Helmut Schelsky (1912-1984) wurde 1948 auf einen Lehrstuhl für Soziologie an der neu gegründeten Akademie für Gemeinwirtschaft, der späteren Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik berufen. Zwischen 1953 und 1960 war er Professor für Soziologie an der Universität Hamburg. Er studierte Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Königsberg und Leipzig und war von 1937 an Mitglied der NSDAP. In den Nachkriegsjahren war Schelsky einer der prominentesten Soziologen in der deutschsprachigen akademischen Welt und zugleich als Politikberater und Universitätsreformer einflussreich.
Luise Heinz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Allgemeine Soziologie am Fachbereich Sozialwissenschaften. Sie studierte Soziologie in Dresden und erhielt 2015 den Preis des Absolventen- und Fördervereins des soziologischen Instituts für die beste Abschlussarbeit. Bevor sie nach Hamburg kam, arbeitete sie in den Medien- und Kommunikationswissenschaften an der Zeppelin Universität Friedrichshafen.
Helmut Schelsky war einer der prägenden Soziologen der unmittelbaren Nachkriegssoziologie. Dass auch und gerade die Hamburger Soziologie so wenig an ihn erinnert, ist umso bemerkenswerter, als er zu seiner Hamburger Zeit nicht nur präsent, sondern gewissermaßen omnipräsent war: Spiegel, Zeit, FAZ, Radio, Fernsehen, Beiräte, Ministerien – kaum ein Gebiet, auf dem er nicht mitgemischt hätte. Auch ist es zentral auf Schelskys Bemühungen zurückzuführen, dass „in den fünfziger Jahren Studienpläne und Prüfungsordnungen für das in Deutschland bis dato eher mißachtete Fach erlassen [wurden]“[i] – Soziologie als Hauptfach also überhaupt studierbar wurde.
Dass sein Schaffen wenig posthume Würdigung erfährt, wird gemeinhin mit dem Hinweis auf die eher zeitdiagnostisch angelegten Studien Schelskys begründet, denn an erster Stelle war Schelsky Kommentator seiner Gegenwart mit „sensiblem Gespür für aktuelle Zeitprobleme und Sinn für populäre Reiz- und Schlagworte“[ii]. Was hier noch im Gedächtnis kleben bleibt, ist ein soziologisches Begiffsinventar, das verdächtig nach alter Bundesrepublik klingt: der Sachzwang, die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, die skeptische Generation.
Die mangelnde Rezeption allein hier zu verorten, ist jedoch kurzsichtig. Schelsky hat sich keineswegs mit dem bloßen Kommentieren der Gegenwart begnügt, sondern ging durchaus Wege, die nicht nur das Feld der jungen Soziologie umspannen, sondern weit in die Gesetzgebung der jungen BRD hineinreichen. Schelsky war ein brillanter Netzwerker, der es verstand, die Personen und Situationen in seiner Umgebung für sich zu nutzen. Dass sich ein solches Engagement auch zu Ungunsten des Engagierten auswirken kann, kann als der triftigere Grund für den Bedeutungsverlust dieser so zentralen Figur angesehen werden. Dass Schelsky seine wissenschaftlichen Inhalte stets in politische Formen zu gießen gewusst hat und auch die politische Form allzu oft in sein wissenschaftliches Denken eingeschrieben ist, will ich folgend an einer seiner bekanntesten Publikationen der Hamburger Zeit demonstrieren.
