Finn Haberkost über Andreas Grimmel, Europäische Integration im Kontext des Rechts (2012)

Andreas Grimmel ist Forschungsdirektor am „Institute for European Integration“ in Hamburg und seit 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich. Zuvor studierte er als Visiting Fellow unter anderem an der Harvard University sowie der University of Cambridge und forschte am ARENA Center for European Studies in Oslo. Im Jahr 2012 erschien an der Universität Hamburg seine Dissertation „Europäische Integration im Kontext des Rechts“, welche in inhaltlicher sowie methodischer Hinsicht den Grundstein für viele seiner späteren Arbeiten legte.

Finn Haberkost studiert Politikwissenschaft im Bachelor am Fachbereich.


Im Zentrum von Grimmels Arbeit steht die Frage, wie wir dem Projekt Europäischer Einigung in seiner Einzigartigkeit und Vieldimensionalität gerecht werden können. Wie es nicht funktioniert, so Grimmel, werde von zahlreichen Erklärungsansätzen vom Neorationalismus bis zum Supranationalismus demonstriert. Hier versteckte man sich lange hinter einem universalistischen Konzept der Rationalität, nach dem diese eine natürlich gegebene Konstante ist und Handeln eben dann rational, wenn es den Interessen des Akteurs dienlich ist – Rationalität war eine geisteswissenschaftliche Allzweckwaffe, welche jedoch durch ihren allgemeinen Anspruch in die inhaltliche Leere abdriftete.[1] Anstatt den Begriff der Rationalität deshalb grundsätzlich für obsolet zu erklären oder wissenschaftliche Erkenntnis an sich in Frage zu stellen (Poststrukturalismus), verleiht Grimmel der Rationalität einen neuen Anstrich – sie wird kontextuell. Ob eine Handlung rational ist oder nicht, lässt sich demnach nur aus ihrem spezifischen Kontext heraus beurteilen. Das Europäische Recht ist ein solcher eigenständiger Kontext, den es zu verstehen gilt, um sich seiner Rolle für den dynamischen Prozess Europäischer Integration bewusst zu werden. [2]

Im Folgenden wird erstens die theoretische Basis von Grimmels Konzept der Kontextrationalität herausgearbeitet, um in einem zweiten Schritt sein neues Verständnis des Europäischen Rechts als eigenen Kontext nachvollziehen zu können. Abschließend wird beleuchtet, worin genau die integrative Kraft des Europäischen Rechts liegt, und an welchen Stellen Grimmels Dissertation Fragen offenlässt.

Von Weber und Wittgenstein zu einem neuen Konzept der Rationalität

Um den Implikationen seines Konzeptentwurfs gerecht zu werden, wählt Grimmel, wie auch in vielen seiner späteren Arbeiten, einen interdisziplinären Ansatz. Er verbindet den Kontextualismus des Soziologen Max Webers mit der Sprachpraxis des Philosophen Ludwig Wittgensteins und wendet dies auf den Bereich des Rechts an. Ausgangspunkt ist Webers Definition menschlichen Handelns, wonach dieses immer mit einem subjektiven Sinn verbunden ist – soziales Handeln ist davon ausgehend in seinem Sinn auf das Verhalten anderer bezogen.[3] Somit ist Handeln kontextgebunden und in seiner Sinnhaftigkeit nur aus seinem spezifischen Handlungskontext erklär- und verstehbar: Das „Verlesen“ eines richterlichen Urteilspruches beim Stammtisch, führte in den meisten Fällen wohl lediglich zu Unverständnis und Verwirrung, da er seinem Kontext entrissen ist – er würde als nicht-rational wahrgenommen. Im Laufe der Zeit bilden sich so Lebens- und Wertesphären, an deren Spitze jeweils ein oberstes Wertepostulat steht, welches vorgibt, was rational und was irrational ist. Doch wie genau hat man sich diese Genese von kontextspezifischen Regeln und Rationalitäten vorzustellen?[4]

Weiterhelfen kann der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein mit seinem Konzept der Sprachpraxis. Demnach definieren sich sprachliche Ausdrücke durch ihren Gebrauch in einem bestimmten sozialen Raum – erst das Zusammenkommen von Handlung und konkretem sprachlichen Ausdruck legt die Bedeutung fest und ermöglicht so Verständigung. Dadurch wird Handeln begründbar und nachvollziehbar, es bilden sich die sprachpraktischen Regeln eines Kontextes. Es ist diese Art der Nachvollziehbarkeit und Begründbarkeit bestimmter Handlungen, die die Rationalität eines Kontextes konstruiert. Sie begrenzt die Möglichkeiten des Denk- und Machbaren, schafft aber gleichzeitig auch erst eine gemeinsame Basis der Verständigung und ermöglicht so sinnvolles Handeln. Abschließend ist zu betonen, dass das Regelsystem sowohl von Reproduktion als auch Transformation geprägt ist – in jeder Regelbefolgung liegt die Reproduktion, und in jeder Form abweichender Sprachpraxis liegt eine Transformation des Regelwerks.[5]

