Siegfried Landshut war der erste Inhaber eines „Lehrstuhls für die Wissenschaft von der Politik“ in Hamburg. Als Landshut in den 1950er-Jahren nach Hamburg kam und die Politikwissenschaft in der Hansestadt aufbaute, hatte er bereits einige prägende biographische Phasen hinter sich. In einer Tour durch die Stationen des Lebens Landshuts, porträtiert Rainer Nicolaysen die erste Phase in Hamburg, die Vertreibung und Jahre im Exil sowie die schließliche Rückkehr. Den hier dokumentierten Vortrag hielt Nicolaysen im Rahmen einer Veranstaltung des Fachbereichs im Mai diesen Jahres unter dem Titel „Siegfried Landshut – Vertreibung, Exil, Rückkehr“.
Rainer Nicolaysen ist Professor für Geschichte an der Universität Hamburg, seit 2010 leitet er die Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte an der Universität. Nicht zuletzt aufgrund seiner Dissertation über das Leben und Werk von Siegfried Landshut ist Nicolaysen der wissenschaftliche Experte für die Biographie und Schriften Landshuts.
Als Siegfried Landshut* (1897-1968) vor gut fünfzig Jahren, im Dezember 1968, in Hamburg starb, hinterließ er ein weit verstreut erschienenes, zum Teil unter widrigsten Lebensumständen entstandenes Werk, das bis heute für die Politische Wissenschaft als ebenso grundlegend wie anregend gelten kann, das aber, sperrig gegenüber jedem mainstream, schon zu Landshuts Lebzeiten nur begrenzt rezipiert wurde und nach seinem Tod weitgehend in Vergessenheit geriet. Bereits in seiner Akademischen Gedächtnisrede auf den früheren Hamburger Kollegen hat Wilhelm Hennis 1969 betont, er wüsste kaum ein Werk eines deutschen Gelehrten zu nennen, dessen Wirksamkeit durch „die Ungunst der Zeit“ so beeinträchtigt worden wäre wie dasjenige Landshuts. Selbst engste Fachkollegen wüssten lediglich, dass Landshut der Herausgeber der Frühschriften von Karl Marx sei und eine ausgezeichnete Tocqueville-Auswahl betreut habe. Knapp dreißig Jahre später, aus dem Rückblick des Jahres 1998, hat Hennis Landshut dann als den wohl Unbekanntesten unter den „Gründervätern“ seines Faches bezeichnet, zugleich aber als den „bedeutendste[n] Kopf“ der ersten Generation der Politikwissenschaft nach 1945.
Trotz einiger medialer Aufmerksamkeit für die 1997 erschienene Biographie über Siegfried Landshut und die zweibändige Auswahlausgabe seiner Schriften 2004 wird Landshut bisweilen auch seither und selbst in einschlägigen Zusammenhängen übergangen: Als sich Jürgen Habermas 2011 auf einer Tagung über „Jüdische Stimmen im Diskurs der sechziger Jahre“ an die Bedeutung (r)emigrierter Philosophen und Sozialwissenschaftler für die politische Kultur der frühen Bundesrepublik wie auch für ihn persönlich erinnerte, nannte er alle zu erwartenden Namen – außer denjenigen Landshuts. Die „Neue Zürcher Zeitung“, die den ansonsten eindrücklichen Habermas-Vortrag unter dem Titel „Grossherzige Remigranten“ in derselben Woche abdruckte, ergänzte dann den Artikel – unbeabsichtigt – um den Vergessenen: Sie illustrierte den Text mit einem Foto vom Deutschen Soziologentag in Heidelberg 1964, das neben Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas auch den in der Bildunterschrift freilich ungenannten Siegfried Landshut zeigt.
An diesem Kongress anlässlich des 100. Geburtstages von Max Weber, der Fachgeschichte schrieb und von Habermas als intellektuelles Großereignis der sechziger Jahre geschildert wird, nahm Landshut als ausgewiesener Kenner des Weber’schen Werkes teil. Schon in seiner „Kritik der Soziologie“ von 1929 räumt er der Auseinandersetzung mit Max Weber einen zentralen Platz ein – ein Buch, das Habermas selbst vor etlichen Jahren als einen der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Beiträge in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik gewürdigt hat. Wenn gerade Landshut in dem Artikel so ungenannt wie unerkannt bleibt, ist dies weder vorsätzlich noch zufällig, sondern symptomatisch für eine schwierige Rezeption, die zumindest teilweise bis heute noch ihre Fortschreibung findet.
Dass es für Landshuts Werk nicht einfach war, sich im fachwissenschaftlichen Diskurs durchzusetzen, hängt vor allem mit zwei Gründen zusammen: zum einen mit dem Bruch, den ein siebzehn Jahre währendes Exil für Landshuts wissenschaftliche Laufbahn bedeutete, in seinem Fall verstärkt noch dadurch, dass er nicht wie viele andere von den Nationalsozialisten vertriebene Sozialwissenschaftler in die USA emigrierte, sondern im nahöstlichen Exil, in Ägypten und Palästina, von wissenschaftlicher Arbeit und entsprechendem Austausch weitgehend abgeschnitten war, und zum anderen mit dem Werk selbst, das auch nach der Remigration in einer sich erst etablierenden westdeutschen Politikwissenschaft eher randständig blieb.
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Siegfried Landshut war Politikwissenschaftler. Wohl so früh und konsequent wie kein anderer Gelehrter in Deutschland hat er die Politische Wissenschaft aus ihrer eigenen, mehr als zweitausendjährigen Tradition heraus wiederzubegründen versucht. Für Landshut war Politik nicht nur eine der ältesten Wissenschaften, sie war für ihn auch die im aristotelischen Sinne königliche Disziplin, diejenige, die die bestimmenden Fragen des menschlichen Miteinanderlebens zum Thema hat und die sich als praktische Wissenschaft an einem Zweck orientiert: am Gemeinwohl, am guten Leben.