Die Entstehung der ‚Soziologie der Sexualität‘ (1955)[iii] lässt sich mit einiger Sicherheit als Reaktion auf die – auch in Deutschland begeistert rezipierten – Studien ‚Sexual Behavior in the Human Male‘ (1948)[iv] und ‚Sexual Behavior in the Human Female‘ (1953)[v] Alfred Kinseys zurückführen. Der immense Eindruck, den diese Studien hinterließen, die vielleicht als erste versuchten, das Spektrum menschlicher sexueller Aktivität statistisch abzubilden, muss für den konservativen Schelsky gleich in zweierlei Hinsicht ein Affront erster Güte gewesen sein, was sich denn auch recht ungeschminkt in seiner Replik zeigt: Zum einen handelt es sich bei seinen Ausführungen um legitime Bedenken wissenschaftstheoretischer Couleur, denn Schelsky pflegte ein enges Verständnis von Soziologie zu verteidigen. Zum anderen stören die kinseyschen Einsichten die manifeste Homophobie Schelskys, die er jedoch nur dürftig im Rahmen einer solch strengen Soziologie zu plausibilisieren versteht. Ich will diese beiden Punkte kurz umreißen, bevor ich auf die politischen Folgen seines Entwurfs zu sprechen komme.
Wahrscheinlich ist es nicht zu geringen Anteilen Alfred Kinsey gewesen, dem die Soziologie ihren hartnäckigen Ruf verdankt, eine Ausbildungsstätte für Fleisch gewordene Zählmaschinen zu sein: Wie viel? Wann? Wie oft? Zahlen, Zahlen, Zahlen – der Soziologe als nerviger Paparazzo des Durchschnittsbürgers. Genau genommen trifft dieses Vorurteil auf die populär gewordenen ‚Kinsey-Reporte‘ exakt zu: Kinsey zählt die Häufigkeiten des Auftretens von Kategorisierungen, die er selbst erzeugt hat. Das mag interessant sein, da er ausschließlich und ausgiebig die Varianten und Tücken des Sex behandelt, ist jedoch im engeren Sinne (noch) keine Wissenschaft, da er dabei auf Hypothesenbildung weitgehend verzichtet. Oder, um das Problem deutlicher zu zeichnen: Wenn ein Biologe an einem Bach fünf grüne Frösche findet und am anderen Bach dreißig graue, dann ist damit solange nichts ausgesagt, wie die Zählung nicht auf die theoretisch begründete Annahme folgt, dass eine Relation zu einer unabhängigen Variable (Algenbildung, Fressfeinde, Klimawandel) vorliegt. Auch Kinsey (seines Zeichens übrigens Zoologe) verzichtet weitgehend auf eine solch fundierte Theorie- oder zumindest Thesenbildung. Vielmehr bildet er schlicht das Erfragte ab. So zeigen sich dann Einblicke wie der, dass Frauen mit hohen Schulabschlüssen im Schnitt häufiger masturbieren bzw. Frauen, die häufiger masturbieren, höhere Schulabschlüsse haben – was auch immer das nun für die Leserin bedeuten mag[vi].
Nun stört sich Schelsky weniger an der Idiotie der kinseyschen Zählübungen als an den tatsächlich möglichen sozialen Effekten einer solchen auch heute noch verbreiteten Darstellungsform: Wenn z.B. 60 % der hochgebildeten Frauen binnen vier Minuten masturbierend zum Orgasmus kommen und ich nicht, was mag das bedeuten? Sollte ich mich mehr bilden oder mehr masturbieren?
