Eine Geschichte der Politikwissenschaft in Nachkriegsdeutschland zu schreiben ohne Wilhelm Hennis zu erwähnen, scheint unmöglich. An den zahlreichen Forschungsbeiträgen, öffentlichen Interventionen und politischen Aktivitäten des Wissenschaftlers ist kein Vorbeikommen. Eine der zahlreichen Stationen auf seinem Werdegang war dabei die Universität Hamburg. Nach Siegfried Landshut war Wilhelm Hennis von 1962 bis 1967 der zweite Inhaber eines Lehrstuhls für Politische Wissenschaft am Institut. Mit diesem Fundstück – einem der wenigen Bilder aus Hennis‘ Hamburger Zeit – schauen wir auf sein Leben und Wirken zurück. Eine Rezension von Andreas Anter zu einer seiner in Hamburg erschienen Schriften Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik ist bereits zu Beginn des Jahres auf diesem Blog erschienen.
Wie Jürgen Habermas in seinem Beitrag auf Politik100x100 betonte, trafen sich der Gründervater unseres Instituts Siegfried Landshut, der ab 1951 einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg inne hatte, und sein zeitweiliger Kollege Wilhelm Hennis in der Absicht die Politische Wissenschaft im bundesrepublikanischen Nachkriegsdeutschland final zu etablieren. Beide, so Habermas, teilten einen historischen Bezugspunkt, die aristotelische Politik, welche als ideengeschichtliche Quelle zur ‚Rekonstruktion der politischen Wissenschaft‘, so der Untertitel von Hennis‘ veröffentlichter Habilitationsschrift, diente. Allerdings, so sei festzustellen, kamen beide auf unterschiedlichen philosophischen Wegen zu dieser legitimatorischen Grundlegung. Während Landshut die aristotelische politische Gemeinschaft als philosophische Folie zur systematischen Kritik moderner Differenzierungs-, damit Entpolitisierungs- und, mit Marx, (Selbst-)entfremdungstendenzen setzte, wolle Hennis, so Habermas, „im engeren Rahmen der neugeschaffenen Disziplin eine […] Aristotelische Tradition des deutschen Denkens erneuern“.
Entscheidend war für Hennis vor allem das aristotetlische Verständnis der Politik als eine auf Handeln ausgerichtete Wissenschaft. Diesen in den neuzeitlichen, empiristisch geprägten Wissenschaften überwiegend vergessenen Aspekt galt es für Hennis beim Aufbau der Politischen Wissenschaft in Deutschland zu retten bzw. eben zu rekonstruieren. Die Wissenschaft von der Politik als praktische Wissenschaft also, eine, die Werturteile fällt, eingreift und nach dem normativ Guten, dem Sollen fragt.[1]
Landshut und Hennis vereinte also durchaus ein gemeinsames Anliegen, ein gemeinsamer historisch-philosophischer Fixpunkt, ihr Hintergrund hätte jedoch unterschiedlicher nicht sein können. Auch biographisch, stellte Wilhelm Hennis‘ Werdegang das Gegenprogramm zum von Vertreibung und Exil geprägten Leben Landshuts dar:
1923 geboren, wanderte Hennis im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Venezuela aus, kehrte jedoch schon 1937 nach Deutschland zurück, um dort sein Abitur an einem Dresdner Internat abzuschließen. 1942 wurde er in die deutsche Marine eingezogen, diente dort bis zu seiner Entlassung im August 1945.
Nur einige Monate nach Kriegsende begann Hennis dann ein Studium der Rechtswissenschaft in Göttingen, nach sechs Jahren Studium und erfolgreichem Staatsexamen, promovierte er über „Das Problem der Souveränität“ bei Rudolf Smend. Schon während seiner Zeit in Göttingen hatte er sich politisch betätigt, war unter anderem im SDS aktiv gewesen, folgerichtig erschien so der Schritt, 1951 in die Hauptstadt Bonn überzusiedeln und dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter der SPD-Bundestagsfraktion zu arbeiten. Durchaus erfolg- und einflussreich assistierte er dem Rechtsexperten der Fraktion, Adolf Arndt, wirkte an präzedenzsetzenden Fällen mit, doch schon bald zog es ihn wieder in die akademische Arbeit zurück.
