Eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Politikberatung – Marcel Krone über das Friedensgutachten 2019

Das Friedensgutachten ist seit Jahrzehnten eine der wichtigsten Institutionen deutscher Friedensforschung und wissenschaftlicher Außenpolitikberatung. Eines der herausgebenden Institute ist das Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). In diesem Beitrag rekonstruiert Marcel Krone die zentralen inhaltlichen Schwerpunkte des Friedensgutachtens 2019 und reflektiert über die Gratwanderung zwischen unabhängiger Forschung und intervenierender politischer Beratung.

Marcel Krone studiert im Master Politikwissenschaft am Fachbereich.


Das Friedensgutachten wird von den vier führenden Friedensforschungsinstituten in Deutschland seit 1987 jährlich herausgegeben, namentlich handelt es sich hierbei um das Bonn International Center for Conversion (BICC), das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), das Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und das Institut für Entwicklung und Frieden (INEF). Sinn und Zweck dieses Gutachtens ist es, verschiedene internationale Konfliktsituation zu betrachten, diese aus wissenschaftlicher und vor allem friedensstrategischer Perspektive zu bewerten und abschließend daraus Handlungsempfehlungen für die deutsche bzw. europäische Sicherheitspolitik abzuleiten. Die Themengebiete sind hierbei, innerhalb der sechs großen Kapitel (seit 2018 neues Format: fünf thematisch feststehende Bereiche, plus ein Fokus-Kapitel für aktuelle Konflikte), äußerst vielfältig und beschäftigen sich unter anderem mit der nuklearen Weltordnung, transnationalen Migrationsbewegungen, der Bedeutung von Institutionen für die globale Friedenssicherung und dem Gefahrenpotential vom Hass im Netz.

An fünf dieser Kapitel sind Autorinnen und Autoren aus Hamburg direkt beteiligt. Zudem hat am 4. Juni 2019 die wissenschaftliche Direktorin des IFSH, Prof. Dr. Ursula Schröder, zusammen mit den Leitungen der drei anderen Institute das diesjährige Friedensgutachten auf der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt. Dieser Vorgang ist Teil der jährlichen Veröffentlichung des Gutachtens und ein Grund für seine relativ hohe Medienwirksamkeit. Außerdem wird es anschließend mit den entsprechenden Bundestagsausschüssen (z.B. Auswärtiger Ausschuss, Verteidigung), mit bestimmten Abteilungen von Ministerien (AA, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung etc.) und mit interessierten Arbeitskreisen der Parlamentsparteien oder Vertretern der Friedensbewegung diskutiert; es versteht sich folglich als Instrument der Politikberatung. Über den Herausgeber, dem LIT Verlag Berlin, kann man das Friedensgutachten in einer broschierten Version bestellen, es ist jedoch auch für jeden interessierten Leser als digitale Version kostenlos herunterladbar [1].

Die Politikwissenschaft im Speziellen, vermutlich auf Grund ihrer naturbedingten Nähe zu den wichtigen Themen im politischen Diskurs, führt im Grunde seit Ewigkeiten einen mehr oder weniger stillen Kampf über ihre eigene Rolle und ihr Verhältnis zur Politik. Versteht man sich als ‚objektiver‘ Beobachter der politischen Arena, der sich vor normativen Bewertungen in Acht nimmt oder aber als kritische Stimme, die vom Spielfeldrand ihrem Unmut über das taktische Vorgehen der Spieler unüberhörbar Aufmerksamkeit zu verschaffen sucht? Es besteht natürlich auch die Möglichkeit sich direkt in die zum Teil gnadenlose Unübersichtlichkeit dieser Arena hinab zu begeben und beispielsweise in der Politikberatung das System von innen beeinflussen zu wollen. Diese bei weitem nicht erschöpfende Liste an Positionen zeigt, wie schnell (Politik-)Wissenschaft in einen Glaubenskampf ausarten kann. Dabei sind die Übergänge zwischen diesen Möglichkeiten keinesfalls eindeutig definierbar und von vielen Grauzonen geprägt, die diese Diskussion zusätzlich erschweren.