Aus der Darstellung dieser Zahlen ergibt sich, wie man leicht sieht, keine Antwort, aber ein Normalitätsanspruch, der alles andere als neutral ist. Die Normalisierung verschiedenster Praktiken durch eine Darstellungsform der Kurven und Durchschnitte zeitigt ganz eigene Zugzwänge. Jürgen Link hat diesen Effekt deutlich später einmal als ‚flexiblen Normalismus‘ bezeichnet[vii], was meint: Das, was als je geltende Norm floriert, wird heute sehr oft durch die Statistik angeleitet und nicht durch die Idee vom normativ ‚Wünschenswerten‘ oder Tradierten bestimmt. Damit suggerieren Zahlenreihen das Vorliegen und den Zugriff auf eine Realität, die sie jedoch erst selbst er- und bezeugen. Man kennt die Kraft des Normalen auch aus anderen Feldern, sie ist ein Effekt der modernen (Nassehi würde sagen ‚digitalen‘) Vermessung der Welt und des Selbst:
‚Mit sechs Wochen kann das durchschnittliche Baby den Kopf selbst heben‘
‚In Hamburg liegt das Durchschnittseinkommen bei 39.054 Euro‘
‚Leute in deinem Alter (31 ½) haben 1 ½ Kinder, eine halbe Katze, ein Haus und eine Festanstellung‘,
sind entsprechend Sätze, die bei jenen, welche dieser (vermeintlichen) Norm nicht entsprechen, durchaus zu Nervosität führen können. Das tut der Gedanke von Blindheit oder Verdammnis durch häufige Masturbation aber auch. Entsprechend sind derlei Aussagen im Vergleich zu einer normativitäts-getriebenen Zielsetzung erst einmal weder besser noch schlechter – soziale Orientierung gibt es hier wie da. Man sollte, und darauf will Schelsky hinaus, nur nicht auf den so verbreiteten wie naiven Gedanken verfallen, dort blind eine Befreiung von Zwängen anzunehmen, wo Befreiung (sexueller, religiöser, politischer Natur) draufsteht. Denn zweifelsohne sind in den normativ-moralischen Anspruch ‚Bis zur Ehe bleibt man Jungfrau‘ Zwänge und Ängste eingeschrieben, die sich angesichts der statistischen Häufigkeit von vorehelichem Verkehr zumindest relativieren. Doch führt, folgt man Schelsky, die statistische Aufarbeitung des tabuisierten Sexualverhaltens zu ganz neuen Zwängen, da Handlungen bekannt und normalisiert werden, die zuvor wahrscheinlich oft unbekannt waren, jetzt aber mit dem Nimbus des völlig Üblichen und Verbindlichen daherkommen. Schelsky spricht in diesem Zusammenhang beispielsweise. vom Phänomen des ‚Orgasmuszwanges‘, was in etwa unserem ersten Beispiel entspricht: Wenn ich nicht wie 60% der anderen Masturbierenden mit Abitur binnen vier Minuten zum Orgasmus komme, dann müssen ich, oder das Abitur, ja abnorm, d.h. falsch sein.
Nun mangelt es dieser These kaum an Plausibilität, immerhin schließt sich an diese Zeit der sexuellen Erstvermessung auch die Geburtsstunde des ‚Dr. Sommer‘ an[viii], der eben genau dieses Problem pädagogisch betreute: Es gilt rigide Ansprüche an die eigene Normalität zu relativieren und die Praktiken der anderen zu erklären, ohne sie dabei zum Zwang zu erheben. Alles kann, nichts muss und deine Anomalität ist normal. Aber – wie bei Schelsky üblich – versteckt sich hinter der vermeintlich milden Theorie scharfes politisches Kalkül. Was Schelsky neben dem Mangel an soziologischer Konsistenz nämlich vor allem zusetzte, war ein spezifischer Aspekt der kinseyschen Normalisierungsstrategie: Die Naturalisierung homosexueller Praktiken.
Von Kinsey nämlich stammt, neben allerlei Hinweisen zur Selbstbefriedigung (sehr lehrreich ab S. 158!), auch die Beobachtung, dass sehr viele Personen homosexuelle Erfahrungen haben und sehr viele dieser Personen sich selbst nicht als homosexuell einordnen. Ein solcher für diese Zeit doch sehr überraschender Befund veranlasste Kinsey dann doch zu einer rudimentären Hypothesenbildung: Der Kinsey-Skala. Nach Kinsey kann man jeden Menschen auf einer fließenden Linie zwischen Homo- und Heterosexualität verorten, und dies ganz ohne dabei Pathologien ausmachen zu müssen. Oder anders: Es ist völlig normal, auch mal oder sogar ausschließlich mit dem eigenen biologischen Geschlecht zu poussieren.