Bereits 1952 hatte er auf Einladung von Henry Kissinger einen Sommer in Harvard verbracht, Bekanntschaft mit Otto Kirchheimer, Leo Strauss und weiteren Exilintellektuellen gemacht, 1953 folgte dann der endgültige Schritt zurück in die Wissenschaft – Hennis wird Assistent von Carlo Schmid am Institut für Politische Wissenschaft in Frankfurt.
In Frankfurt verbringt er auch den Rest der 1950er-Jahre, habilitiert sich 1960 mit einer in der jungen, orientierungssuchenden Politischen Wissenschaft durchaus umstrittenen Schrift, die drei Jahre später unter dem Titel Politik und Praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft erscheint, und erhält schließlich, nach einer kurzen Zeit an der Pädagogischen Hochschule Hannover, einen Ruf aus dem Norden: 1962 wird Hennis der zweite Lehrstuhlinhaber für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg.
Zwar verlässt Hennis das Institut bereits nach fünf Jahren wieder, geht 1967 als Nachfolger Arnold Bergstraessers nach Freiburg, wo er bis zu seiner Emeritierung 1988 einen Lehrstuhl für Politische Theorie inne hat, und doch sind seine „Hamburger Jahre“, eine der produktivsten Schaffensphasen seines Lebens, ein Brennglas für seine philosophische und politische Arbeit.
Denn Hennis bleibt Zeit seines Lebens und parallel zu seiner einflussreichen akademischen Arbeit politisch aktiv, eine öffentliche Figur. Immer wieder interveniert er mit Zeitungsbeiträgen und Kommentaren zu aktuellen politischen Fragen und dem Zustand der Parteiendemokratie, ist regelmäßiger Autor etwa im Spiegel oder Hamburger Abendblatt, auch seine wissenschaftlichen Publikationen, etwa die Schrift Der Deutsche Bundestag 1949-1965, die 1966 in der Zeitschrift Der Monat erscheint, sind eng an tagespolitische Debatten angebunden. Zwei Mal ist er auch, von 1946 bis 1958 sowie von 1962 bis 1969, Mitglied der SPD, berät sie zu rechtlichen und institutionellen Problemen, ist etwa Teil eines Beirats zu Fragen einer möglichen Wahlrechtsreform. Doch tritt er auch zwei Mal aus Protest aus, zuerst aufgrund der Atompolitik der Sozialdemokraten, dann als die Partei die von ihm präferierte Reform zugunsten eines Mehrheitswahlrechtes verschleppt.
1968 dann wird er ein prominenter Gegner der Studierendenbewegung, vor dem Hintergrund der Weimarer Erfahrungen warnt er vor den totalitären Tendenzen der ’68er‘, tritt aus Gegenprotest zur sozialliberalen Koalition von Willy Brandt für kurze Zeit in die CDU ein.
Spätestens ab den 1980er-Jahren wird es dann etwas ruhiger um Wilhelm Hennis. Nach einem Aufenthalt an der New School in New York 1977/78 findet er seine frühe Leidenschaft für Max Weber wieder, widmet seine letzten Jahre, bis zu seinem Tod im Jahr 2012, den Schriften des Heidelberger Soziologen und wird einer der wichtigsten Weber-Rezipienten der deutschen Politikwissenschaft. Dabei knüpft er auch wieder an seinen alten Hamburger Kollegen, Siegfried Landshut und dessen Schriften über Weber an.
[1] Peter Graf Kielmannsegg 2014. Wilhelm Hennis (1923-2012), in: Eckhard Jesse und Sebastian Liebold: Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung, Baden-Baden: Nomos
Text: David Weiß, Redaktion Politik 100×100