Der Kontext des Europäischen Rechts

Ausgehend von dieser theoretischen Basis, wenden wir uns nun dem spezifischen Kontext des Europäischen Rechts zu, wobei das Verhältnis von EU-Recht und nationalem Recht Klärung bedarf: Auch wenn das Europäische Recht einen eigenständigen Kontext darstellt, speist es sich notwendigerweise aus bestehenden Rechtsprinzipien, zum größten Teil aus denen, der ihm unterworfenen Mitgliedstaaten. Hiermit ist ein Kernkriterium der Rationalität Europäischen Rechts genannt: Kohärenz ­­– damit Urteilssprüche, Plädoyers oder Gesetze als rational und legitim anerkannt werden können, müssen sie anschlussfähig an bestehendes Recht und vorangegangene Sprachpraxis sein. Gleichzeitig ist Europäisches Recht alles andere als eine bloße Synthese aus unterschiedlichen nationalen Rechtssystemen – es ist in lokaler, temporaler und funktionaler Hinsicht eigenständig und kontextspezifisch. Es handelt sich um einen abgegrenzten Raum sprachpraktischer Regeln, der eine eigene Geschichte besitzt und sich durch seine spezifische institutionelle Struktur von anderen (Rechts-)Kontexten unterscheidet. Letzterer Punkt soll im Folgenden kurz ausgeführt werden: Die Europäische Union besitzt eine institutionelle Struktur sui generis, in der sich in den vergangenen Jahrzehnten eine immer stärker werdende gestalterische und richtungsweisende Rolle des Europäischen Gerichtshofs herauskristallisiert hat. Woran liegt das? Zum einen an dem unweigerlich lückenhaften Charakter der Europäischen Verträge, da Gesetze unmöglich für jeden Einzelfall konzipiert sein können und daher zwangsläufig juristischer Auslegung bedürfen. Zum anderen an den komplexen Rechtssetzungsverfahren, welche die Verträge vorsehen und die sowohl Parlament und Rat als auch Kommission involvieren. Häufig entstehen dadurch auch in der sekundären Rechtssetzung Kompromisse, die auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller beteiligten Akteur*innen basieren und Konfliktpunkte auf die Interpretation durch die Judikative auslagern. Hierbei wird deutlich, dass judikative Rechtsauslegung sich nicht wesentlich von legislativer Rechtserzeugung unterscheidet – jede richterliche Entscheidung ist eine Sprachpraxis, die als Grundlage späterer Entscheidungen und Handlungen dient. Laut Grimmel ist diese notwendige Kompetenzüberschneidung aus den Fugen geraten, was allerdings nicht an einem falschen Verhalten des EuGHs, sondern an einer fehlenden Gestaltungskraft der Legislativen liegt.[6]

Doch nach welchen Kriterien entscheidet sich nun, wann eine Handlung rational ist? Es ist nicht die inhaltliche Entscheidung an sich, sondern die Art und Weise ihrer Begründung. Soll heißen: Die Sinnhaftigkeit und Richtigkeit eines richterlichen Urteilsspruches lassen sich objektiv dahingehend beurteilen, ob ihnen eine logische Argumentation zu Grunde liegt und ob sie in Einklang mit bestehenden Gesetzen und Normen sind. Entsprechend formuliert Grimmel in Anlehnung an Weber (auch wenn dieser das Recht ursprünglich nicht als eigene Lebenssphäre definiert) als oberstes Wertepostulat der Rechtssphäre die Erzeugung von Recht im Sinne einer voranschreitenden Systematisierung und Vervollständigung.[7] Hierdurch wird die praktische Anwendung von Gesetzen erst möglich. Bringen wir nun das Postulat der Erzeugung von Recht mit der Notwendigkeit zur argumentativen Begründbarkeit von Recht zusammen, so ergeben sich für Grimmel vier Argumentationsformen, welcher sich der EuGH bedienen kann, um seine Urteile rational zu begründen: (1) die textliche Auslegung (2) die historische Auslegung (3) die systematische Auslegung und (4) die teleologische Auslegung. In Bezug auf die Rechtsintegration in der Europäischen Union haben die systematische sowie die teleologische Auslegung die größte Bedeutung und sollen deshalb kurz erläutert werden. Die systematische Auslegung verfolgt das Ziel, die innere Logik und Harmonie des Rechtssystems zu erhalten, sodass einzelne Urteile und Gesetze nicht im Widerspruch zueinander stehen. In der teleologischen Auslegung gilt es jene Entscheidung zu treffen, welche objektiv (!) am ehesten den Normen und Zwecken der Europäischen Gemeinschaft entspricht.[8] Diese Art der Argumentation ist zwar ohne Zweifel zentral für juristische Entscheidungen, muss aber gleichzeitig mit Vorsicht betrachtet werden, weil sich Grimmel mit ihr einem universalistischen Rationalitätsbegriff annähert, der viel Raum für Interpretationen offenlässt.