Diejenigen, die Landshut kannten, berichten von seiner ruhigen, vornehm-zurückhaltenden Art; zugleich aber konnte seine Argumentation von einer Scharfsinnigkeit und Vehemenz sein, die ihresgleichen sucht. An diesem ungewöhnlich konzessionslosen Wissenschaftler schieden sich die Geister. Zeit seines Lebens bewahrte Landshut sich eine Unabhängigkeit des Denkens, die seine berufliche Situation oftmals erschwerte. Doch scheint gerade aus dieser Unnachgiebigkeit – auch in der über weite Strecken existenzbedrohenden Zeit des Exils – die Kraft zum Überleben und Weiterarbeiten hervorgegangen zu sein.
Siegfried Salomon Landshut wurde 1897 als Sohn einer weitgehend assimilierten deutsch-jüdischen, in Straßburg ansässigen Familie geboren. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, in dessen Anfangstagen er sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, begann Landshut – ernüchtert und geistig ausgehungert im März 1919 aus dem Nahen Osten zurückgekehrt – zunächst mit dem juristischen, dann mit dem nationalökonomischen Studium. Rückblickend erklärte er: „Der letzte 2 ¾-jährige Aufenthalt in Syrien und Mesopotamien bedeutete für mich die eigentlich entscheidende Anregung zur Aufnahme des Studiums, als ich stark beeindruckt von der Fraglichkeit der neuen Lebenssituation nach Deutschland zurückkehrte.“
Die „Fraglichkeit einer Lebenssituation“ markiert den Beginn des Studiums, von dem Landshut eine „Vertiefung des Welt- und Selbstverständnisses“ erwartete. In welcher Lage aber befanden sich die Wissenschaften? Siegfried Landshut hat es in seinem 1931 erschienenen Vortrag über „Max Webers geistesgeschichtliche Bedeutung“ geschildert: Die Entwicklung der Wissenschaften hin zu spezialisierten, scheinbar autonomen Einzeldisziplinen war der Erweiterung des geistigen Blickfeldes nicht eben förderlich, was auch das öffentliche Prestige der Wissenschaften überhaupt immer mehr sinken ließ. Bei Landshut heißt es dazu:
„Diese Tatsache erlebte derjenige im Widerstreit zu seinen eigenen Motiven wissenschaftlicher Arbeit, der in der chaotischen Aufgeregtheit der ersten Nachkriegsjahre, der Aufgebrochenheit und gleichzeitigen Verworrenheit der phantastischsten Möglichkeiten sowohl für das eigene wie für das öffentliche Leben, in der wissenschaftlichen Arbeit, insbesondere aber in den Sozialwissenschaften die Erfüllung unausdrücklicher Erwartungen zu finden glaubte. Damals hielt Max Weber seinen berühmten Vortrag ‚Wissenschaft als Beruf‘, an dessen Schluß er alle bequemen Erwartungen zurückwies, aus der Wissenschaft selbst die sichere Auskunft fertig geliefert zu erhalten, um sozusagen aus einem Programm der Welt ein Maß und eine Richtung zu entnehmen.“
Landshut lagen „bequeme Erwartungen“ fern, und so glaubte er nicht daran, durch ein wie auch immer geartetes „Berechnen“ wirkliche Kenntnis von den Lebensbedingungen erhalten zu können. Deutlich wurde ihm, dass sich Wissenschaftlichkeit, begreift man sie als Lebenshaltung, nicht so sehr durch ihre Resultate als vielmehr durch das Aufbrechen neuer Fragemöglichkeiten kennzeichnen lässt. Die „Fraglichkeit einer Lebenssituation“ war für ihn der Ursprung aller Sozialwissenschaft, ihrer Themen und ihrer Methoden. Die Fraglichkeit der Lebenssituation in der modernen technisch-bürokratischen Welt: Sie ist es, die sein gesamtes Werk durchzieht.
Schon nach fünf Semestern wurde Siegfried Landshut im Dezember 1921 bei Robert Liefmann in Freiburg mit einer Arbeit über den „Homo oeconomicus“ zum Dr. rer. pol. promoviert. Doch das nationalökonomische Studium war für Landshut nur eine Art „Vorstudium“; das „Hauptstudium“, in dem es um den „wirklichen Stand der wissenschaftlichen Situation“ gehen sollte, absolvierte er bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, bei Max Scheler, Karl Jaspers und Alfred Weber. Kein Zweifel, dass ihn die „Phänomenologischen Übungen“ Martin Heideggers wie auch dessen Aristoteles- und Descartes-Interpretationen stark beeindruckten und beeinflussten. Es ist aber bezeichnend, dass Landshut sich nicht von der Person Heideggers mit seiner „diktatorischen Macht über junge Gemüter“ (Karl Löwith) vereinnahmen ließ, sondern dass er versuchte, den Heidegger’schen Ansatz für seine eigenen Fragen nutzbar zu machen.
Auch während der Studienzeit bei Heidegger widmete Landshut sich eigenen Untersuchungen; insbesondere beschäftigte er sich intensiv mit dem Werk Max Webers. Habilitieren wollte er sich bei dessen Bruder Alfred. Im Sommer 1924 zum zweiten Mal nach Heidelberg gekommen, beteiligte er sich an Alfred Webers staatsoziologischen Seminaren und arbeitete an eigenen „historischen Studien über den Bedeutungswandel der politischen Begriffe und der ihnen entsprechenden Sachzusammenhänge“, nun vor allem auch anhand der Schriften Rousseaus. Den Leitfaden seiner Arbeiten bildete die geistesgeschichtliche Aufklärung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft.
