Prof. Dr. Ursula Schröder leitet seit 2017 das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Gleichzeitig ist sie Professorin für Politikwissenschaft, insbesondere für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, und lehrt im BA und MA Politikwissenschaft der Universität Hamburg und im Master Peace and Security Studies des IFSH. Sie forscht zum Wandel und zur Verflechtung staatlicher und überstaatlicher Sicherheitsordnungen. 2018 gab sie unter anderem ein Sonderheft der Zeitschrift Cooperation and Conflict zur Dezentrierung der Forschung zu internationalen Interventionen heraus und veröffentlichte den Artikel „Security“ im Oxford Handbook of Governance and Limited Statehood. Das besprochene Werk ging aus ihrer Dissertation am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz hervor.
Oliver Merschel studiert im MA Politikwissenschaft mit einem Studienschwerpunkt in IB-Theorie.
Wie kann es sein, dass zentrale Versprechungen der Politik, für die sich nicht nur ein großer Teil der Gesellschaft, sondern auch Politiker*innen selbst stark machen, letztendlich so häufig im Sande verlaufen oder ihre Umsetzung zumindest als unzureichend und schleppend empfunden wird? Oder auch, dass implementierte Politiken, ob sie nun zufriedenstellend sein mögen oder nicht, häufig wenig mit den hochtrabend formulierten Zielen einer policy zu tun haben? Im öffentlichen und medialen Diskurs wird hier nicht selten die Inkompetenz, Unwilligkeit oder Überforderung einzelner Spitzenpolitiker*innen als Erklärung ins Feld geführt. Auch wenn dies in einzelnen Fällen sicher nicht von der Hand zu weisen ist, kann es als substanzielle Erklärung, zumal aus politikwissenschaftlicher Perspektive, natürlich nicht ausreichen. Ursula Schröder bietet in ihrem Buch The Organization of European Security Governance: Internal and external security in transition eine theoretisch sowie empirisch äußerst reichhaltige Erklärung dieses Phänomens am Beispiel der stockenden Entwicklung einer horizontalen Sicherheitsstruktur der Europäischen Union (EU) an. Demnach sind es im Endeffekt organisatorische Strukturen in Behörden (36) sowie Interpretationen der angestrebten policies durch organisatorische Akteure, die ihren eigenen institutionellen Interessen in die Karten spielen (45), die eine zügige, vollständige und der ursprünglichen Intention folgende Umsetzung von politischen Entscheidungen verhindern.
Bevor ich Schröders Buch kurz zusammenfasse und kritisch würdige, möchte ich es zunächst in die Forschung am Politikwissenschafts-Standort Hamburg einordnen. Das Buch kann als exemplarisch für das konsequente Zusammendenken von zwei in Hamburg stark vertretenen Forschungsfeldern gelten: Zum einen wäre da die EU-Forschung, hier sind neben der Integrationsforschung am Europa-Kolleg Hamburg unter anderem die Arbeiten von wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen an den IB- bzw. Global Governance-Professuren der Universität Hamburg, beispielsweise von Andreas Grimmel und Maren Hofius, sowie der von Antje Wiener mitherausgegebene Sammelband zur European Integration Theory (2018) zu nennen. Zum anderen natürlich der Bereich der Sicherheitsforschung: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) an der Uni Hamburg, die Professur von Anna Geis an der Helmut-Schmidt-Universität mit Schwerpunkt Sicherheitspolitik und Konfliktforschung sowie das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (ISFH) an der Uni Hamburg zu nennen. Das IFSH wird (und damit schließt sich der Kreis) seit 2017 von Ursula Schröder als wissenschaftlicher Direktorin geleitet. Ein aktuelles Forschungsprojekt von Schröder ist erneut an der Schnittstelle zwischen EU-Forschung und Sicherheitspolitik lokalisiert und beschäftigt sich mit Praktiken internationaler Polizeiunterstützung durch die EU und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).[1] Somit fügt sich das im Folgenden besprochene Buch, auch wenn Schröder zum Zeitpunkt der Veröffentlichung an der Freien Universität Berlin beschäftigt war, nicht nur passgenau in die Hamburger EU- und Sicherheitspolitik-Forschung im Allgemeinen ein, sondern kann auch insbesondere als Grundlegung für Schröders aktuelle Forschung am IFSH betrachtet werden.
