Burkhard Conrad über die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ in der Hamburger Politikwissenschaft

Mitte der 1990er Jahren erscheinen drei wegweisende, am Hamburger Institut als Dissertationen eingereichte Monographien zur Kriegsursachenforschung: Jens Siegelbergs Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft (1994), Dietrich Jungs Tradition – Moderne – Krieg. Grundlegung einer Methode zur Erforschung kriegsursächlicher Prozesse im Kontext globaler Vergesellschaftung (1995) sowie Klaus Schlichtes Krieg und Vergesellschaftung in Afrika. Ein Beitrag zur Theorie des Krieges (1996). Siegelberg arbeitet heute als Publizist und Consultant, Jung ist an der University of Southern Denmark in Odense, Klaus Schlichte an der Universität Bremen tätig.

Burkhard Conrad OPL ist Mitglied der Laiengemeinschaft des Dominikanerordens und Mitarbeiter im Erzbistum Hamburg. Er promovierte in Hamburg bei Cord Jakobeit, Michael Greven und Kari Palonen mit der Arbeit „Der Augenblick der Entscheidung. Zur Geschichte eines politischen Begriffs“. Er schreibt den ideengeschichtlichen Blog „rotsinn“.


Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist eine in der Soziologie und Geschichtswissenschaften viel zitierte – und kritisierte – Denkfigur.[1] Den einen dient die Figur als heuristische Brille für die Beobachtung der modernen Gesellschaft; die anderen kritisieren ihren Gebrauch als Ausdruck eines temporal verzerrten Weltbildes, das den kolonialistischen Blick nie richtig abgelegt hat. In der Hamburger Politikwissenschaft trifft man die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen im Laufe der Jahre immer wieder an, dann aber zumeist im erstgenannten Sinne: Die Denkfigur möchte den historisch informierten Blick auf die Geschichte und Gegenwart schulen, um die durchaus flüssigen, neuen und wiederkehrenden gesellschaftlichen Wirkkräfte besser beschreiben zu können. In diesem Sinne wird das Theorem, als welches man die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen auch bezeichnen kann, von einigen Vertretern des sog. Hamburger Ansatzes der Kriegsursachenforschung ab der Mitte der 1990er Jahren ins Spiel gebracht.

Begonnen hat damit Jens Siegelberg in seiner Dissertation „Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft“ (1994). Siegelberg schlägt in seinem Buch vor, die Entstehung von Kriegen vor dem Hintergrund eines Epochenwechsels von der nicht-kapitalistischen zu einer kapitalistischen Vergesellschaftung zu verstehen (ebd. 38). Als „Kernthese“ formuliert er, dass „der bis heute unabgeschlossene kapitalistische Transformationsprozeß vor- bzw. nicht-kapitalistischer Lebensverhältnisse die zentrale, dem Kriegsgeschehen unserer Epoche unterliegende strukturelle Konfliktlinie darstellt“ (ebd. 41). Der Epochenbegriff der kapitalistischen Moderne führt Siegelberg unter anderem zu Reinhart Koselleck, von dem er die Denkfigur der Ungleichzeitigkeit ausleiht. Mit Blick auf die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus führt Siegelberg aus, dass die Ungleichzeitigkeit „als Kennzeichen des unabgeschlossenen globalen Vergesellschaftszusammenhangs“ (ebd. 152) und damit als Signatur einer ganzen Epoche zu begreifen ist.

Den Impuls von Jens Siegelberg nimmt Dietrich Jung in seiner Hamburger Dissertation „Tradition – Moderne – Krieg. Grundlegung einer Methode zur Erforschung kriegsursächlicher Prozesse im Kontext globaler Vergesellschaftung“ aus dem Jahr 1995 auf. Jung nimmt sich des „Siegelbergschen Ansatzes“, wie er ihn ausdrücklich nennt, an und formuliert ihn sozialtheoretisch weiter aus. Dabei geht er von der Weltgesellschaft als einem zentralen Analysegegenstand aus. Diese sei, so ist Jung überzeugt, von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und damit von einer „temporalen Spannung zwischen gesellschaftlichen Entwicklungsstufen“ (ebd. 160) geprägt. Die weltgesellschaftliche Binnendifferenzierung wird also temporal aufgeschlüsselt. Dabei wird die erkenntnisleitende Unterscheidung in eine kapitalistische und eine prä-kapitalistische Gesellschaftsformation von Jung idealtypisch ausformuliert, um mit dieser Unterscheidung die „widersprüchlich zusammengesetzten Einheiten traditionaler und bürgerlich-kapitalistischer Momente“ (ebd. 161) ausweisen zu können. Für die englischsprachige Leserschaft formulierte Jung in seinem Aufsatz „The Political Sociology of World Society“ die Sache dann mit Verweis auf Shmuel N. Eisenstadts These der multiplen Modernen noch einmal so:

„Given this high degree of structural heterogeneity, the historical evolution of a global society resembles a changing patchwork of contradicting societal elements. In the words of Ernst Bloch, these multiple modernities are characterized by the ‘contemporaneity of the non-contemperaneous’, by the paradoxical coexistence of traditional and modern social relations.” (ebd.: 456).