„Mehr und mehr“, schrieb Landshut vier Jahre später in seinem Lebenslauf, „hob sich mir nun aus meinen Arbeiten mein eigentliches Arbeitsgebiet heraus: Die Aufdeckung der tatsächlich wirksamen Motive, die die Ordnungen des Miteinanderlebens beherrschen, und ihrer geschichtlichen Voraussetzungen, mit dem Hinblick, aus ihrer Aufklärung einen Zugang zur heutigen Problematik in einem genügend weit gelegten Horizont zu gewinnen.“
Damit ist das Landshut’sche Zentralthema umrissen. Erstes publiziertes Ergebnis seiner Studien ist der 1925 erschienene Aufsatz „Über einige Grundbegriffe der Politik“, nach Wilhelm Hennis „der eigentliche Neubeginn einer wissenschaftlichen Politik in Deutschland“. Der Aufsatz, ein dichter Text wohlerwogener Sätze, wie es auch später für den im Schreiben sparsamen Gelehrten typisch sein sollte, zeigt, dass Landshut bereits in dieser Zeit das zentrale Problem, um das sein gesamtes Werk kreisen wird, deutlich war: der voranschreitende Verlust des Politischen in der modernen Gesellschaft.
Die gegenwärtige Problematik konnte nur vor dem breitesten geschichtlichen und geistesgeschichtlichen Hintergrund verständlich werden. In seinen Analysen des Rationalen Naturrechts von Descartes und Hobbes bis zu Rousseau – begonnen im großen Aufsatz von 1925, fortgeführt in seinem Buch „Kritik der Soziologie“ 1929, angereichert in etlichen späteren Vorlesungen – verdeutlichte Landshut den radikalen Bruch mit dem politischen Denken, wie es aus der Antike, von Platon und Aristoteles bis noch ins 17. Jahrhundert überkommen war. Er zeigte, wie sich das moderne, technische Denken durchgesetzt hatte, wonach die Menschen im Naturstand als isolierte Einzelne aufgefasst werden, zwischen denen Bindungen – durch Übereinkünfte und Verträge – überhaupt erst hergestellt werden müssen. Welche Art menschlicher Bindung, welche Art von Mitmenschlichkeit war möglich in einer Gesellschaft der Gleichen, in der sich die alten Abhängigkeiten und Zusammengehörigkeiten aufgelöst hatten? Rousseau, noch unter den Bedingungen des Ancien Régime lebend, hatte diese Problematik erkannt; der „Contrat social“ war ein Versuch ihrer Lösung. Durch eine rationale Methode, eben mit Hilfe eines alle in gleicher Weise verpflichtenden Vertrages, glaubte er eine Bindung zwischen den Menschen herstellen, eine Einheit stiften zu können. Entgegen einer solchen in der Denktradition des Rationalen Naturrechts stehenden Auffassung betonte Landshut, dass es eine Einheit gebe, die nicht von außen an die Menschen herangetragen werden müsse, sondern schon in ihnen selbst begründet sei.
Dass der Mensch ein Zoon politikon sei, ist für Landshut eine unabänderliche Tatsache, eben das dem Menschen Wesenhafte. Doch das Bewusstsein darüber sah er mehr und mehr schwinden. Im modernen Politikverständnis kommt es kaum noch vor. Die Entwicklung, die dorthin geführt hat, versucht Landshut zu analysieren. Er konstatiert eine Veränderung des Denkens, wie sie im Rationalen Naturrecht zum Ausdruck kommt, und eine Radikalisierung der dort angelegten Gedanken in der Französischen Revolution. Das Zusammenwirken zunehmender Gleichheit und fortschreitender Verwaltungszentralisation bedroht nun die Freiheit des Menschen. Der grundsätzlichen Unverbundenheit der gleichen Einzelnen entspricht die expansive Tendenz des unpersönlichen Verwaltungsapparats, der eine Ordnung herstellen soll. Der vormals einheitliche, mit „Politik“ bezeichnete Lebensbereich zerfällt in die Gesellschaft, die unverbundenen Einzelnen, einerseits, und den Staat, das System der das Verhalten dieser Einzelnen regelnden Gesetze andererseits. Das „entscheidungslose Miteinanderleben“, so Landshut, gerate in den Vollzug der Eigenbewegung der „aus der Bezogenheit auf das menschliche Dasein abgelösten Institutionen“.
In diese Aussagen mündeten Landshuts bis dahin durchgeführten Studien; aus ihnen entsprang zugleich das „Programm“ für seine weiteren Arbeiten: die derart aufgezeigte Grundproblematik der modernen Lebenssituation deutlich zu machen. Er verstand sich dabei als Vertreter der „Politik“, jener traditionsreichen Disziplin, die aber weder im öffentlichen Bewusstsein noch an den Universitäten existierte. Der Zweiteilung des vormals mit dem Begriff der Politik angezeigten Lebensbereichs in die Gesellschaft und den Staat entsprach das Auseinanderfallen der früher einheitlichen Politik in verschiedene Wissenschaften, die Ökonomie und Soziologie einerseits, das juristische Staatsrecht andererseits. Das Wort Politik selbst hatte aufgehört, eine Wissenschaft zu bezeichnen.
Landshut war dennoch entschlossen, seinen Weg fortzusetzen. Zu der von ihm geplanten politikwissenschaftlichen Habilitation bei Alfred Weber kam es jedoch nicht. Obwohl Weber von der Qualität des „Politik-Aufsatzes“ überzeugt war, musste Landshut die Hoffnung, sich bei ihm in Heidelberg zu habilitieren, aufgeben. Er selbst schrieb dazu: „Absicht der Habilitation bei Alfred Weber. Schwierigkeiten wegen der Habilitation eines zweiten jüdischen Privatdozenten im selben Fach (neben Karl Mannheim).“
Auf Empfehlung Webers wechselte der 28-jährige Landshut im September 1925 nach Hamburg, an das von Albrecht Mendelssohn Bartholdy geleitete „Institut für Auswärtige Politik“, das erste Institut in Deutschland und eines der ersten in der Welt zur Erforschung von Friedensbedingungen. Aus der dortigen Zusammenarbeit erwuchs die Freundschaft mit Hans von Dohnányi, der schon im Dezember 1925 in einem Brief an seine Frau Landshuts Fähigkeiten preist und von dessen Absicht berichtet, sich in Hamburg für „Politik“ zu habilitieren. Zu Recht nennt Dohnányi dies einen „kühnen Plan“, schwamm Landshut damit doch nicht nur gegen den Strom moderner Wissenschaftsauffassung, sondern auch gegen den Strom institutioneller und bürokratischer Gepflogenheiten.