Nun zum Kern der Sache: Schröders Ausgangspunkt in The Organization of European Security Governance ist die Infragestellung hergebrachter Strukturen und Inhalte der europäischen Sicherheitspolitik nach dem Ende des kalten Krieges und der damit einhergehenden Herausforderung des „westfälischen Systems“ (1f.). Konkret wird im zweiten Kapitel die Relevanz neuer Sicherheitsprobleme, die als „wicked“ umschrieben werden, also äußerst komplex und schwer lösbar sind, diagnostiziert (12). Dadurch, dass diese Probleme (wie beispielsweise Terrorismus oder der Klimawandel) sich nicht nur über Staatsgrenzen hinwegsetzen, sondern auch die traditionelle Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Sicherheit unterminieren, fordern sie etablierte Strukturen der Sicherheitspolitik heraus und machen neue Formen der governance notwendig (13f.). Die Diagnose dieser neuen Bedrohungen wird im weiteren Verlauf des Buches als gegeben angenommen. Zweifelsohne ist diese Diagnose weit verbreitet und sie entspricht, wie Schröder überzeugend darlegt, auch der Situationsbeschreibung der EU-Institutionen.
Im weiteren Verlauf des Buches wird eine reichhaltige und stringente Erklärung der ausbleibenden, oder zumindest nicht ausreichenden, Reaktion der EU auf diese neue Situation entfaltet. Sehr überzeugend ist, dass der Maßstab, an dem die Entwicklung der Sicherheitsarchitektur der EU gemessen wird, vor allem das Ziel von „integrated and horizontally coherent security policies“ (27) mit umfassender, horizontaler Kooperation verschiedener administrativer Einheiten, nicht nur aus abstrakter wissenschaftlicher Expertise, sondern aus den selbstgesteckten Zielen der EU gewonnen wird. Somit hat die Kritik an der fehlenden Umsetzung dieser selbstgesteckten Ziele eine hohe Legitimität und begründet auf organische Weise die Forschungsfrage, wieso gerade die EU sich so schwer mit der Umsetzung dieser strategischen Ziele tut (28). Im dritten Kapitel des Buches wird zunächst ausführlich der ‚organizational turn’ in der Sicherheitsforschung rekonstruiert, wobei sich Schröder nachvollziehbarerweise für die soziologische (im Gegensatz zur rationalistischen) Spielart dieses Erklärungsansatzes (ausbleibender) institutioneller Veränderungen entscheidet (44). Auf einer ausführlichen Betrachtung der einschlägigen Literatur aufbauend, identifiziert Schröder drei verschiedene Mechanismen, die institutionellen Wandel prägen (jeweils basierend auf Regeln, Strukturen bzw. Akteuren in Institutionen). Mit diesem hier nur skizzenhaft beschriebenen theoretischen Rüstzeug ausgestattet, rekonstruiert Schröder im vierten Kapitel detailliert die Genese der EU-Sicherheitsarchitektur mit ihren zahlreichen strategischen Eckpfeilern (insbesondere der „comprehensive approach to security“) und immer zahlreicher werdenden Institutionen, die Kompetenzen in den zunehmend ineinanderfließenden Bereichen der inneren und äußeren Sicherheit anhäufen.