Nun ist das Schelsky dann doch genug liederliche Provokation, um sein Gegenkonzept, seinen ‚Anti-Kinsey‘ vollständig zu entfalten[ix]. Interessanter (und verwirrender) Weise skizziert Schelsky hierzu aus der Tradition der philosophischen Anthropologie heraus einen radikal geschlechtskonstruktivistischen Ansatz, mit dem er wiederum eine konservative Institutionentheorie zu stützen gedenkt. Das ist durchaus bemerkenswert, da er den disziplinären Leitsatz ‚Der Mensch ist ein natürliches Kulturwesen‘ wohl unter dem Eindruck seiner Margret-Mead-Lektüre dahingehend verabsolutiert, dass auch aus der bloßen Geschlechtlichkeit des Menschen nichts (!) abzuleiten ist, was nicht in den Bereich der kulturellen Überformung fällt. Damit geht er über seinen Mentor Arnold Gehlen weit hinaus, der sich von wesensmäßigen Unterschieden der Geschlechter eben nicht verabschieden mag. Oder anders: Dem Umstand, dass man nun einen Penis hat oder potentiell gebären könnte, wohnt selbst nichts Wesenhaftes inne, es lassen sich – so Schelsky – empirisch sehr verschiedene kulturelle Anschlusserzählungen finden. Es gibt also kein ’natürliches‘ Geschlechtsverhalten, wenn man vom Menschen redet. Dass sich das Geschlechterverhältnis nun konkret so ausformt wie in der BRD der 1950er, ist also mehr oder minder kontingent. Nun könnte man durchaus vermuten, dass sich an diese Feststellung eine entsprechend progressive Schlussfolgerung anschließt – aber weit gefehlt. Dass es keine wie auch immer geartete ‚natürliche‘ Sexualität gibt, heißt ja noch lang nicht, dass alle möglichen und gegebenenfalls praktizierten Formen auch wünschenswert sind. Indem bei Kinsey durch statistische Aufbereitung auch ‚abweichender‘ Sexualpraktiken eine ‚Natürlichkeit‘ suggeriert wird, verschwimmt – wie wir gesehen haben – der Unterschied von Normalität und Normativität. Das birgt die Gefahr, dass die institutionalisierten Formen des Zusammenlebens und Zusammenschlafens derart erschüttert werden, dass nicht nur Zwänge, sondern Verwirrungen und lähmende Handlungsunsicherheiten das soziale Sicherungsgerüst (man kann hier mit Schelsky auch durchaus von Zivilisation sprechen) zersetzen. Da die Durchsetzung bestimmter Formen natürlich kontingent ist, aber dennoch eine wichtige Funktion erfüllt, die man gemeinhin mit Entlastung und Handlungssicherheit angeben kann, ist die Irritation dieser wertorientierten Sexualmoral für Schelsky mindestens gefährlich.
Nun sind diese Darstellungen bis hier – meiner Ansicht nach – feinste konservative Polemik, aber doch noch immer theoriehistorisch interessant. Indiskutabel wird es jedoch, wenn Schelsky diesen Zweifel an der Zivilisationsfähigkeit sexueller Spielarten bruchlos auf die Homosexualität überträgt. So sieht er hier davon ab, seine eigene Argumentation aufzugreifen, die letztlich die Überformung des Antriebstrieblebens in allen Facetten und ohne festgelegtes Objekt plausibilisiert. Immerhin ein Vorgehen, welches durchaus auch in konservativer Absicht möglich wäre, da auch derart nicht vorausgesetzt ist, dass man politische Entscheidungen hinsichtlich einer institutionellen Freistellung im Rahmen der westlichen Moderne begrüßt. Stattdessen jedoch versucht Schelsky den homophoben Salto Mortale durch die Radikalisierung und Ontologisierung der Binarität: Wenngleich er – seiner Argumentation nach zwingend – die konkrete Ausprägung der Geschlechtlichkeit als kontingent versteht, stellt er die binäre Geschlechtlichkeit des Menschen keineswegs zur Disposition.