Im Sommer 1927 wurde Landshut Assistent des Sozialökonomen Eduard Heimann und damit Mitglied der Hamburgischen Universität. Heimann selbst hatte ihn als „einen Gelehrten von großer Kraft des Denkens und starkem wissenschaftlichem Ethos“ für diese halbe Stelle vorgeschlagen. Im Jahr darauf reichte Landshut seine Studie „Untersuchungen über die ursprüngliche Fragestellung zur sozialen und politischen Problematik“ ein und bat als erster deutscher Wissenschaftler im 20. Jahrhundert um Zulassung zur Habilitation für „das Fach der Politik“.
„Den verlorenen Zusammenhang mit dem Grundproblem, d. h. mit dem Leben wiederzugewinnen, das ist ihre Leidenschaft und ihr Ethos“, schrieb Heimann über die Arbeit. Sein positives Gutachten blieb allerdings ohne Wirkung; die Annahme scheiterte am Veto des Soziologen Andreas Walther, wobei fachliche Konkurrenz wie antisemitische Ressentiments eine Rolle spielten. Im Jahre 1929 erschien die Schrift unter dem unglücklichen, vom Verlag bestimmten Titel „Kritik der Soziologie“. Neben Karl Mannheims „Ideologie und Utopie“ avancierte Landshuts kontrovers diskutierte Studie zu einem der wichtigsten sozialwissenschaftlichen Beiträge in der Endphase der Weimarer Republik.
Indem Landshut der Sozialwissenschaft seiner Zeit attestiert, dass sie die Verbindung zu der ursprünglich ihren ganzen Frageansatz motivierenden Problematik der Wirklichkeit verloren habe, leistet er in seiner Studie eine grundsätzliche Methodenkritik. Die Fragen einer richtig verstandenen Sozialwissenschaft, sei sie Soziologie oder Politik, müssten sich, so Landshut, doch aus der menschlichen Praxis bilden. Was er demgegenüber bei allen wichtigen soziologischen Fachvertretern vorfand, war aber das Streben nach Grundbegriffen einer „reinen“, also einer „von Wirklichkeitscharakteren gesäuberten“ Soziologie. Es zeige sich eine starke Neigung zur Quantifizierung und Berechenbarkeit von Ergebnissen, zur Aufstellung von Regeln und Gesetzen, zur Degradierung der Wirklichkeit als „bloßen Rohstoff für Abstraktionen“. Die Wirklichkeit werde als bloßes „Tatsachenmaterial“ angesehen, das es zu bearbeiten und zu rubrizieren gelte. Die eigene Verstricktheit in die Wirklichkeit, d. h. in deren Fraglichkeit, werde aber gar nicht mehr wahrgenommen. Landshut beschreibt die Lage einer mit Gesetzen und Modellen operierenden menschenfernen Soziologie, die die Wirklichkeit zum „irrelevanten Gegenstand einer Analyse“ erklärt, ihre Ursprungsproblematik verloren und auf diese Weise den Blick auf die bestimmenden Fragen des Lebens – und zwar vor der Disjunktion in Staat und Gesellschaft – ganz und gar verstellt hatte.
Die letzten Jahre der Weimarer Republik waren für Landshut von immenser Arbeitsintensität geprägt. Neben seiner halben Assistentenstelle an der Universität, seinen Vorbereitungen für eine zweite Habilitationsschrift und seiner in mehrere Publikationen mündenden sonstigen Forschungsarbeit war er jahrelang in der Erwachsenenbildung tätig. Diese Tätigkeiten waren auch notwendig, um den Lebensunterhalt der vier-, dann fünfköpfigen Familie zu gewährleisten. Im Jahre 1921 hatte Landshut die aus einer Hamburger jüdischen Familie stammende Edith Heß geheiratet. Die drei Kinder Susanne, Arnold und Thomas wurden in den Jahren 1922, 1925 und 1930 geboren.
Im Freien Bildungswesen Altona und in der Hamburger Volkshochschule bot Landshut nicht nur Kurse über Rousseau und Marx an, sondern auch zu Themen wie „Gesellschaft und Staat“, „Demokratische Wirklichkeit“ oder „Politik und persönliches Leben“. Im Winterhalbjahr 1930/31 leitete Landshut eine Arbeitsgemeinschaft zum Thema „Praktische Anleitung zum selbständigen Arbeiten“, deren Untertitel „Wie lese ich?“ lautete. In einer „Arbeitsgemeinschaft zur Klärung alltäglicher Begriffe und Redensarten“ behandelte er 1929/30 u. a. die Frage: „Was heißt unpolitisch, überparteilich, reaktionär, radikal, konservativ?“ Beschäftige man sich in der Erwachsenenbildung etwa mit dem Thema „Presse“, schrieb Landshut 1929, so dürfe es nicht vornehmlich darum gehen, den Aufbau des Pressewesens nachzuvollziehen, sondern darum, sich selbst als Zeitungslesenden zu verstehen. „Der Weg der Gewinnung der eigenen Wirklichkeit, der Möglichkeit, mit sich selbst etwas anzufangen aus eigener Aktivität“, müsse die Richtschnur der Bildungsbestrebungen sein. In einer spannungsgeladenen Krisenzeit, in der sich die Gegner der Weimarer Demokratie zunehmend durchsetzten, versuchte Landshut, die Grundlage für selbstständige Orientierung, bewusste Informationsauswahl und wohlüberlegte Meinungsbildung zu vermitteln.