Im fünften und sechsten Kapitel folgen dann die empirischen Fallstudien – am Kampf gegen den Terrorismus sowie am Krisenmanagement in Konfliktzonen der EU wird konkret nachgezeichnet, wie sich die EU-Sicherheitsarchitektur vor allem im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verändert hat. Hierzu greift Schröder auf qualitative Daten zurück; neben zentralen öffentlich zugänglichen Dokumenten hat sie mehr als 30 semi-strukturierte Experteninterviews mit relevanten Akteur*innen in zahlreichen EU-Institutionen sowie mit Beamt*innen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland geführt. In beiden Fällen wird hier eindrücklich die Vermutung bestätigt, dass die EU ihre selbstgesteckten Ziele nicht vollends erreicht hat, insbesondere weil administrative Akteure in den Institutionen die Gelegenheit des Ausbaus und der Neuausrichtung des EU-Sicherheitsapparats genutzt haben, um lange bestehende Eigeninteressen zu verfolgen und ihre Zuständigkeiten zu erweitern (124, 171). Zu Recht betont Schröder damit, dass durch ihren soziologisch-institutionalistischen Ansatz die Divergenz zwischen Entscheidungen auf höchster politischer Ebene und nur inkrementellem Fortschritt im letztendlichen Output in einem Umfang erklärt werden kann, den rationalistisch-institutionalistische oder gar intergouvernementale Ansätze nicht erfassen können (124). Schröders Resümee lautet aber keinesfalls, dass es keine Weiterentwicklung der Sicherheitsarchitektur der EU gab, vielmehr ist die Veränderung und zunehmende Vernetzung der entsprechenden Institutionen allgegenwärtig – jedoch häufig mit dem Resultat von sich überlappenden Kompetenzen und Konflikten zwischen den verschiedenen Institutionen (178); erfolgreiche horizontale Kooperation bleibt hier bisher die Ausnahme (180f.).
Auf den letzten Seiten des Buches (185ff.) zieht Schröder wichtige Konsequenzen aus ihren Ergebnissen. Obwohl sie ihr Buch korrekterweise als größtenteils analytisch geprägt auffasst, wirft ihre Forschung am Ende normative Fragen auf. Schröder identifiziert drei fundamentale Herausforderungen an die EU-Sicherheitsarchitektur, die auch heute noch äußerst relevant erscheinen: Erstens ist das Ineinanderfließen von innerer und äußerer Sicherheit, wie beispielsweise in der Terrorismusbekämpfung zu beobachten, aus normativer Sicht möglicherweise problematisch. Die Unterscheidung von innerer und äußerer Sicherheit ist von prägender Bedeutung für das Verständnis von moderner Staatlichkeit und ihre Unterminierung könnte weitreichende negative Konsequenzen unter anderem für den Schutz der bürgerlichen Rechte und Freiheiten haben. Zweitens nennt Schröder den möglichen trade-off zwischen Effizienz und demokratischer Legitimität sicherheitspolitischer Entscheidungen und Strategien. Diese Sorge speist sich vor allem aus der empirischen Beobachtung, dass viele Akteure der EU-Sicherheitsarchitektur stark informelle Koordination bevorzugen, um grundlegenden Konflikten über die Kompetenzen der verschiedenen Organe aus dem Weg zu gehen. Auch wenn dies aus funktionaler Sicht erfolgversprechend sein mag, wird dadurch natürlich die Transparenz und Zurechenbarkeit von Entscheidungen empfindlich geschwächt. Und drittens bleiben die langfristigen politischen Ziele der EU-Sicherheitspolitik offen. Unter dem Druck von divergierenden Interessen der Mitgliedsstaaten und geprägt von kleinen Gruppen von Beamt*innen und Sicherheitsexpert*innen anstelle von Politiker*innen fokussiert sich die EU-Sicherheitspolitik letztendlich auf viele technische, administrative und rechtliche Vorstöße im Kleinen. Die entscheidenden politischen Debatten, zum Beispiel über den oben genannten möglichen trade-off zwischen Effizienz und Legitimität, bleiben damit auf der Strecke.
