Jürgen Habermas: Eine persönliche Bemerkung zur Rezeption der Schriften von Siegfried Landshut

Mit Siegfried Landshut beginnt 1951 die Geschichte der Politikwissenschaft in Hamburg. Durch seine Ausgabe von Marx‘ Frühschriften hatte er seit 1932 die Entstehung eines ‚westlichen Marxismus‘ beeinflusst. Die philosophischen Vorentscheidungen seines frühen Hauptwerks, der Kritik der Soziologie (Berlin 1929), hat Landshut auch in der Neugründung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg beibehalten.

Jürgen Habermas (*1929) ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt. Im November 2019 erscheint sein neues Buch Auch eine Geschichte der Philosophie (Berlin, 2 Bde.). Zu seinen Arbeiten gehören Rekonstruktionen des philosophischen und politischen Denkens deutsch-jüdischer Emigranten, etwa in den Philosophisch-Politischen Profilen (1971, erweitert 1987), oder in „Jüdische Philosophen und Soziologen als Rückkehrer in der frühen Bundesrepublik. Eine Erinnerung“ in Im Sog der Technokratie (2013).


Die Lektüre der sehr detaillierten und sorgfältigen Biographie von Rainer Nicolaysen über Siegfried Landshut,[1] zwei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen, weckt nicht nur den Schmerz über ein weiteres, besonders bedrückendes Emigrantenschicksal, sondern auch ein ambivalentes Erstaunen über den blinden Fleck meiner selektiven Wahrnehmung eines solchen Autors. Ich muss nämlich gestehen, dass ich seit der Zeit meines Studiums mit dessen Namen vertraut bin, aber mit dem Namen keine klare Vorstellung über eine auch noch in der Nachkriegszeit in persona vertretene theoretische Position verbunden habe.

Ich hatte mir schon als Schüler aus der örtlichen kommunistischen Buchhandlung die kleinen, von Ostberlin verbreiteten Schriften von Marx und Engels besorgt, weil ich mich für den Marxismus im Zusammenhang mit den Geschichtsphilosophien von Kant und Herder interessierte. Ich war also vorbereitet, als mir die 1953 bei Kröner erscheinenden, von Landshut herausgegebenen und eingeleiteten Frühschriften von Marx in die Hände fielen. In der Einleitung erfuhr man allerdings nichts von der ursprünglich 1932 zusammen mit J.P. Meyer besorgten Ausgabe oder überhaupt von der verwickelten Publikationsgeschichte dieser Manuskripte. Die Ahnungslosigkeit der Leser ist wahrscheinlich der Wirkungsgeschichte, die diese Edition in der frühen Bundesrepublik haben sollte, sogar entgegengekommen. Ich war ja bei weitem nicht der einzige mit einem philosophischen und im weiteren Sinne geisteswissenschaftlichen Studienhintergrund, der damals vom jungen Marx fasziniert war. Wie ich später erfuhr, hatten meine Generationsgenossen Heinrich Popitz und Ralf Dahrendorf aus einem ähnlichen Interesse schon ihre Doktorarbeiten über Marx geschrieben. Die Lesart, in der Landshut seinen Marx präsentierte, erschien mir, vielleicht abgesehen von der verzerrenden Akzentuierung des frühen gegen den späteren Marx,[2] als ziemlich unauffällig. Sie passte zu meinem Vorverständnis, sodass ich das Spezifische daran nicht bemerkt habe. Marx im Lichte seiner Auseinandersetzung mit Hegel und dem Erbe des deutschen Idealismus zu lesen, war für den westlichen Marxismus im allgemeinen konstitutiv; der hatte damals nicht nur in den Arbeiten des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Spuren hinterlassen, sondern wurde auch in Frankreich von bedeutenden Autoren wie Kojève, Lefèbvre und Goldmann vertreten. Und die Verbindung vom Marx mit Max Weber, die Landshut betonte, hatte schon Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein hergestellt. Aber zweifellos hat die leichte Zugänglichkeit, die die Landshutsche Ausgabe diesen Texten verschaffte, die breite Resonanz einer bestimmten Lesart von Marx und Engels gefördert. Denn diese stützte eine gut begründete Alternative zu der inzwischen verfestigten Dogmatik des Sowjetmarxismus – ohne diese Texte wäre der Erfolg der bis in die Schulcurricula hinein wirksamen Schriften von Iring Fetscher kaum möglich gewesen. Fetscher und andere haben in den 50er und frühen 60er Jahren dem Diamat dadurch die Grundlage entziehen können, dass sie die Unterschiede zwischen den genuinen, dem vorwiegend historisch denkenden Marx zugeschriebenen Motiven einerseits und der Metaphysik der Engels’schen Naturdialektik andererseits herausarbeiteten. Dieses Thema hat beispielweise auch die Marxismusstudien der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg beschäftigt, an deren Diskussionen sowohl Landshut wie Fetscher teilgenommen haben.