Regelrecht Aufsehen erregte Siegfried Landshut im Jahre 1932 durch die von ihm – gemeinsam mit Jacob Peter Mayer – vorgelegte Ausgabe der Frühschriften von Karl Marx. Vor allem die erstmalige Veröffentlichung der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte aus dem Jahre 1844“ war eine Sensation und bedeutete eine tiefe Zäsur für die Marx-Forschung. Auf dieser Basis hat Landshut den „ganzen Marx“ zu interpretieren versucht und dabei die philosophischen Frühschriften und die späteren ökonomischen Schriften als Einheit erkannt. Er zeigte, dass der Ursprung des Marx’schen Interesses für ökonomische Probleme ein ethisch-politischer gewesen und Marxens Wirken überhaupt nur vor dem Hintergrund abendländischer Überlieferung zu verstehen sei. Unter den Analytikern der modernen Gesellschaft nahm Karl Marx für Landshut eine Sonderstellung ein. Seiner Ansicht nach hatte Marx im Begriff der Selbstentfremdung des Menschen das Urphänomen des Zeitalters in einem Umfang und in einer Tiefe erfasst, wie es sonst nur Max Weber gelungen war. Michael Th. Greven hat Landshuts Einleitung zu den Frühschriften später als „Gründungsdokument eines westlichen humanistischen Marxismus“ bezeichnet – „gegen den Materialismus und das ökonomische Gesetzesdenken des ‚Historischen Materialismus‘ des Marxismus-Leninismus“.
Beeindruckt von Marxens unerschöpflichem Arbeitseinsatz, fasziniert von der Leidenschaft seines Gemüts, schreibt Landshut: „Nur wer niemals einen Hauch davon erfahren hat, was die Leidenschaft der Erkenntnis, der Wille des Geistes vermag, kann in dem von Studien völlig verzehrten Marx einen weltfremden Stubenhocker und Bücherwurm erblicken.“ Diese Passage aus Landshuts 1932 veröffentlichter Marx-Biographie liest sich wie eine Selbstauskunft. Gleiches mag auch für den noch 1933 publizierten Text „Karl Marx. Ein Leben für eine Idee!“ gelten, in dem Landshut die ewige Verbannung, Heimatlosigkeit, Isolierung und Not Marxens akzentuiert – Bemerkungen, die im Rückblick wie eine Ahnung des Kommenden erscheinen.
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten brach die Marx-Rezeption abrupt ab; abgebrochen wurde im Jahre 1933 auch Landshuts zweiter Versuch, sich an der Hamburgischen Universität zu habilitieren. Nach seinem Scheitern im Jahre 1928 hatte er eine neue Habilitationsschrift verfasst, die dieses Mal im Fach Nationalökonomie eingereicht werden sollte, dennoch aber dem aristotelischen Politikverständnis verpflichtet blieb. In ihr legte Landshut dar, wie sich die Ökonomie aus dem vormals Ganzen der Politik herausgelöst hatte. Dem antiken Begriff der Ökonomik, in dessen Zentrum der Mensch selber gestanden hatte, stellte er die moderne Ökonomie mit ihrem Mechanismus des Marktzusammenhangs, der dem Menschen nunmehr die Rolle eines ohnmächtigen Objekts zugewiesen hatte. Diese Schrift, überhastet abgeschlossen und am 21. Januar 1933 eingereicht, wurde zwar im Februar noch angenommen, doch zur Probevorlesung kam es nicht mehr. Im Mai erhielt Landshut Nachricht von Curt Eisfeld, dem Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, dass „mit Rücksicht auf die veränderten Verhältnisse“, so die lakonische Formulierung, von der Weiterverfolgung seines Habilitationsverfahrens abzusehen sei; kurz darauf verlor er als sogenannter „Nichtarier“ auch seine Assistentenstelle.
Die Einfügung der Universität ins nationalsozialistische Herrschaftssystem vollzog sich auch in Hamburg zügig und erschreckend problemlos. Die bald einsetzende Flut von Entlassungen der häufig langjährigen Kollegen wurde ohne öffentlichen Protest hingenommen, zuweilen auch als Verbesserung eigener Karrierechancen begrüßt. Im Universitätssenat wurden die Entlassungen von Kollegen bekannt gegeben, die gerade selbst noch diesem Gremium angehört hatten. Aber keine Bedenken artikulierten sich.
Für Siegfried Landshut bedeutete die Vertreibung den Abbruch menschlicher Beziehungen und wissenschaftlicher Arbeitsprozesse, wie er radikaler nicht sein konnte. Im Exil gelangte er – und mit ihm seine Frau und seine drei Kinder – an die Grenze des psychisch und physisch Aushaltbaren. In mehr als siebzehn Jahren wurde aus diesem Exil keine Emigration. Ob in Ägypten (1933-1936), Palästina (1936-1945), wiederum Ägypten (1945-1948) oder Großbritannien (1948-1950/51): Bestimmendes Moment für die gesamte Zeit des Exils blieb die Entwurzelung. „Ich weiß nicht, ob Sie sich eine Vorstellung davon machen können“, schrieb Landshut 1933 aus Kairo an die befreundete Familie Dohnányi, „welch Grad von Isoliertheit und Verlorenheit menschenmöglich ist.“
In einem vom 5. Oktober 1933 datierten Brief an den in Rostock lehrenden einstigen Hamburger Kollegen Fritz Schalk heißt es:
„Lieber Schalk, obwohl ich mich über Ihren Brief sehr gefreut hatte und ebenso über Ihre Karte, war ich doch nicht jeden Tag in der Verfassung, Ihnen zu schreiben. So sehr mir daran liegt, die alten Freundschaften nicht verrosten zu lassen, ja mich innerlich mehr daran klammere als unter anderen Lebensumständen, so sehr versagt mir oft das Wort, wenn ich in Not bin, über der eigenen, persönlichen Lage zu vergessen, dass sie der Anteil ist, den ich an einem allgemeinen Weltschicksal habe. Sie können es sich wohl denken, dass es nicht leicht ist, herausgerissen aus der vertrauten Welt, von der ich wohl aufrichtig sagen kann, dass es meine war, und ausgeliefert an eine Umgebung und an Umstände, die mir äusserst fremd, ja feindlich sind, die Besinnung und die Contenance zu bewahren, vor allem wenn die Sorge um Frau und Kinder alles erschwert und bitter macht.“
Nachdem sich eine ihm versprochene Anstellung in Ägypten nicht realisiert hatte, geriet der dortige Aufenthalt mehr und mehr zum Alptraum. Über seinen täglichen Existenzkampf berichtete Landshut 1934 dem im New Yorker Exil lebenden Eduard Heimann:
„Ich selbst habe eine sehr, sehr schlimme Zeit hinter mir, und was uns noch beschieden ist, ist bedrohlich ungewiß. […] Meine Familie ist hier, die Beziehungen zu Europa und den Anschluß an die allgemeine Hilfsaktion habe ich versäumt, und hier haben sich alle Versprechungen als leerer Wahn erwiesen. Ich muß darauf verzichten, all die demütigenden Details und entsetzlichen Situationen zu verzeichnen, durch die ich schon hindurch bin. Ich werde mich aber nicht mehr lange halten können. Die seelische Spannkraft und auch die körperliche Leistungsfähigkeit gehen allmählich zur Neige.“
Nur dem unablässigen Engagement Heimanns und dem Zusammenwirken mehrerer akademischer Institutionen und Hilfsorganisationen war es zu danken, dass „ein unausdenkbares Unheil“ vermieden werden konnte. Nach drei zermürbenden Jahren in Kairo, in denen wissenschaftliche Arbeit kaum möglich gewesen war, erhielt Landshut im Sommer 1936 eine vornehmlich von der Rockefeller Foundation finanzierte, auf zwei Jahre befristete Stelle als Research Fellow an der Hebräischen Universität in Jerusalem. In dieser Zeit begann Landshut mit seiner Kibbuz-Forschung und lernte so intensiv hebräisch, dass er schließlich Vorlesungen über Max Weber in dieser Sprache zu halten vermochte. Nach Ablauf der zwei Jahre stand die Familie aber wiederum vor dem Nichts. Auch in Palästina begann nun ein Leben am Rande des Existenzminimums. Mit mäßig dotierten Forschungsaufträgen und kleineren Gelegenheitsarbeiten konnte Landshut sich gerade über Wasser halten.
Unter schwierigsten Bedingungen versuchte Landshut, seine Forschungen fortzusetzen. Die zwischen 1936 und 1941 entstandene, 1944 in hebräischer Sprache erschienene Untersuchung über „Die Gemeinschafts-Siedlung in Palästina“ wurde zwar etwa von Martin Buber sogleich gewürdigt und mit dem Arthur-Ruppin-Preis ausgezeichnet, ansonsten im Palästina jener Zeit aber weitgehend ablehnend aufgenommen oder gleich ganz ignoriert. In ihr untersucht Landshut die Möglichkeiten des Kibbuz als einer Gemeinschaft freiwillig zusammengekommener, einer gemeinsamen Idee verpflichteter Menschen, um festzustellen, dass es etwas wahrhaft Verbindendes auch hier nicht gab, dass die ökonomischen Ziele eindeutig Vorrang hatten vor einer gemeinsamen Idee der Lebensführung.
Diese wie üblich von grundsätzlichen Erwägungen geleitete Kritik rüttelte an einem Eckpfeiler der zionistischen Bewegung – und dies in einer ohnehin äußerst spannungsgeladenen Situation. Der derart nonkonformistische Landshut vermochte in Palästina nicht Fuß zu fassen; seine Arbeit über den Kibbuz stellt aber noch heute einen bedeutenden Forschungsbeitrag zur Geschichte der Kibbuz-Bewegung wie des Zionismus überhaupt dar. Im Jahre 2000, 56 Jahre nach der Erstveröffentlichung, erschien in Israel eine hebräische Neuauflage.
Nach fünf Jahre währendem Aufenthalt äußerte Landshut sich enttäuscht über die Verhältnisse in Palästina, über „die hiesige Indifferenz und Interesselosigkeit an allen Fragen, die über das Leben von der Hand in den Mund hinausgehen“. „Den eigenen Trieb zur Betätigung“ sah er „in völliger Isolierung“ gehalten. Dies änderte sich erst, als er im Jahre 1942 Leiter der deutschsprachigen Abteilung des Britischen Mittelmeersenders in Jerusalem wurde. Von 1945 bis 1948 zeichnete er dann für die Re-education von etwa 100.000 deutschen Kriegsgefangenen in Ägypten verantwortlich. Nach Beendigung dieser Aufgabe siedelte Landshut nach London über, wo er abermals einen befristeten Forschungsauftrag erhielt.
Trotz starker Zweifel kehrte Siegfried Landshut schließlich nach Deutschland zurück, und zwar an jene Universität, von der er vertrieben worden war. Reibungslos verlief diese Remigration keineswegs. So teilte die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät auf Anfrage der britischen Militärregierung im Sommer 1946 mit, dass es für Landshut „keine Verwendungsmöglichkeit“ gebe; und 1948, als erneut ein Kontakt zwischen der Universität und ihrem vertriebenen Gelehrten von außen hergestellt worden war, forderte ausgerechnet Curt Eisfeld, wiederum im Amte des Dekans, Nachweise über Landshuts wissenschaftliche Qualifikation, obwohl doch gerade er am besten wusste, woran dessen Habilitation im Jahre 1933 gescheitert war.