Dieser finale Abschnitt des Buches ist nicht nur besonders interessant, weil das Vorgehen der EU auch heute noch in vielen Bereichen – weit über die Sicherheitspolitik hinaus – von ad-hoc Lösungen und muddling through geprägt ist und sich die Frage nach einer wirklich politischen Debatte und Willensbildung auf europäischer Ebene seit Veröffentlichung des Buches noch mehr zu einer der drängendsten Herausforderungen der Gegenwart entwickelt hat. Dieser Abschnitt ist deswegen lehrreich, weil er exemplarisch deutlich macht, dass normative und empirisch-analytische Forschung keinesfalls im unüberbrückbaren Widerspruch zueinander stehen, sondern im Endeffekt viele Parallelen und Verflechtungen aufweisen. Rigorose, selbst-reflexive empirische Forschung stößt an irgendeinem Punkt unweigerlich auf normative Fragen, deren Adressierung und Bearbeitung keinesfalls die wissenschaftliche „Objektivität“ verzerrt, sondern schlichtweg transparent macht, wie Normativität jede Wissenschaft prägt. Und andererseits kann normativ-politiktheoretische Forschung nicht behaupten, unabhängig von der Empirie im luftleeren Raum zu operieren: Sie bezieht sich einerseits (mehr oder weniger direkt) auf faktische oder mögliche politische Realität und ist andererseits in ihrer Entstehung selbst Ergebnis von sozialem und politischem Kontext – was natürlich auch für die empirische Forschung gilt (vgl. Hamati-Ataya 2010).
In diesem Sinne stellt sich abschließend die Frage, in welchem Umfang Schröder auch über die Voraussetzungen und den Entstehungskontext ihrer eigenen Forschung reflektiert. Hier könnte Kritik an Schröders Vorgehen am ehesten an dem Umstand ansetzen, dass die neuen, komplexen Sicherheitsprobleme, die das research puzzle des Buches ermöglichen, als gegeben hingenommen werden: Insbesondere aus konstruktivistischer Sicht muss sich die Frage stellen, welche sozialen Prozesse die Wahrnehmung eines Phänomens als Sicherheitsbedrohung ermöglichen und welche alternativen Problembeschreibungen und Lösungsvorschläge durch eine Versicherheitlichung ausgeschlossen werden. Durch die Diagnose der „’wicked’ security challenges“ (10) bereits auf Ebene der Identifizierung des Forschungsvorhabens kann Schröder diese Dimension im Verlauf des Buches nicht mehr substanziell adressieren. Dies relativiert natürlich nicht die Erklärungskraft der institutionellen Faktoren, die eine Umsetzung der EU-Sicherheitsstrategie hemmen; das Buch wird damit den selbst gesteckten Ansprüchen zweifelsohne gerecht. Allerdings wäre eine ausführlichere Auseinandersetzung mit kritischen Ansätzen der Sicherheitsforschung sowie eine Übertragung des ‚organizational turn’ auf die Ebene der Diagnose von Sicherheitsbedrohungen sicherlich ebenfalls lohnenswert. So ließe sich – ohne den theoretischen Rahmen des Buches grundlegend umstülpen zu müssen – nicht nur die Frage stellen, wie bestimmte institutionelle Akteure und Strukturen die Umsetzung strategischer Reaktionen auf eine unhinterfragte neue Sicherheitslage prägen und hemmen, sondern auch, wie diese Akteure und Strukturen überhaupt erst zu der Entstehung der Diagnose eben dieser Sicherheitslage beitragen.
Literatur
Hamati-Ataya, Inanna (2010). „Knowing and judging in International Relations theory: realism and the reflexive challenge“, Review of International Studies 36 (4), 1079–1101.
Schröder, Ursula C. (2011). The Organization of European Security Governance: Internal and external security in transition. London & New York: Routledge.
Wiener, Antje; Börzel, Tanja A. & Risse, Thomas (eds.) (2018). European Integration Theory. Dritte Auflage, Oxford: Oxford University Press.
[1] Siehe hierzu: https://ifsh.de/forschung/europaeische-sicherheit/multinationale-polizeiunterstuetzung