In der Weimarer Republik hatte Siegfried Landshut mit der Kritik der Soziologie seine wissenschaftliche Reputation begründet. Als diese Studie 1969 unverändert in der 1929 publizierten Fassung wieder aufgelegt wurde, war der Autor soeben gestorben.[3] Aber kein Vorwort und keine Einleitung erinnerten an die tragische Geschichte seiner 1928 an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg gescheiterten Habilitation, die mit diesem Buch seinerzeit verbunden gewesen war. Ebenso wenig erfuhr man über die aufschlussreiche Tatsache, dass der damals 31-jährige Landshut mit dieser Schrift eine venia für „das Fach Politik“ erwerben wollte – für ein Fach, das es im deutschen Universitätssystem gar nicht gab. Wenn Landshut eine Pionierleistung vorzuweisen hat, dann bezieht sie sich auf diesen extraordinären Umstand. Er hat nicht nur nach dem zweiten Weltkrieg als einer der ersten in der Bundesrepublik einen der neugeschaffenen Lehrstühle für Politikwissenschaft eingenommen; er hatte lange vor den volkspädagogischen Aufräumarbeiten, die die überwiegend aus der Emigration zurückgekehrten Inhaber dieser neu errichteten Lehrstühle nach der politischen Katastrophe der NS-Herrschaft bewältigen sollten, für eine in der deutschen Wissenschaftstradition unbekannte Disziplin eine neue Konzeption entwickelt, und zwar ganz aus der philosophischen Gegenwartsanalyse der Weimarer Republik. Diese letztlich philosophisch motivierte Vorstellung von „Politik“ wurde erst mit der Wiederveröffentlichung der Kritik der Soziologie, also zwei Jahrzehnte nach der Einführung der Politikwissenschaft an den Universitäten der Bundesrepublik, allgemein zugänglich. Aber zu dieser Zeit hat der Ort der Publikation, nämlich die von Wilhelm Hennis und Hans Maier herausgegebene Reihe „Politica“, die Aufnahme der Landshutschen Idee einer „Wissenschaft von der Politik“ in gewisser Weise präjudiziert: er musste ein restaurativ verengtes Verständnis dieser interessanten Idee nahelegen. Denn Wilhelm Hennis hatte in derselben Reihe schon einige Jahre zuvor seine brillante Habilitationsschrift mit einer ähnlichen Intention vorgelegt und sich dabei häufig auf Publikationen von Siegfried Landshut, u.a. auch auf dessen Kritik der Soziologie bezogen.[4] Hennis traf sich mit Landshut nicht nur in der Absicht einer „Rekonstruktion der politischen Wissenschaft“, sondern auch im philosophischen Bezugspunkt dieser Rekonstruktion, dem Rückgang auf den historischen Ursprung der politischen Wissenschaft in der „Politik“ des Aristoteles. Aber während Hennis – und in gewisser Weise auch die Schule von Arnold Bergsträßer, aus der der andere Herausgeber stammte – im engeren Rahmen der neugeschaffenen Disziplin eine über Otto Brunner zurückreichende Aristotelische Tradition des deutschen Denkens erneuern wollten, hatte die auf den ersten Blick ähnliche Intention von Landshut, der sein Philosophiestudium bei Husserl und Heidegger begonnen hatte, noch ganz andere Wurzeln. Dieser Unterschied zeigt sich schon daran, dass Landshut – bei aller antikommunistischen Frontstellung – zeitlebens an dem epochalen gesellschaftskritischen Grundgedanken von Marx festgehalten hat.