Die integrative Kraft des Europäischen Rechts

Es lässt sich zusammenfassen, dass Rationalität im Kontext des Europäischen Rechts die Begründbarkeit und Anschlussfähigkeit von Handlungen bedeutet. Eine richterliche Entscheidung gilt dann als rational, wenn sie kohärent mit bestehenden Rechtsnormen ist und ihr eine logische Argumentation zugrunde liegt, welche die bestehende Sprachpraxis respektiert. Doch wie wird das Europäische Recht dadurch zu einem eigenständigen Motor Europäischer Integration? Diese Frage bedarf sicherlich noch weiterer Ausarbeitung von rechtsspezifischer Seite, kann nach Grimmel aber vorläufig dahingehend beantwortet werden, dass Recht in sich selbst und seiner Rationalität eine Vervollständigungstendenz enthält. Es ist in seinem Wesen angelegt einen Rechtskomplex zu schaffen, welcher durch Rechtsanwendung fortlaufend erweitert wird und so Gesetze sowie ihre zugrundeliegenden Normen praktisch anwendbar macht. Der EuGH ist das Organ dieser Tendenz und schafft fortlaufend eine Rechtsgemeinschaft, die ihre Mitglieder durch gemeinsame Formen der intersubjektiven Verständigung und geteilten Normen verbindet.[9]

Implikationen des Konzepts der Kontextrationalität

Die Arbeit Grimmels hat sowohl Implikationen für die Europäische Politik und ihre institutionelle Struktur als auch Implikationen, welche über ihren spezifischen Untersuchungsgegenstand hinausgehen. In Bezug auf Ersteres attestiert Grimmel der Europäischen Union ein Legitimitätsdefizit und es wird deutlich, dass auch er die zunehmende politische Gestaltungsrolle des Europäischen Gerichtshofes kritisch beurteilt. Den Grund für die aktuelle Problematik sieht Grimmel allerdings nicht im rational-politischen Machtstreben des EuGHs, wie häufig unterstellt wird, sondern vielmehr in der Gestaltungskrise der europäischen Legislativen, aus der eine Überlastung des Europäischen Rechts resultiert. Demnach werden gesellschaftlich fundamentale Fragen, auf die Parlament, Kommission und Rat keine Antworten finden konnten, auf den EuGH ausgelagert. Dieser ist dann gezwungen eine Entscheidung zu treffen. Jedoch sollten derart richtungsweisende Entscheidungen, wie Grimmel anmerkt, grundsätzlich nicht von einem Organ getroffen werden, welches einer direkten demokratischen Kontrolle entzogen ist. Eine Verbesserung kann also nur eintreten, wenn die Europäische Legislative handlungsfähiger wird, um gesellschaftliche Prozesse wieder aktiv zu gestalten.[10]

Zum anderen gehen die Implikationen von Grimmels Kontextualismus über das Beispiel des Europäischen Rechts hinaus. Nicht nur die Bereiche Politik und Recht sind eng miteinander verflochten, sondern nahezu alle gesellschaftlichen Lebensbereiche stehen miteinander in Kommunikation und beeinflussen sich gegenseitig. Dabei unterscheiden sie sich allerdings stark in ihrer inneren Funktionsweise, was durch das Konzept der Kontextrationalität von Grimmel verdeutlicht wird – die Art und Weise wie Menschen denken und handeln variiert von Kontext zu Kontext. Daher ist es wohl auch kein Zufall, dass das Legitimitätsproblem der EU im politikwissenschaftlichen Diskurs zu sehr aus rational-politischer Perspektive betrachtet wird, was zu einer undifferenzierten Schuldzuweisung zu Lasten des EuGHs führt. Wenden wir uns nun aktuellen politischen Diskursen zu, wird die Bedeutung eines interdisziplinären Verständnisses umso deutlicher: Ob Klimawandel, Datenschutzgrundverordnung, Cyber-Kriminalität oder Handelskriege – das Treffen von sinnvollen politischen Entscheidungen erfordert ein umfassendes Verständnis anderer Fachbereiche, was bei zunehmender Komplexität moderner Thematiken immer seltener gegeben ist.