Aus diesem Grund ist der Ansatz, den das Friedensgutachten im Generellen, aber auch speziell in der 2019er Version, verfolgt, aus der Sicht eines Politikwissenschaftlers bemerkenswert, da hier die eigentliche Intention in keiner Weise versucht wird zu kaschieren: Es ist im Kern eine schonungslose Aufarbeitung insbesondere der deutschen Friedens- und Sicherheitspolitik, die nicht mit Kritik spart und in einigen Teilen gar einer Abrechnung gleicht. Diese Feststellung mag weniger überraschend sein, wenn man sich über die interdisziplinäre Natur der Entstehung dieses Gutachtens im Klaren ist (u.a. Politikwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Geographie, Naturwissenschaft), dennoch ist die teilweise fast herausfordernde Wortwahl ein äußerst erfrischendes, aber auch ungewöhnliches Stilmittel. Bereits in der einleitenden Stellungnahme werden Formulierungen genutzt wie „von der Bundesregierung erwarten wir…“ (7), „Ein Umsteuern ist erforderlich“ (9), „ …muss eine dauerhafte Umkehr von dieser fatalen Politik einleiten“ (10) oder das im Vergleich noch zurückhaltende „die Empfehlung des Friedensgutachtens dazu lautet…“ (11). Die Autorinnen und Autoren dieses Gutachtens positionieren sich nicht als Bittsteller an die Bundesregierung, sondern scheinen gerade aus der Sicherheit ihrer Expertise heraus das Selbstbewusstsein zu besitzen, Forderungen zu stellen. Natürlich ist aber auch das Friedensgutachten an sich, ebenso wie die gesamte Friedensforschung, bereits im Kern ein äußerst normatives Unterfangen, bei dem man sich sicherlich schwer tun würde, keine expliziten Handlungsempfehlungen zu geben. Und so bietet jedes Kapitel, inkl. der Einleitung, zu Beginn eine einseitige Übersicht dieser Empfehlungen, die teilweise nahezu vollständig konträr zum derzeitigen Kurs stehen.

Doch wie genau sehen diese nun aus? Bereits den Titel des Gutachtens „Vorwärts in die Vergangenheit? Frieden braucht Partner“ kann man als bewusste Kritik an den internationalen Entwicklungen der letzten Jahre verstehen. Darauf aufbauend wird im zweiten Satz der einleitenden Stellungnahme fast schon verbittert konstatiert: „Errungenschaften der multilateralen Kooperation, die das friedliche Zusammenleben weltweit sichern halfen, werden Stück für Stück über Bord geworfen.“ (5) Nach Einschätzung der Autorinnen und Autoren ist also die momentane Marschrichtung internationaler Politik rückwärtsgewandt; zurück in eine Zeit des Kalten Krieges als Abschreckungspolitik das Mittel der Wahl war und Diplomatie als Schwäche ausgelegt wurde. Und auch wenn die Bundesregierung nicht direkt Schuld sei an der Degenerierung des internationalen politischen Systems, so sieht das Friedensgutachten Verbesserungspotential in signifikantem Umfang in Bezug auf die deutsche Friedens- und Sicherheitspolitik. Hierbei sollte das das Ziel nicht sein, „eine bloße Rückkehr zur alten Ordnung“ zu forcieren, da viele der aktuellen Probleme zu komplex seien und neue Lösungsansätze erfordern (6).