Landshut selbst war, wie er dem in die Türkei emigrierten Kollegen Alexander Rüstow im April 1946 geschrieben hatte, „gegen eine Rückkehr nach Deutschland sehr skeptisch“. Nachdem aber alle seine Bewerbungen jener ersten Nachkriegsjahre erfolglos geblieben waren, erschien die Rückkehr als einzige Möglichkeit, wieder eine wissenschaftliche Arbeit aufzunehmen. Im Februar 1950 kehrte Landshut für zwei Gastvorlesungen erstmals nach Hamburg zurück.
Nach Überwindung etlicher Schwierigkeiten erhielt Siegfried Landshut im Jahre 1951 den neu eingerichteten Hamburger Lehrstuhl für die „Wissenschaft von der Politik“, einen der ersten in der Bundesrepublik. Vierzehn Jahre lang, bis zu seiner Emeritierung 1965, vertrat Landshut die Politikwissenschaft in Hamburg. Von 1952 bis 1959 hatte er zudem einen Lehrauftrag an der Akademie für Gemeinwirtschaft, der späteren Hochschule für Wirtschaft und Politik, inne. Auch nach seiner Emeritierung setzte er die Lehre in beschränktem Umfang fort, bis zu seinem Tod Ende 1968.
Mit seinem unabhängigen Denken, mit seiner Wissenschaftsdisziplin und nicht zuletzt aufgrund seiner das Tabu des Verschweigens bedrohenden Vertreibungsgeschichte stieß Landshut allerdings auf erhebliche Abwehr bei Kollegen. Das Versagen der Universitäten 1933 war fatal; die Versäumnisse der Nachkriegszeit sind beschämend. Wer als Remigrant nicht erneut ausgegrenzt werden wollte, schwieg besser von erzwungener Vertreibung, schwierigem Exil, ermordeten Familienangehörigen und Fremdheitsgefühlen in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Stets blieb die Integration des Remigranten Landshut eine gefährdete.
Siegfried Landshut hatte an der Etablierung der Politischen Wissenschaft in der Bundesrepublik, dieser an den Universitäten mit Skepsis, wenn nicht gar mit offener Ablehnung aufgenommenen Disziplin, maßgeblichen Anteil. Nicht nur, dass er einen der ersten Lehrstühle für Politik innehatte, als langjähriges Vorstandsmitglied der „Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik“, zeitweise auch als deren Vorsitzender, engagierte er sich in besonderer Weise für die Anerkennung und Profilierung des Faches im In- und Ausland. Im Gegensatz zu der verbreiteten Ansicht, es handele sich um eine neue, in Deutschland erst nach 1945 „importierte“ Wissenschaft, betonte er allerdings erneut, dass Politik eine der ältesten Disziplinen überhaupt sei. „Der Begriff Politik“, schrieb Landshut, „ist ja nicht von gestern. Er ist neben Physik, Metaphysik und Ethik einer der ältesten Begriffe einer Wissenschaft, der Wissenschaft von der Polis, der politischen Gemeinschaft, der res publica.“
In den 1950er Jahren trat Landshut insbesondere als Marx- und Tocqueville-Forscher hervor. Im Jahre 1953 legte er eine neue, nun von ihm allein verantwortete Ausgabe Marx’scher Frühschriften vor und machte zudem durch die Weiterführung seiner unmarxistischen Marx-Interpretation erneut auf sich aufmerksam. An dem Aufsatz „Die Gegenwart im Lichte der Marxschen Lehre“ von 1956 schieden sich – wie gewöhnlich bei Landshuts Texten – die Geister; Hannah Arendt galt er als „einer der wichtigsten neueren Beiträge zur Marx-Interpretation“.
Die von Landshut 1954 veröffentlichte – auch von ihm übersetzte – Auswahlausgabe der Schriften Alexis de Tocquevilles trug maßgeblich zur „Tocqueville-Renaissance“ jener Jahre bei. Über die bis dahin in Deutschland kaum erfolgte Rezeption dieses für Landshut „bedeutendsten Interpreten der modernen Demokratie“ schrieb er: „Es hieße einen längeren Kommentar zur Verkümmerung der politischen Wissenschaft, eine Art Erblindung gegenüber dem ganzen Bereich des Politischen in Deutschland nach der Mitte des 19. Jahrhunderts schreiben, wollte man die Gründe dieser eigenartigen Interesselosigkeit darzulegen versuchen.“
Als akademischer Lehrer ging es Landshut auch nach der Remigration darum, die aktuelle Realität des Politischen im Lichte ihrer Genese zu analysieren und diese Zusammenhänge pädagogisch-aufklärend zu vermitteln. Das betraf nicht nur seine Lehre an der Universität Hamburg und an der Akademie für Gemeinwirtschaft, sondern auch Vortrags- und Diskussionszusammenhänge in Jugendorganisationen, Studentenwohnheimen, Bildungsstätten und Gewerkschaften sowie mitunter auch in Sendungen des Rundfunks und des jungen Fernsehens. Landshuts erzieherisches Credo galt in den 1950er Jahren wie schon am Ende der Weimarer Republik: Nach eigener Aussage kam es ihm darauf an, über bestehende Widersprüche nicht „ein Tuch des Stillschweigens“ auszubreiten, um die bestehende Ordnung „wie ein Paradies“ darzustellen: „Wenn der Lehrer sich keinen Illusionen hingibt“, schrieb Landshut 1957, „dann wird auch der Heranwachsende das allergrößte Vertrauen fassen, weil er sieht, daß er in eine Realität eingeführt wird. Das ist, wie ich aus eigener Erfahrung gesehen habe, das Zugkräftigste, was es überhaupt gibt. Alles andere kann nur falsches Pathos sein.“
Siegfried Landshuts Vorlesungen und Seminare waren für viele Studierende ein über die Studienzeit hinaus prägendes Erlebnis. Auf die akademische Lehre legte Landshut besonderen Wert. Den Studiengang Politikwissenschaft an der Universität Hamburg baute er allein auf; über ein Jahrzehnt lang war er der einzige Lehrstuhlinhaber in diesem Fach. Wenn Landshut seine Vorlesungen hielt, hinterließ er bei seinen Zuhörern das Gefühl, „die frischeste Denkleistung“ habe das Vorgetragene zu Tage gefördert, auch wenn es um Themen und Begriffe ging, die ihn ein Leben lang beschäftigt hatten. In seinen Vorlesungen sprach Landshut grundsätzlich frei. Wie intensiv er seine Vorträge aber vorbereitete, wie sorgfältig er seine Formulierungen wählte, zeigen seine handschriftlichen Vorlesungsentwürfe. Die Präzision der Sprache entsprach der Klarheit seiner Analyse. Mochte die Bestimmtheit, mit der er vortrug, auch groß gewesen sein, so stand doch immer im Mittelpunkt, das selbstständige Denken seiner Studierenden anzuregen.
Es war deutlich, dass Landshut das Politik-Studium nicht als stringente Berufsausbildung auffasste, sondern dass er eine Bildungsgrundlage für das zukünftige Leben schaffen wollte. Zum Verdruss mancher Kollegen kam es ihm bei Examina dementsprechend nicht so sehr auf das Faktenwissen an, als vielmehr auf die „innere Haltung“ des Prüflings, auf dessen Ernsthaftigkeit und Begeisterung für wissenschaftliche Fragestellungen.
In Landshuts Forschung und Vermittlung standen immer wieder akribische Untersuchungen zu zentralen politischen Begriffen im Vordergrund, die seiner Meinung nach im alltäglichen Sprachgebrauch, häufig aber auch in der Politikwissenschaft selbst unreflektiert und ahistorisch verwendet wurden. In größeren Aufsätzen befasste er sich in den 1950er und 1960er Jahren ausführlich mit den Themen „Volkssouveränität und öffentliche Meinung“ (1953), „Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition“ (1955), „Wandlungen der parlamentarischen Demokratie“ (1959) und „Der politische Begriff der Repräsentation“ (1964). Im Jahre 1958 veröffentlichte er mit seinem Schüler Wolfgang Gaebler ein „Politisches Wörterbuch“, das auch weitere Leserkreise erreichte.
Landshut wies auf die fundamentalen Probleme hin, die das formal fast in der gesamten Welt geltende Prinzip der Volkssouveränität mit sich bringe, die Frage nämlich, wie überhaupt der alles entscheidende „Wille des Volkes“ zu ermitteln sei. Er machte auf Widersprüche auch des Bonner Grundgesetzes aufmerksam, etwa wenn er die prinzipielle Unvereinbarkeit einer repräsentativen Versammlung, die selbstständige Entscheidungen treffe, mit dem Grundsatz der Volkssouveränität betonte. Und beim Vergleich des Grundgesetzes mit der Weimarer Verfassung akzentuierte Landshut nicht, dass man aus der Erfahrung gelernt und die richtigen Schlüsse gezogen habe, sondern er wies darauf hin, dass nun der Einfluss des Souveräns zurückgedrängt worden sei zugunsten von Parteien, denen ungeheure Verantwortung zukomme, worin wiederum eine neue Gefahrenquelle bestehe.
Eine parteipolitische Heimat fand Landshut selbst offenbar nicht. Zeitweise stand er der SPD nahe, der er im Jahre 1930 für einige Monate angehörte – damals für einen Hochschullehrer sehr ungewöhnlich. In SPD-Nähe schien er Anfang der 1930er Jahre auch weiterhin verortet zu sein: als Assistent des Sozialdemokraten Eduard Heimann, als engagierter Volkshochschuldozent, als Marx-Forscher. Für die Bundesrepublik weisen dann seine Lehrtätigkeit an der Akademie für Gemeinwirtschaft oder seine Vorträge im Rahmen gewerkschaftlicher Veranstaltungen auf eine gewisse Nähe zur Sozialdemokratie hin. Bei einem Seminar der Friedrich-Ebert-Stiftung hielt Landshut im Februar 1966 das einleitende Referat über „Die Bedeutung der politischen Parteien und des Parlaments für eine freiheitliche Demokratie“. Doch parteipolitisch eindeutig verorten lässt Landshut sich nicht. Überhaupt verweigert sich sein politisches Denken, auch retrospektiv, gängigen Zuordnungen von „fortschrittlich“ bis „konservativ“, von „links“ bis „rechts“. Siegfried Landshut ging es darum, die politische Gegenwart vor dem breitesten historischen Hintergrund zu verstehen, dabei immer wieder alltäglich verwendete Begriffe auf ihren ursprünglichen Gehalt hin zu untersuchen und auch die freiheitliche Demokratie nicht als selbstverständlichen Schlusspunkt einer notwendigen Entwicklung hinzustellen, sondern auf deren permanente Gefährdung zu verweisen. Es scheint, als sei diese Gefährdung in den letzten Jahren nur noch gewachsen.
* Vortrag, gehalten auf Einladung des Fachgebiets Politikwissenschaft der Universität Hamburg am 15. Mai 2019. Vgl. dazu ausführlich und mit allen Einzelnachweisen: Nicolaysen, Rainer 1997: Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie, Frankfurt/Main; knapp zusammenfassend Nicolaysen, Rainer 2014: Siegfried Landshut (1897-1968). In: Jesse, Eckhard/Liebold, Sebastian (Hg.): Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden, S. 463-476; zuletzt Nicolaysen, Rainer 2018: Siegfried Landshut redivivus. In: Hamburger Institut für Sozialforschung (Hg.): Siegfried Landshut Lectures, Hamburg, S. 10-28; ein Großteil der Schriften Landshuts findet sich in: Landshut, Siegfried (2004): Politik. Grundbegriffe und Analysen. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk in zwei Bänden. Hg. von Rainer Nicolaysen, Berlin.