[x] Eine gut verdeckte Inkonsequenz, da Schelsky dem ’natürlichen Kulturwesen‘ dann eben doch noch eine biologisch bedeutsame Residualkategorie unterschiebt: Mann und Frau können sein, wie es sich in der jeweiligen Gesellschaft eben gerade institutionell stabilisieren lässt, aber Mann und Frau werden sie bleiben und sind als solche zwingend aufeinander bezogen: Eine nicht mal konservative, sondern nur fadenscheinige Baumarkt-Romantik des Yin und Yang scheint für Schelsky hier unverzichtbar. Ironischerweise wäre die wirklich konservative Konsequenz seiner Argumentation, die ‚das direkte Ausspielen der Subjektivität‘ (63) mit dem ‚Verfall persönlicher und sozialer Seinsmöglichkeiten‘ (62) assoziiert, nämlich die Ehe für Alle. In der Institution der Ehe ließen sich umstandslos all die triebursprünglichen Verhaltensweisen der ‚polymorph Perversen‘ und ‚Abnormen‘ kanalisieren, entindividualisieren und stabilisieren. Aber: Zweimal Yang – und hier kommen die Argumente gehörig ins Schleudern – geht eben einfach nicht. Da sich selbst bei Beibehaltung einer strengen Binarität nur mit viel Mühe aus seiner soziologisierten Anthropologie heraus herleiten lässt, warum der Homosexuelle eine solch monströse Figur sein soll, dass selbst die Institution nicht weiterhilft, entlehnt Schelsky (was er anderen Soziologen übrigens nicht allzu selten vorwirft) trieb-psychologische Spekulationen aus dem Baukasten seines engen Freundes Hans Bürger-Prinz[xi] und eines gewissen Peter R. Hofstätter.[xii]
Wenngleich das spezifisch menschlich-kultürliche Moment der Sexualität im Allgemeinen nämlich ist, dass sie vom ‚Gattungszweck‘ ablösbar auftritt – sich also Lustgefühle als eigenes Verhaltensziel verselbstständigen (11 & 13) -, ist diese ’soziale Sinnlosigkeit‘ und ‚biologische Zwecklosigkeit‘ ohne ‚Artfortpflanzung‘ hingegen beim Homosexuellen ‚immer Einschränkung und Verarmung‘ (73). Diese Verarmung trifft wohl auf alle Anomalien zu (so auch Exhibitionismus, Masturbation und Prüderie), doch Schelsky lässt uns wissen, dass die ’sozialen Strukturen sexueller Perversionen‘ (75) in der Figur des Homosexuellen kulminieren, denn:
Die homosexuelle Geschlechtsbeziehung entspricht in ihrer Verfehlung des gegengeschlechtlichen Partnerbezuges, ihrem autistischen und narzißtischen Verharren beim eigengeschlechtlichen Leibe und ihrer biologischen und sozialen Zwecklosigkeit wohl am offenbarsten unserer Kennzeichnung abnormen Sexualverhaltens.
Gründe für dieses ‚Verhalten‘ sieht Schelsky, das sei noch kurz erwähnt, u.a. darin, „daß die Frau selbst auf der einen Seite als Mitbewerber und Gleichberechtigte im beruflichen Dasein auftritt, auf der anderen Seite aber als Herrscherin der Konsum-Ansprüche hohe Anforderungen an die Lebenstüchtigkeit und Durchsetzungskraft des Mannes stellt.“ (83) Der Mann bekommt dann Angst vor der Mann-Rolle und wird schwul. Ahja.
Nun könnte man diesen kruden psycho-biologistischen ‚Theorie‘-Sondermüll getrost ignorieren, wenn nicht Schelskys Positionen zur Homosexualität unmittelbaren Einfluss auf politische Entscheidungen gehabt hätten. So war Schelsky nicht nur Mitglied im Beirat des Bundesfamilienministeriums, sondern auch 1957 als Gutachter an der Neubewertung des Paragraphen 175 beteiligt. Der §175 StGB war die zentrale Strafvorschrift für die Verfolgung und Bestrafung Homosexueller. Zusammen mit den §§175a und 182 bildete er im Nachkriegsdeutschland die Grundlage für die Verurteilung von schätzungsweise 50.000 Männern.