Diese Problematik findet sich auch in Grimmels Konzept der Kontextrationalität wieder. Denn auch dort bildet sich eine gemeinsame Basis des Verständnisses erst als Resultat kontinuierlicher gegenseitiger Sprachpraxis. Wie also gestaltet sich grundsätzlich Kommunikation zwischen verschiedenen Kontexten, in denen unterschiedliche sprachpraktische Regeln und Rationalitäten existieren? Gerade bei dieser Frage hält sich Grimmel in seiner Arbeit bedeckt und verweist lediglich auf eine generelle Wechselwirkung zwischen verschiedenen Kontexten.[11] Außerdem sei die Rationalität eines Kontextes erlernbar[12], wodurch Kontexte auch gegenüber Außenstehenden eine gewisse Offenheit aufwiesen. Auf der anderen Seite bildet sich die Rationalität und damit ein intersubjektives Verständnis ja gerade erst im Laufe kontinuierlicher gegenseitiger Sprachpraxis zwischen Individuen heraus. Es würde also fehlleiten, das Erlernen einer Rationalität als einen singulär-kognitiven Prozess zu verstehen. Stattdessen bilde sich Rationalität als soziales Phänomen einer kontinuierlichen Interaktion von Individuen innerhalb eines Kontextes heraus, wodurch sich Kontexte notwendigerweise durch eine gewisse Verschlossenheit auszeichnen.

In Bezug auf Europäisches Recht stellt sich so die Frage, wie versteh- und nachvollziehbar eine Rechtsprechung sein kann, wenn ein Großteil der Betroffenen nicht direkt in die Sprachpraxis des Kontextes eingebunden ist. Genügt als Legitimation bereits die prinzipielle Möglichkeit zur Erlernung einer Rationalität, um dadurch die kontextspezifische Argumentation nachvollziehen zu können? Oder existiert durch die grundsätzliche Befähigung des Menschen zur Rationalität bereits eine geteilte Basis des Verständnisses und der Logik? Diese ermöglicht es zwar nicht per se selbst im Sinne einer kontextspezifischen Rationalität zu argumentieren, versetzt aber auch Außenstehende in die Lage, die Argumentation eines Kontextes nachzuvollziehen und zu hinterfragen. Fest steht, dass wir uns somit einer universalistischen Logik wieder deutlich angehnähert hätten. Gleichzeitig scheint es jedoch sinnvoll zu sein, anzunehmen, dass neben all den Eigenarten eines jeden Kontextes, auch Gemeinsamkeiten bestehen, die sich im Denken der Menschen wiederfinden. Diese Gemeinsamkeiten könnten die Grundlage bilden, um erstens deskriptiv die Mechanismen zu untersuchen, die der Kommunikation zwischen verschiedenen Gesellschaftsbereichen zugrunde liegen und zweitens normativ ein Konzept für die Legitimität Europäischer Rechtsprechung zu begründen.

Dafür hat Grimmel mit seinem Konzept der Kontextrationalität einen wichtigen Schritt in die Richtung eines gegenseitigen Verständnisses gesellschaftlicher Kontexte und wissenschaftlicher Disziplinen gemacht. Denn nur das Wissen um die Verschiedenheit des jeweiligen Denkens, kann Ausgangspunkt sein für interkontextuelle Kommunikation und interdisziplinäre Rationalitätsforschung.


[1] Kapitel 2.1: Die Rolle des Rechts in der rationalistischen Integrationstheorie

[2] Vgl. Kapitel 3: Von Rationalismus und Poststrukturalismus zu einer wesentlichen Theorie der Integration durch Recht

[3] S. 149

[4] Kapitel 4: Das Kontextprinzip der Rationalität

[5] Kapitel 4.2: Die sprachliche Konstitution der Rationalität – von Wittgenstein zu einer sprachlich-kontextuellen Analyse der Wirklichkeit

[6] Kapitel 5.1: Der Europäische Gerichtshof – Notwendigkeit und Befugnis der Rechtsfortbildung und -schöpfung

[7] S. 166

[8] Kapitel 5.2: Behauptbarkeit, Begründung und Argumentation im europäischen Recht

[9] Kapitel 6.3: Fazit: „juristischer Aktivismus“ als rechtskontextuelle Notwendigkeit – Die Vervollständigungstendenz des europäischen Rechts

[10] ebd.

[11] S. 224

[12] S. 19

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert