) bzw. die „Bedürfnisse“ (93) des deutschen Arbeitsmarktes ausgerichtet werden. Finanzmathematische Überlegungen dominieren seinen Vorschlag:
„Wer als Ausländer(in) in Deutschland arbeiten will, muss wissen, dass die Interessen des deutschen Arbeitsmarktes den Ausschlag geben. Eintrittsgebühren des Arbeitgebers bei befristeter (temporärer) Zuwanderung und Einwanderungsgebühren des Zuwanderers bei längerfristigem (permanentem) Aufenthalt sind die Messgrößen, die festlegen, ob ein Zuwanderer gebraucht wird oder nicht. Ein Punktesystem, das für die Berechnung von Abschlägen verwendet wird, honoriert Qualifikation und Integration.“ (92)
Straubhaar postuliert eine Politik der Migration, welche das Wohl der nationalen Volkswirtschaft bzw. das Optimum des binnenstaatlichen Arbeitsmarktes als letzten bzw. einzigen Entscheidungsgrund artikuliert. Preis, Leistung und „Punktesysteme“ determinieren die ‚marktwirtschaftliche Migration‘ – das Gleichgewicht des Arbeitsmarkts entscheide über Zuwanderung (91). Der Mensch wird dabei auf seine Arbeitskraft reduziert, die innenpolitische Perspektive, so könnte man kritisieren, verblendet die Auswirkungen auf globalgesellschaftliche Zusammenhänge. Fraglich ist, ob die Gesetze des Marktes in dem Politikfeld, von dem hier die Rede ist, letztlich überhaupt funktionieren. Soweit die eingangs gestellte Diagnose einer globalen Präferenz zur Sesshaftigkeit richtig ist, stellt sich die Frage, wie ein „Markt der Migration“ überhaupt entstehen kann (Anders gefragt: Wenn keiner Autos fahren wollte, wie würde ein Automobilmarkt entstehen?). Als Antwort bieten sich zwei – gleichermaßen problematische – Ansätze an. Nach Straubhaar könne der „Luxus der Sesshaftigkeit“ der deutschen Staatsbürger durch die Zuwanderung von außen kompensiert werden. In ökonomischen Begriffen gesprochen, ist die Präferenz der Anderen zur Sesshaftigkeit offenbar „weniger Wert“ als die Sesshaftigkeit der deutschen Staatsbürger. Der ‚Scheinmarkt‘ wird durch Verwertung globaler Ungleichheitsstrukturen geschaffen, welche er gleichsam reproduziert, indem er manche zum ‚Produkt des Migrationsmarktes‘ degradiert, andere im „Luxusland jenseits des Marktes“ belässt. Die zweite Lösung sähe die Institutionalisierung einer Anreizstruktur vor, die den Wert der Alternative des Umzugs ins Ausland maximiere. Während der erste Ansatz somit die Karte der Alternativlosigkeit ausspielt, schafft der zweite Ansatz eine vorzugsfähige Alternative. Indem jedoch auch der zweite Ansatz ausschließlich die Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarktes einbezieht, würde auch hier die Marktlogik zur Reproduktion globaler Ungerechtigkeit beitragen (Stichwort Brain Drain). Vor dem Hintergrund einer nachhaltigen globalen Normativität überzeugt der Straubhaarsche Ansatz nur bedingt.
Beinahe 20 Jahre sind seit der Veröffentlichung von Straubhaars Analyse vergangen; der Migrationsdiskurs hat sich seither mehrmals verlagert und perspektivisch gewandelt. Nichtsdestotrotz bleiben Straubhaars Ergebnisse relevant und das – trotz der vorangegangenen Kritik – insbesondere aufgrund seiner zwar klaren Ansage – „[e]ntgegen aller populären polit-ökonomischen und oft auch populistisch hochgespielten Befürchtungen dürfte im Europa des 21. Jahrhunderts nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Migration zur eigentlichen Herausforderung werden“, die auf einer stringenten Analyse der ökonomischen Realität basiert, gleichsam aber nicht in einer Überschätzung der positiven Effekte der Migration auf die sozialstaatliche Umverteilung mündet. Zwar sei die Zuwanderung makroökonomisch positiv zu beurteilen, jedoch könne sie nicht als grundsätzliche Problemlösung fungieren, die den „Verzicht auf überfällige Strukturen erlauben würde“ (116), maximal werde sie flankierend helfen, um die negativen Einflüsse der demographischen Alterung, des Geburtenrückgangs und eines vermeintlichen Fachkräftemangels auszugleichen. Das scheint eine – für die aktuelle Debatte – nicht zu unterschätzende Aussage, die Thomas Straubhaar selbst im Jahr 2019 wiederholt:
„Gäbe es einen Mangel an Fachkräften, müsste der sich gesamtwirtschaftlich von selbst beheben. Wenn bestimmte Dinge auf dem Markt rar sind, gehen die Preise nach oben, das ist ein Grundgesetz der Ökonomie. Aber bei den Fachkräften passiert das offenbar nicht: Die Löhne sind in vielen Fällen zu gering, die Arbeitsbedingungen nicht attraktiv genug. Es gibt gerade in der Metropole Hamburg genügend Fachkräfte, aber die Arbeitgeber tun zu wenig, um sie an sich zu binden.“[2]
Damit bleibt Straubhaars Analyse als Grundlage einer wirtschaftlichen Perspektive auf die Migration trotz der skizzierten Schwächen seines Ansatzes auch für den tagespolitischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs relevant und in vielerlei Hinsicht fruchtbar. Gleichsam erscheinen die globalen Implikationen seines Vorschlags argumentativ kaum durchdacht; knapp 20 Jahre nach Veröffentlichung der Monographie und angesichts zunehmender globaler Interdependenzen stößt die Straubhaar’sche Diskussion, die sich überwiegend im Modus nationalstaatlicher Überlegungen ereignet, an normativ-praktische Grenzen.
[1] Die Begrifflichkeit des „Homo migrans“ weise daraufhin, dass der Mensch seit Anbeginn seiner Existenz auf der Erde ein Wandernder sei: „Den ‚Homo migrans‘ gibt es, seit es den ‚Homo sapiens‘ gibt; denn Wanderungen gehören zur Conditio humana […]“ (9).
[2] Thomas Straubhaar. 2019. Hamburg leidet nicht am Fachkräfte-, sondern am Führungsmangel. Interview. Zeit Online, 27. Juni 2019 https://www.zeit.de/2019-06/thomas-straubhaar-fachkraeftemangel-hamburg-arbeitsmarkt