Der Paragraph stellte ausschließlich männliche homosexuelle Handlungen unter Strafe, weshalb zwei von dieser Gesetzgebung betroffene Männer Verfassungsbeschwerde einreichten. Das Grundanliegen war die Entkriminalisierung männlicher homosexueller Handlungen auf Basis des Gleichbehandlungsgrundsatzes von Mann und Frau[xiii]. Die Argumentation der Verfassungsrichter setzt die generelle Zulässigkeit der der fortgesetzten Kriminalisierung als solche voraus und argumentierte ausschließlich auf Basis der Ungleichbehandlung der Frau. Kernstück dieser Argumentation sind Gutachten, die im Rahmen einer mündlichen Verhandlung durch Sachverständige verschiedener Disziplinen (Medizin, Kriminologie, Psychiatrie) eingeholt wurden. Für die Soziologie sprach Helmut Schelsky.
Die gesammelten Gutachten, die das Urteil detailliert zitiert, sind eine schwer verdauliche Aneinanderreihung sexistischer und homophober Einlassungen. So wird durch den Kriminologen Grassberger zur Verteidigung der weiblichen Straffreiheit unter anderem festgestellt, dass „sich die Frau der Verführung zur gleichgeschlechtlichen Unzucht erst dann zugänglich [zeigt], wenn sie in ihrem Eheleben Schiffbruch erlitten habe.“[xiv] Und der Hamburger Sexualforscher Giese fügt mit Blick auf die sozial gefährliche ‚Luststeuerung‘ des Mannes hinzu, „die weibliche Sexualität sei stärker dem Bereich des Triebhaft-Affektiven verhaftet“, d.h. durch die ‚generativ-vegetativen‘ Leistungen der folgenden Mutterschaft hinreichend befriedet[xv]. Entsprechend ist auch Schelsky der Meinung, dass es für eine Kriminalisierung weiblicher homosexueller Handlungen noch nicht (!) an der Zeit ist, da die Frau in den heimischen Gefilden keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt: „Die gesellschaftliche Stellung der Frau in der Öffentlichkeit und im beruflichen Leben habe sich aber geändert. Bei den in der Öffentlichkeit und im Beruf tätigen Frauen könne die weibliche Homosexualität gleiche Gefahren entstehen lassen wie die männliche Homosexualität.“ Solang jedoch die Frauen nicht in größerer Zahl in der Öffentlichkeit auftauchen, „seien die Motive des Gesetzgebers zugunsten der Straflosigkeit weiblicher Homosexualität immer noch berechtigt. Von der lesbischen Neigung solcher Frauen gehe eine geringere soziale Gefährdung aus als von gleichgeschlechtlichen Neigungen von Männern.“[xvi]
Auch aufgrund dieser Gutachten hatte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, und man muss vielleicht fast von Glück sprechen, dass der radikale Sexismus der Zeitgenossen dazu geführt hat, dass die Strafbarkeit nicht auf Frauen ausgedehnt wurde. Während die von den Nazis verurteilten Männer im Jahre 2002 durch den Deutschen Bundestag rehabilitiert wurden, verweigerte der Bundestag noch bis 2017 die Rehabilitierung (und gegebenenfalls eine Entschädigungszahlung) für die nach 1945 von diesem Urteil Betroffenen.
Bedauerlicherweise war Schelskys gutachterliche Tätigkeit hier nicht am Ende, sondern nahm genau genommen erst ihren Anfang. Schelsky war Gutachter für Ministerien, Sprecher auf Parteiveranstaltungen (von CSU bis SPD) und öffentlicher Kommentator des politischen Geschehens. Das vielleicht krasseste Beispiel seines Einflusses ist die theoretische Stimmungsmache für den ‚Radikalenerlass‘ (1972), der dazu führte, dass etwa 11.000 Berufsverbotsverfahren gegen vermeintlich radikale Linke im öffentlichen Dienst eingeleitet wurden[xvii]. Dies fällt jedoch nicht mehr in die Hamburger Zeit: Der hiesigen Universität kehrte er bereits 1960 den Rücken.