Obwohl ich für das Fach Politikwissenschaft habilitiert worden bin, habe ich es in der akademischen Lehre nicht vertreten. Deshalb war ich mit der internen Geschichte dieser Profession nicht hinreichend vertraut, als ich 1989 im Rahmen einer Vorlesungsreihe der Frankfurter Universität über die Soziologie der Weimarer Republik einen Vortrag halten sollte. Erst in diesem Zusammenhang sind mir die Ursprünge von Siegfried Landshut begegnet.[5] Aber mein Thema war eben die Soziologie; daher bin ich nur kurz auf die Reflexionen eingegangen, die den jungen Landshut als eine wichtige Stimme in der Diskussion über das Verhältnis von Marx und Max Weber ausgezeichnet hatten. Er schien zum Konzert jener Stimmen von Karl Mannheim, Hans Freyer und Karl Löwith zu gehören, die noch um das Selbstverständnis der Soziologie als eines neuen Faches kreisten. Aber schon damals hatte Landshut, wie ich nun erst sehe, jene ganz andere Fragestellung verfolgt: Wie angesichts der zugleich vereinzelnden und anonymisierenden Kräfte der modernen Wirtschaftsgesellschaft, die am sozialen Band des Zusammenlebens zerren, der Begriff „des Politischen“ wieder gewonnen werden kann. Die „Kritik der Soziologie“ richtete sich gar nicht gegen die Soziologie als solche – eine damals noch neue Disziplin, die in Deutschland, mit Verspätung gegenüber Frankreich und den USA, eine professionelle Identität erst ausbildete; Landshut kritisierte daran nur das falsche Bewusstsein der Soziologen, die aus seiner Sicht die Tatsache verdrängten, dass ihr Fach selber Ausdruck einer tiefgreifenden, von der historischen Entwicklung selbst ausgelösten Krise ist, und die daher den eigentlichen Grund für den Zerfall der politisch – und eben nicht allein sozial –  integrierenden Bindungskräfte nicht wahrnahmen.

Der junge Landshut hat wohl noch jene Vorbehalte der historischen Schule gegen die verallgemeinernden, methodisch eher auf Handlungsmuster statt auf die handelnden Individuen selbst gerichteten Verfahren der Sozialwissenschaften geteilt, die seinerzeit z.B. in der Kontroverse zwischen Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim zur Sprache kamen. Jedenfalls betont er die Abstraktion, die die Soziologie von den besonderen historischen Entstehungsbedingungen ihres eigenen Objektbereichs vornimmt, obgleich sich „die Gesellschaft“ in der frühen Moderne erst im Zuge der funktionalen Ausdifferenzierung des marktgesteuerten Wirtschaftssystems aus der im ganzen politisch struktierten, auf „Land und Herrschaft“ basierten Gesellschaftsformation herausbildet. Im nächsten Schritt interpretiert Landshut diese „Trennung von Staat und Gesellschaft“ im kritischen Sinne von Feuerbach als „Selbstentfremdung“. Dies ist das Motiv, das ihn mit dem frühen Marx verbindet. Die systemische Verselbständigung des kapitalistischen Wirtschaftskreislaufes, die Marx allerdings auf die politisch verschleierte soziale Machtausübung einer sozialen Klasse zurückgeführt hatte, subsumiert auch aus Landshuts Sicht die gleichzeitig vereinzelten Individuen einer fremden Macht. Aber anders als Marx begreift er die politische Überwindung dieser kritischen Trennung von Staat und Gesellschaft nicht als dialektische „Aufhebung“ des Staats in der emanzipierten Gesellschaft, sondern als die Wiedergewinnung „des“ Politischen, das im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung zu einem bloßen „Sachgebiet“ (wie Carl Schmitt sich ausdrückte) herabgesetzt worden war. Jene Tendenzen, die Landshut noch aufregten, wird Luhmann später als die selbstreflexive Schließung eines funktionalen Teilsystems beschreiben, worin sich die politischen Eliten ihre eigene Legitimation besorgen. Um diese „Disjunktion von Mensch und Welt“ zu überwinden, soll die fragmentierte Bevölkerung dadurch die Gestalt einer politischen Gemeinschaft wiedergewinnen, dass sie sich in der konkreten Idee einer vorbildlichen Lebensform selbst anschauen und wiederfinden kann.