Das deutsche Verhalten bezüglich der globalen Nuklearordnung zum Beispiel wird vom Gutachten als zu passiv kritisiert und eine stärkere Positionierung in Richtung einer nuklearwaffenfreien Welt gefordert. Gerade in einer Zeit, wo die Vereinigten Staaten unter Donald Trump sich zunehmend als unzuverlässiger und rückwärtsgewandter Partner entpuppen, müsse die Bundesregierung ihre Bemühungen intensivieren, Gespräche und wenn möglich Kooperationen auf der internationalen Bühne zu initiieren; zum einen in Verbund mit den Staaten des Verbotsvertrages, aber auch insbesondere zwischen Nuklearwaffenstaaten wie den USA, Russland und China (26; 42). Errungenschaften wie der INF-Vertrag dürfen nicht einfach alternativlos aufgekündigt werden, denn in der momentanen politischen Lage seien bilaterale Abrüstungsverträge eine der wenigen wirklich gangbaren Optionen (34). Zudem müsse die Möglichkeit geprüft werden, die sogenannte „nukleare Teilhabe“ (26) zu reduzieren, denn Deutschland stehe momentan zu sehr zwischen den Stühlen von Nuklearwaffenstaaten und Verbotsbefürwortern. Dies zeige sich auch durch die Position der Bundesregierung, dass der Nichtverbreitungsvertrag (NVV) und der Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) unvereinbar seien, was dem Gutachten zufolge unbedingt revidiert werden müsse, da das eine langfristig nicht ohne das andere stattfinden könne (39-41).

Auch die direkte Außenpolitik der EU bzw. Deutschlands wird kritisiert, insbesondere im Fall Mali „versuche die EU mit ihrer Stabilisierungspolitik vorwiegend europäische Interessen durchzusetzen“ (8; siehe auch 46). Und diese bestünden darin, den malischen Staat zu stärken, somit das Konfliktpotential in der Region zu senken und mögliche Flüchtlingsbewegungen im Keim zu ersticken. Dass der malische Staat als korrupt und eng verwoben mit „kriminellen und teilweise auch dschihadistischen Gruppen“ (8) gelte, werde dabei absichtlich ignoriert. Vielmehr müsse die Sicherheit der Bevölkerung bei derartigen Vorhaben Priorität besitzen, denn Partnerschaften, die zu Menschenrechtsverletzungen und anderen Gräueln führen, seien nicht nur moralisch inakzeptabel, sondern würden auch langfristig das eigentliche Ziel der Stabilität in den besagten Regionen in Gefahr bringen (62ff.).

Zu einem ähnlichen Urteil gelangt das Gutachten auch in Bezug auf die Migrationspolitik der EU und konstatiert: „Die EU ist kein Vorreiter für humane Flüchtlingspolitik. Im Gegenteil: Sie schottet sich ab und setzt auf problematische Partnerschaften. Die EU hat die tödlichsten Außengrenzen weltweit.“ (9) Vor allem die Entwicklungszusammenarbeit werde zu häufig als Instrument der Migrationskontrolle missbraucht. Insgesamt sei ein Politikwechsel unbedingt vonnöten, der vor allem die Möglichkeiten legaler Migration drastisch ausbaut und somit die tödliche Überfahrt übers Mittelmeer obsolet macht (88).

In Bezug auf Russland empfiehlt das Friedensgutachten einen stärkeren Dialog, insbesondere da seit dem Ukrainekonflikt bewährte Formate der Konfliktregulierung nicht mehr zu funktionieren scheinen (10). Es sei nicht förderlich, die Abschreckungspolitik des Kalten Krieges wiederzubeleben; man müsse vielmehr auf bilaterale oder multilaterale Vereinbarungen setzen, die eine weitere Eskalation dieses Konfliktes verhindern (111). Hierzu sei es notwendig, dass sich die Bundesregierung vor allem innerhalb der EU stärker positioniert und Gespräche mit Russland initiiert. Im Gegensatz hierzu wird im Fall Saudi-Arabiens gefordert, den momentanen Rüstungsexportstopp dauerhaft zu etablieren und die Zusammenarbeit auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren. Es seien „falsche Freundschaftsbekundungen, sie schwächen die internationale regelbasierte Ordnung und letztlich auch die EU.“ (10) Vielmehr solle sich die Bundesregierung für ein Waffenembargo gegen alle Kriegsparteien im Jemen einsetzen und dieser fatalen Politik ein Ende bereiten.