[i] Spiegel, 19.11.1973/ Nachweise auch im Landesarchiv, Personalakten insb. Reiseanträge
[ii] Spiegel, 05.03.1984 (Nachruf)
[iii] Schelsky, Helmut (1955): Soziologie der Sexualität. Über d. Beziehungen zwischen Geschlecht, Moral u. Gesellschaft. Hamburg: Rowohlt (rowohlts deutsche enzyklopädie, Nr. 2).
[iv] Kinsey, Alfred C.; Pomeroy, Wardell B.; Martin, Clyde E. (1948): Sexual behavior in the human male. Philadelphia: Saunders.
[v] Kinsey, Alfred C.; Martin, Clyde E.; Pomeroy, Wardell B.; Gebhard, Paul H. (1953): Sexual behavior in the human female. Philadelphia: Saunders.
[vi] Ebd: 148f.
[vii] Siehe hierzu die Ausführungen von Wöhrle, Patrick (2015) Zur Aktualität von Helmut Schelsky. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer VS.
[viii] Genaugenommen übernahm Dr. Martin Goldstein unter dem Pseudonym Dr. Sommer im Jahr 1969 die Beratungsrubrik ‚Was dich bewegt‘ in der Bravo.
[ix] Man sollte an dieser Stelle nicht dem Irrglauben unterliegen, Schelsky stelle das Vorkommen homosexueller Handlungen, wie sie Kinsey beschreibt, in Abrede. Schelskys erkennt die Zahlen Kinseys durchaus an. Wie Schelsky auch 25 Jahre später in einem Brief an Volkmar Sigusch eindringlich wiederholt dreht sich sein Denken diesbezüglich um zwei Prämissen:
„a) Der Mensch ist anthropologisch auf die moralische und institutionelle (rechtliche Steuerung) seiner Sexualität angewiesen.
b) Tatsächliches Sexualverhalten und Sexualmoral einer Gesellschaft – und alle Gesellschaften haben eine irgendwie geartete Sexualmoral – decken sich selbstverständlich nicht, heben aber die sexualmoralische Forderung nicht auf.“
Der vollständige, sehr ausschlussreiche Brief ist abgedruckt in Sigusch, Volkmar (2011).: Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit: Über Sexualforschung und Politik. Frankfurt / New York: Campus
[x] Diesen Hinweis verdanke ich Urs Stäheli.
[xi] Der Psychiater Bürger-Prinz, das sei hier kurz angemerkt, war sowohl zu NS-Zeiten als auch ab 1947 wieder Leiter der Psychiatrie am Universitätsklinikum Eppendorf: „Als Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Hanseatischen Universität war er mitverantwortlich“ für die Tötung und Sterilisation von Patienten im Rahmen des Euthanasieprogramms. Natürlich war er auch NSDAP-Mitglied und noch 1936 Unidozent, Mitglied der „Reichsstelle für deutsches Schrifttum“ und Beisitzer im Erbgesundheitsgericht Leipzig. Aus dieser Zeit stammt die sehr enge Freundschaft zu Arnold Gehlen und auch zu dessen Schüler Helmut Schelsky.