In Landshut lässt sich heute der weit vorauslaufende Pionier jener, vom späten Heidegger angeregten Spekulationen über „das Politische“ erkennen. Diese Heideggerianer betrachten alles, was empirisch als „die Politik“ und „die Politiken“ untersucht werden kann, bloß als abgeleitete Phänomene und wollen im Anschluss an Derrida oder Lyotard das unbestimmte Wesen „des“ Politischen einkreisen, das sich einer krisengeschüttelten Gegenwart noch entzieht.[6] Allerdings hat Landshut diese Idee stets auf die handfestere Gestalt der Aristotelischen „Politik“ zurückführen wollen, d.h. auf eine unter modernen Lebensbedingungen erneuerte Idee der polis. Und für deren Explikation soll – ganz im platonischen Sinne – eine politische Wissenschaft zuständig sein, die das Politische nicht „im adjektivischen Sinne“ begreift. Landshut war überzeugt, dass die Politik als Wissenschaft nur eine wesentliche Aufgabe hat, nämlich zu klären, „was es mit dem Politischen auf sich hat“.[7]


[1] Rainer Nicolaysen, Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik, Frankfurt/Main, 1997

[2] Einleitung zu: Karl Marx, Die Frühschriften, Stuttgart 1953, S. X: „Die Entwicklung und innere Reife der entscheidenden Grundgedanken von Marx konzentriert sich in die zehn Jahre zwischen 1837 und 1847“

[3] Siegfried Landshut, Kritik der Soziologie und andere Schriften, Neuwied 1969

[4] Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie, Neuwied. 1963

[5] Jürgen Habermas, Soziologie in der Weimarer Republik, in: ders., Texte und Kontexte, 184-204, hier S. 195f.

[6] T. Bedorf, K. Röttgers (Hg.), Das Politische und die Politik, Berlin 2010; O. Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010

[7] Als er sich dazu 1956 auf einer Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft erklären musste, hat er freilich eine verblüffend antikisierende, das Vernunftrecht beiseite schiebende  Antwort gegeben (die auch eine gewisse Isolierung innerhalb des Faches erklären mag). Siegfried Landshut, Empirische Forschung und die Grundlagenforschung in der Politischen Wissenschaft, in: ders. (1969), 307-323, hier S. 321: „Allein da kann sinnvollerweise von Gerechtigkeit die Rede sein, wo sich an einem für die Allgemeinheit verbindlichen Vorbild der Lebensführung ermessen lässt, was dem einzelnen und welcher Platz dem einzelnen im Gemeinwesen ihm zukommt: Was suum cuique ist. Wo die indifferente Gleichheit eines jeden und jedem das leitende Vorbild ist, hört der Begriff des suum cuique auf, eine konkrete und positive Bedeutung zu haben und erhält den negativen Sinn einer Eliminierung aller Unterscheidung für die Existenz einer Gemeinschaft, er bedeutet die Negation eines konkreten Gemeinsamen, d.h. die Negation der politischen Gemeinschaft selbst.“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert