Mai 2019 – die Universität Hamburg feiert Jubiläum. 100 Jahre ist es her, dass die Uni gegründet wurde. Doch wann beginnt die Geschichte der Universität wirklich? Im Jahr 1919 löste sich nämlich gleichzeitig das Hamburgische Kolonialinstitut auf. Seit 1908 diente dieses unter anderem zur Ausbildung von Kolonialbeamten und war zentral für die wissenschaftliche Landschaft der Stadt.
Die Räumlichkeiten wurden an die Universität weitergegeben, so dass das ehemalige Kolonialinstitut in das Hauptgebäude und in das heutige Asien-Afrika-Institut überführt wurde. Kritik am Jubiläum spricht sich für eine tiefere Aufarbeitung der kolonialen Geschichte der Universität aus. Was bedeutet es für eine Institution, aus der Kolonialgeschichte Deutschlands entsprungen zu sein?
In einem Interview mit Tania Mancheno, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität am Fachgebiet Kriminologische Sozialforschung bei Prof. Dr. Hentschel und Mitglied der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ wird dieser Frage auf den Grund gegangen.
Das Interview führte Alexa Vaagt, Studentin der Politikwissenschaft am Fachbereich. Das Projekt entstand im Rahmen des Seminars „Einführung in den Journalismus“ bei Prof. Volker Lilienthal, das sich unter anderem mit dem Blog beschäftigte.
Alexa Vaagt (AV): Das Hamburgische Kolonialinstitut wurde 1908 zum Zweck von Forschung und Ausbildung errichtet. Wie wurde damals eine Brücke zwischen Wissenschaft und Kolonialismus geschlagen und worin besteht dieser Zusammenhang heute?
Tania Mancheno (TM): Bevor die Uni gegründet wurde, bestand bereits eine wissenschaftliche Institution, nämlich das Hamburgische Kolonialinstitut. Einige Jahre nach der Gründung des Kolonialinstituts wurde zum ersten Mal demokratisch im Parlament entschieden, dass eine Universität gegründet werden soll. Somit wurde das Institut eigentlich nur umbenannt. Das Jubiläum versucht sich von dieser Institutionsgeschichte zu trennen, indem die Geschichte der Universität anders rekonstruiert und erzählt wird.
Wir bewegen uns in einer modernen oder postmodernen Institution, die von sich behauptet, keine Kolonialgeschichte zu haben oder sogar den Bezug zum Kolonialismus bewusst zu übersehen scheint. Diese politische Amnesie gilt nicht nur für unsere Uni. Mit deiner Frage musste ich an die Geschichte der Vereinten Nationen denken, die genauso auf eine politische Dissidenz gegenüber einer tieferen Aufarbeitung des Kolonialismus entstanden ist. Es lässt sich historisch belegen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg bestimmte Strukturen und Akteure des International Colonial Institute zu den Vereinten Nationen übergelaufen sind.
Kolonialismus ist also nicht nur eine bewusst übersehene Vergangenheit von manchen modernen Institutionen. Kolonialismus ist vielmehr ein Gespenst, dass alle unsere Institutionen, nicht nur in Europa, verfolgt.
AV: Und wie drückt sich so ein Zusammenhang auf der praktisch-wissenschaftlichen Ebene in solchen Institutionen aus?
TM: Die Forschungsinteressen, welche an der Uni verfolgt wurden, waren von Anfang an kolonial geprägt. Auch die Geschichte der einzelnen Fächer sind Beweise für die allgegenwärtige Präsenz von Kolonialismus und dem damit zusammenhängenden Rassismus an der Universität.
Darüber hinaus könnten wir Akteure benennen, die unsere Orientierung auf dem Campus heute noch prägen, wie beispielsweise Edmund-Siemers und Von Melle. Als Hamburgische Kaufmänner des 19. Jahrhunderts haben beide von kolonialen Ausbeutungsprozessen profitiert und die wissenschaftliche Praxis der neu gegründeten Universität geformt. Beide Figuren zeigen, inwiefern ökonomische Macht die epistemische Macht zu bestimmen versucht. Allerdings löst es in mir ein Unbehagen aus, wenn die Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte bedeutet, dass wir die Biographien von weißen, heterosexuellen Männern rekonstruieren. Vielmehr scheint mir eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der Universität für ein Narrativ der Stadt notwendiger und auch fruchtbarer zu sein.
Inwiefern die Uni ein Narrativ der Stadt oder sogar Deutschlands in Gang gesetzt hat, lässt sich gut anhand der Institutions- und der Raumgeschichte rekonstruieren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ein Besuch am Eingangsbereich unseres Nachbarmuseums MARKK, welches bis vor kurzem den problematischen Namen Museum für Völkerkunde trug, zeigt die wirtschaftlichen Netzwerke und persönlichen Verflechtungen, die einerseits das Museum und andererseits die Gründung des Kolonialinstitutes ermöglicht und finanziert haben.
So formten Kolonialinteressen nicht nur Technologien der Ausbeutung in den deutschen Kolonien, wie beispielsweise die Minenindustrien und Plantagen, diese waren gleichzeitig zentral für die Entstehung des Uni-Viertels in Hamburg. Die Rekonstruktion solcher Netzwerke bedeutet die Gewaltgeschichte des Kolonialismus sichtbar zu machen, um die Entmenschlichung von nicht-weißen Menschen, auch heutzutage und in Anlehnung an Frantz Fanon, so verdammt aktuell, entgegenzuwirken.
AV: Was bedeutet das dann für die Studierenden der Universität?
TM: Studierende der Universität Hamburg dürften die Geschichte der Vorlesungen am Hauptgebäude und im Vorlesungssaal des Museums nicht weiterhin ignorieren: Schwarze Menschen wurden aus den ehemaligen Kolonien in den Räumlichkeiten des Museums und des Hauptgebäudes als Exemplare für weiße Studierende in den Seminaren u.a. für Sprachwissenschaften ausgestellt. Diese menschenverachtende Geschichte ist nicht nur Bestandteil des Kolonialinstituts, sondern ein Erbe, das unseren ganzen wissenschaftlichen Betrieb bis heute betrifft.
Neben der Universität profitierten auch Museen und andere moderne Institutionen in dieser Stadt, von Kolonialismus. Wie Prof. Jürgen Zimmerer in seiner Vorlesung zur Geschichte der Uni aufgezeigt hat: Dass das Projekt des Kolonialinstituts, Kolonialbeamte auszubilden, scheiterte, bedeutet keineswegs, dass die Verflechtungen zwischen Kolonialismus und Wissenschaft keine nachhaltige und produktive Wirkung hatten.
AV: Die Zusammenhänge zwischen Kolonialismus und Wissenschaft sind bis heute so präsent und werden gleichzeitig tabuisiert.
1969, also zum 50-jährigen Bestehen der Uni Hamburg hat der damalige ASTA ein Buch publiziert mit dem Titel „Das permanente Kolonialinstitut“. Darin hat der Studierendenausschuss die Kontinuität der kolonialen Praxis an der Universität kritisiert. 2019, 50 Jahre nach der Veröffentlichung, feiert die Uni 100-jähriges Jubiläum. Wie aktuell ist die Kritik heute noch?
TM: Es müsste dieses Jahr eigentlich eine neue Ausgabe dieses Sammelwerkes geben, die erneut die Fragen von damals, mit einer dekolonialen Sprache und Semantik, stellt. In diesem leider nur im Lesesaal der Staatsbibliothek, ohne Ausleihmöglichkeit, vorhandenen Buch wurden kritische Stimmen, die nicht unbedingt innerhalb der Institutionen willkommen sind, aufgenommen. Studierende haben eine Kritik an die Universität, und an das unkritische Jubiläum artikuliert. Diese oppositionelle Haltung von damals wundert mich nicht. Denn je mehr mensch sich mit der Geschichte des Kolonialismus und den postkolonialen Wirkungen auseinandersetzt, desto mehr stellt mensch fest, dass es Widerstand schon immer gab.
AV: Welche kolonialen Kontinuitäten würden Sie heute konkret benennen wollen?
TM: In meinen Seminaren und während meiner Sprechstunde erlebe ich öfter, dass nicht-weiße deutsche und nicht-deutsche Studierende sich über den anhaltenden Rassismus an der Universität zu Recht empören. Sie berichten, dass u.a. das N-Wort immer mal wieder in anderen Seminaren fällt, oder die unterschiedlichen afrikanischen Länder unter Afrika subsumiert werden. Besonders problematisch sind diese Situationen, wenn es keine deutliche pädagogische Korrektur seitens des Lehrpersonals gibt. Es ist sehr schwierig für kritische Studierende die unkritische Haltung gegenüber Kolonialgewalt an der Universität zu entwaffnen. Auch aus diesem Grund brechen einige ihr Studium ab.
Aber die Gewalt gegen Schwarze Menschen an der Universität und in unserer Gesellschaft äußert sich nicht nur in subtilen Formen des Rassismus – also durch Sprache, Blicke und Vorurteile. Die Gewalt findet auch vor unseren Augen auf der Straße, oder besser sogar, auf dem Gelände der Universität statt.
Ich spreche von einem aktuellen Verbrechen, welches unbedingt als kritischer Teil des sogenannten Jubiläums hätte aufgearbeitet werden müssen. Am UKE, ein Krankenhaus, welches zentral für die Landschaft der Universität ist, wurde William Tonou-Mbobda, ein Student, der kontinuierlich von Rassismuserfahrungen an der Universität und in der Stadt betroffen war, von privaten Sicherheitsleuten getötet.[1]
Das UKE hat erst vor ein oder zwei Jahren bei einem internen Inventar menschliche Überreste von damalig versklavten Menschen aus Namibia, Angehörigen der Herero und Nama, gefunden. Die Delegation Namibias, die zu der Zeit vor Ort hier in Hamburg war[2], wollte diese Beweise nicht ohne weiteres mitnehmen. Sie vermuteten zu Recht, dass die Geschichte und das Verbrechen sonst zu schnell in Vergessenheit des UKEs und der Deutschen geriete.
Wir haben also in derselben Uni-Institution zwei gegensätzliche Ereignisse zu markieren: Auf der einen Seite das „Aufräumen“ des Kolonialkellers und auf der anderen Seite die Tötung eines Schwarzen Menschen, der in Kamerun – übrigens eine ehemalige deutsche Kolonie – geboren wurde. Hier wird nicht nur symbolisch klar, inwiefern die Uni Teil einer postkolonialen Geschichte ist, die auf der einen Seite erzählt, die Uni habe nichts mehr mit dem Kolonialinstitut zu tun und sie jedoch gleichzeitig zum aktuellen Schauplatz rassistisch motivierter Gewalt macht.
AV: Ist eine Transformation der Uni Hamburg zu einer dekolonialen Institution möglich, wenn sie aus dem deutschen Kolonialismus entstanden ist? Und wie kann sich ein bewusster Postkolonialismus auf der praktischen Ebene äußern?
TM: Das ist eine schwierige Frage, aber ich glaube es ist immer wichtig, dass wir zwar nicht utopieren, weil das schnell totalitär wirkt, aber zumindest nach Alternativen suchen und das bedeutet auch die Institutionen umzudenken. Ich bin der Meinung, dass bereits eine kritische historische Auseinandersetzung mit diesen Verflechtungen einen Schritt in Richtung Dekolonialisierung beitragen könnte. So könnten Studierende, die hier das Studium aufnehmen, erstmal eine Einführung erhalten, in der klar wird, dass aufgrund ihrer Geschichte diese Universität eine besondere Aufgabe hat, sich kritisch mit Kolonialismus und mit der deutschen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen.
Gleichzeitig könnte das affirmative Jubiläum durch eine notwendige Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus miteinhergehen: Denn die 100 Jahre Uni sind auch 100 Jahre seit dem ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, welches vom deutschen Soldaten an den Menschen im heutigen Namibia verübt wurde.[3] Erinnern muss nicht feiern bedeuten. Deutschland ist dafür weltweit bekannt.
Die dekoloniale Aufgabe der Universität würde also darin bestehen:
Diese ganzen Verflechtungen dann sichtbar zu machen, obwohl sie unsichtbar sind, aber trotzdem unser Dasein prägen.
Ich bin der Meinung, dass eine solche Anerkennung der Geschichte ein anderes Miteinander innerhalb der Universität ermöglichen würde, welches sich dann in einem anderen Miteinander in der Gesellschaft spiegeln könnte.
Literaturempfehlungen:
Apraku, Josephine und Kelly, Natasha 2017: (UN)SICHTBAR #3 Rassismus in Sprache & Bildung. Audio-Dateien. Zugänglich unter: http://www.weiterdenken.de/de/2017/03/15/unsichtbar-3-rassismus-sprache-bildung.
Fanon, Frantz 1964: Racism and Culture. In: Toward the African Revolution. Political Essays. New York: Groove Press, S. 29-44. Zugänglich unter: https://monoskop.org/images/0/05/Fanon_Frantz_Toward_the_African_Revolution_1967.pdf
Mancheno, Tania 2015: All Change, Please! Über die Un-/Möglichkeiten der Dekolonialisierung des öffentlichen Raumes in Hamburg. In: ZAG, Antirassistische Zeitschrift, Bd. 70/2015, S. 25-27. Zugänglich unter: https://uni-hamburg.academia.edu/TaniaMancheno
[1] Siehe die Stellungnahme von der Organisation Schwarze Deutschen und der Black Community Hamburg [https://blackcommunityhamburg.blackblogs.org/aktuelles/].
[2] Anlass hierfür war der zweite transnationale Herero & Nama Kongress: Koloniales Vergessen: Quo Vadis Hamburg?, der im April 2018 an der Universität Hamburg stattfand. Der Kongress erinnert an den Völkermord im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika und forderte eine offizielle Entschädigung seitens der Bundesregierung. Einige der Vorträge können unter https://colonial-amnesia-quovadishh.eu/#videos nachgehört werden. Frau Mancheno nahm in der Podiumsdiskussion des 3. Panels Koloniales Vergessen teil.
[3] In dieser Geschichte spielt Hamburg eine besondere Rolle. Einerseits wurden aus diesem Hafen die Truppen zur Vernichtung der Widerstandskämpfer*innen gegen die deutsche Kolonialbesatzung in Namibia entsandt. Anderseits wird der Befehlshaber am Gelände der Helmut-Schmidt Uni in Jenfeld immer noch gewürdigt.