[xii] Der Psychologe Hofstätter, auch das erscheint mir universitätshistorisch erwähnenswert, war ab 1959 Inhaber des Lehrstuhls Psychologie I an der Universität Hamburg. Hofstätter, der bei Arnold Gehlen promovierte, trat u.a. mit Publikationen in Erscheinung, die eine angeborene mindere Intelligenz dunkelhäutiger Personen behaupteten. Zudem vertrat er öffentlich die Ansicht, dass es sich bei der Ermordung der Juden im 2. Weltkrieg juristisch gar nicht um Mord handeln könne, da man ihnen, den Juden, ja quasi den Krieg erklärt hätte. Er trat für eine Generalamnestie aller NS-Verbrecher ein. Vgl. Hans-Peter de Lorent in einem sehr aufschlussreichen Bericht der Landeszentrale für politische Bildung [Täterprofile Bd. 2]. Abrufbar unter: https://www.hamburg.de/clp/dabeigewesene-suche/clp1/ns-dabeigewesene/onepage.php?BIOID=1012&cM=54
[xiii] Die Beschwerdeführer argumentierten zudem, das Gesetz sei als solches nichtig, da es auf Grundlage der sog. ‚Ermächtigungsgesetze‘ 1933 durch die Nationalsozialisten in Kraft erlassen wurde. Zudem wird angeführt, dass das Gesetz das in Art. 2 Abs. 1 GG jedem gewährleistete Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit einschränke. Diese Einwände sind Gegenstand des Urteils, nicht jedoch Gegenstand der eingebrachten Gutachten. Den Sachverständigen wurden folgende Fragen zur Beurteilung vorgelegt:
a) Bestehen im Triebleben beim Mann und bei der Frau wesentliche Unterschiede, die sich auch bei gleichgeschlechtlicher Betätigung auswirken?
b) In welcher Richtung stellen männliche Homosexualität einerseits und lesbische Liebe andererseits eine soziale Gefährdung dar? Sind ihre Auswirkungen und Erscheinungsformen in Familie und Gesellschaft verschieden?
Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang der große Frauenüberschuß und die Häufigkeit der gemeinsamen Haushaltführung zweier oder mehrerer Frauen (Gefahr bösartigen Klatsches und der Erpressung)?
c) Besteht ein Unterschied in der Aktivität und Hemmungslosigkeit bei gleichgeschlechtlichen Handlungen zwischen Männern einerseits und zwischen Frauen andererseits, so daß damit der Grad der Verbreitung solcher Handlungen und die Gefahr zur Verführung insbesondere Jugendlicher hierzu verschieden ist?
Tritt die männliche Homosexualität im Gegensatz zur lesbischen Liebe stärker in der Öffentlichkeit in Erscheinung? Gibt es eine Prostitution der männlichen Homosexuellen und der Lesbierinnen? (BVerfG, Urt. v. 10.05.1957, Az. 1 BvR 550/52)
[xiv] BVerfG, Urt. v. 10.05.1957, Az. 1 BvR 550/52
[xv] Ebd.
[xvi] Ebd.
[xvii] Der einflussreiche Aufsatz Schelskys „Die Strategie der ‚Systemüberwindung‘“ erschien zuerst in der FAZ und machte von dort aus eine bemerkenswerte Karriere: Der damalige Verteidigungsminister Helmut Schmidt ließ ihn in Informationen für die Truppe abdrucken, Hans-Dietrich Genscher nahm in den Bericht seines Ministeriums auf (damals noch Verfassungsschutz), Erhard Eppler echauffierte sich lautstark im Spiegel über Schelskys ungebührenden Einfluss (in der CDU, so sei ihm gesagt worden, sind alle ‚von Schelsky besoffen‘: Der Spiegel 15.10.1973) und auch der Bundestag diskutiert durchaus kontrovers über den Beitrag (21. Juni 1972, 194. Sitzung). Blaupause des sog- Radikalenerlasses, der letztlich von Willy Brandt (!) unterzeichnet ist, war ein entsprechender Erlass der bereits 1971 vom SPD regierten Hamburger Senat verabschiedet wurde. Weitere Ausführungen zu Schelskys Rolle bei Rigoll, Dominik (2013): Staatsschutz in Westdeutschland: Von der Entnazifizierung zur Extremistenabwehr. Göttingen: Wallstein Verlag. 304ff. und im sehr aufschlussreichen Artikel von Wehrs, Nikolai (2013): Auf der Suche nach einem ‚Pronunciamento‘. Helmut Schelsky im Hegemonialkampf der ‚Reflexionseliten‘ in den 1970er Jahren. In: Alexander Gallus (Hrsg.): Helmut Schelsky – der politische Anti-Soziologe. Göttingen: Wallstein Verlag.