Zudem wird der internationalen Ordnung und den entsprechenden Institutionen, insbesondere der UN, eine destabilisierende Handlungsunfähigkeit attestiert. Dieses Problem könne man nur schwer innerhalb bestehender Strukturen angehen, sondern müsse sich durch strategische Partnerschaften mit Gleichgesinnten zusammentun, um Energien zu bündeln und neue Möglichkeiten zu schaffen. Es sei notwendig, „die liberale Ordnung dort zu schützen, wo es möglich ist, und dort, wo das nicht möglich ist, zumindest das liberale Regelwerk zu erhalten.“ (11) Ein ähnliches Vorgehen wird auch in Bezug auf Hassrede im Netz vorgeschlagen, der man am besten etwas entgegensetzen könne, wenn man auf internationale Partnerschaften setzt. Ziel hierbei wäre es, EU-weite Regulierungen sozialer Medien einzuführen, aber gleichzeitig präventiv durch Bildung der Medienkompetenz und Aufklärungsarbeit solche Extreme im Entstehen zu verhindern (12).

Hieran erkennt man zudem gut die inhaltliche Zweiteilung des Titels, denn nur im ersten Abschnitt („Vorwärts in die Vergangenheit?“) wird explizite Kritik geübt. Der zweite Teil („Frieden braucht Partner“) ist bereits eine Handlungsempfehlung und zieht sich durch das gesamte Gutachten. Er betont, dass Deutschland vor allem in Zusammenarbeit mit anderen Staaten in der Lage sei, eine Rolle in der internationalen Friedenspolitik zu spielen. Dabei dürfen dies jedoch nicht irgendwelche Partner sein, sondern sie müssen die gleichen Werte und Ziele vertreten, damit das eigentliche Ziel nicht korrumpiert wird. Das bedeutet nicht, dass man mit autoritären Regimen keine Dialoge mehr führen darf, jedoch müsse die Bundesregierung intensiver darauf achten, in welcher Form sie dies tue und ob schlussendlich auch die Menschen vor Ort davon profitieren und nicht nur die regierenden Eliten.

Abschließend kann man konstatieren, dass nicht besonders viele Aspekte der deutschen und europäischen Friedenspolitik aus Sicht des Friedensgutachtens in den richtigen Bahnen verlaufen. Die teilweise harsche Kritik wird vermutlich jedoch wenig Einfluss auf die tatsächlichen Entwicklungen der nächsten Jahre haben, dafür sind die Strukturen bereits zu festgefahren. Hier könnte man nun die berechtigte Frage stellen, womit ein Bogen zu der einleitenden Bemerkung dieses Beitrags geschlagen wird, ob es angesichts des ernüchternden Fazits überhaupt etwas bringe, von Seiten der (Politik-) Wissenschaft lauthals Kritik zu üben? Eine gewisse Resignation in dieser Angelegenheit ist vollkommen nachvollziehbar, insbesondere wenn man die nahezu stoische Ignoranz der Regierenden im Fall des Klimawandels und der „Fridays for Future“-Bewegung im Hinterkopf behält. Doch gerade dieser Fall ist ein Paradebeispiel dafür, wie Wissenschaft und Politik in bestimmten Fällen so etwas wie Parallelgesellschaften bilden können. Erst durch das aktive und zum Teil aggressive Herantragen der wissenschaftlichen Ergebnisse an die Politik wurde überhaupt eine Debatte ermöglicht. Und auch wenn diese bis heute noch keine zufriedenstellenden Ergebnisse zu Stande gebracht hat, ist das Thema somit immerhin relevant geworden. Aus diesem Grund stünde es vermutlich der gesamten Wissenschaftsgemeinde gut zu Gesicht, wenn sie ihre Positionen offensiver und hörbarer vertreten würde und das Friedensgutachten 2019 kann man diesbezüglich als guten ersten Schritt verstehen.


[1] Friedensgutachten (2019): 2019 / Vorwärts in die Vergangenheit? Frieden braucht Partner / friedensgutachten. In: https://www.friedensgutachten.de/2019 (25.10.19).

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