Jung selbst übersetzte diese sozial- und zeittheoretischen Gedanken auf das reale Kriegsgeschehen in der Region des Nahen und Mittleren Ostens. Klaus Schlichte tat ein Jahr später in seiner Dissertation „Krieg und Vergesellschaftung in Afrika. Ein Beitrag zur Theorie des Krieges“ (1996) ähnliches mit Blick auf den neo-patrimonialen Staat in Teilen Afrikas. Dabei unterstreicht auch Schlichte ein weiteres Mal den ambitionierten Anspruch des Hamburger Ansatzes: „Kriegsursachentheorie ist Gesellschaftstheorie.“ (ebd. 7). Damit einher geht für Schlichte, dass die von Siegelberg und Jung konstatierte und mit dem Kriegsgeschehen in Verbindung gebrachte Ausbreitung des Kapitalismus als ein dynamisches Geschehen im Weberschen Sinne zu verstehen ist. Es handelt sich um einen konfliktreichen globalen Vergesellschaftungsprozess, also um eine „Weltvergesellschaftung“ (ebd. 33) bzw. um ein „Geschehen in der Zeit“ (ebd. 47). Bezogen auf Staat und Gesellschaft in Afrika heißt das dann, dass Elemente einer vorkapitalistischen und Elemente einer kapitalistischen Vergesellschaftung sich als „Zeitschichten“ (R. Koselleck) ineinander und durcheinander schieben. Auf diese Weise entsteht in Afrika (und andernorts) „hybride“ – man könnte auch sagen: ungleichzeitige – Staatlichkeit (ebd. 94).

Zusammenfassend lässt sich aus Sicht dieser Vertreter des Hamburger Ansatzes feststellen, dass die Ungleichzeitigkeit von großem „methodischem“ Nutzen ist (Siegelberg, Jung und Schlichte 2003: 30). Die Denkfigur hilft dem Verständnis politischer Gewaltkonflikte in der modernen Weltgesellschaft entscheidend auf die Sprünge. Diese Sicht der Dinge wurde kürzlich erst von Falko Schmieder bestätigt: „Die Unverzichtbarkeit dieser Figur (der Ungleichzeitigkeit, BC) ist nicht zuletzt darin zu sehen, dass sie aufgrund ihrer dialektischen Spannung in der Lage ist, temporale Konflikte ins Bewusstsein zu heben, wie sie mit der blinden Dynamik der modernen Gesellschaft unausweichlich verbunden sind“ (Schmieder 355).

Der Pfad, den man mit einer solchen methodisch verstandenen Ungleichzeitigkeit betritt, ist aber ein denkbar schmaler. Klar ist, dass es sich bei der Ungleichzeitigkeit „nicht um einen quantitativen Abhub der Vergangenheit in der Gegenwart, nicht um bloße ‚Restposten‘ (handelt), sondern um ein wirkmächtiges Ermöglichungsreservoir traditioneller gesellschaftlicher Kräfte in einer anderweitig modern anmutenden Welt“ (Conrad 2015). Dennoch ist analytische Vorsicht geboten. Die idealtypisch isolierte Tradition wirtschaftlicher, politischer und weltanschaulicher Art bedarf stets der Brechung durch die Brille einer immer schon agilen Empirie. Ähnliches gilt für die verschiedenen Möglichkeiten, Moderne(n) zu denken und zu verstehen. Nicht von der Hand zu weisen ist nämlich die Gefahr einer im Gewande der Methode einhergehende Verdinglichung unterschiedlicher Entwicklungsschritte bzw. einer versteckten Über- bzw. Unterbewertung der einen oder anderen gesellschaftlichen Formation. Die Annahme der Ungleichzeitigkeit darf nicht zur „Ideologie“ verkommen (Schäfer 1994). Um diese Gefahr zu bannen hilft die Erinnerung an die hochgradige Dynamik und Spannung, welche die Denkfigur gerade im sozialen, weltgesellschaftlichen Geschehen feststellen möchte. Letztlich geht um den Versuch einer adäquaten Beschreibung gerade dieser Dynamik mit Hilfe einer geeigneten Begrifflichkeit. Die Denkfigur der Ungleichzeitigkeit möchte die Phänomene der Welt nicht durch Beschreibungen festhalten, sondern vielmehr das Auge und die Feder des Beschreibenden temporal schulen.


Literatur:

Conrad, Burkhard 2015: Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, https://rotsinn.wordpress.com/2015/03/29/die-gleichzeitigkeit-des-ungleichzeitigen/ (Zugriff 26.2.2019)

Jung, Dietrich 1995: Tradition – Moderne – Krieg. Grundlegung einer Methode zur Erforschung kriegsursächlicher Prozesse im Kontext globaler Vergesellschaftung, Hamburg.

Jung, Dietrich 2001: The Political Sociology of World Society, European Journal of International Relations, Jg. 7, Nr. 4, 443-474.

Jung Dietrich/ Schlichte, Klaus/ Siegelberg, Jens 2003: Kriege in der Weltgesellschaft. Strukturgeschichtliche Erklärung kriegerischer Gewalt (1945-2002), Wiesbaden.

Schäfer, Wolf 1994: Ungleichzeitigkeit als Ideologie. Beiträge zur historischen Forschung, Frankfurt/Main.

Siegelberg, Jens 1994: Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, Hamburg.

Schlichte, Klaus 1996: Krieg und Vergesellschaftung in Afrika. Ein Beitrag zur Theorie des Krieges, Hamburg.

Schmieder, Falko 2017: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Zur Kritik und Aktualität einer Denkfigur, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie, Bd. 4 Nr. 1+2, 325-363.


[1] Als „Denkfigur“ bezeichnet sie Falko Schmieder (2017).

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