Elvira Rosert ist Juniorprofessorin für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Beziehungen, an der Universität Hamburg und am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. In ihrer Dissertation, die nun auch als Monographie erschienen ist und in der sie sich mit der langen Nicht-Entstehung der Streumunitionsverbotsnorm auseinandersetzt, verbinden sich ihre Forschungsschwerpunkte: Normenforschung, (humanitäres) Völkerrecht und internationale Institutionen.
David Weiß studiert seit 2016 Politikwissenschaft im Bachelor am Fachbereich. Seit diesem Jahr ist er Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes.
Der Politikwissenschaftsstandort Hamburg hat sich nicht erst seit der Ankunft von Elvira Rosert als Juniorprofessorin am Fachgebiet wie am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität (IFSH) im Jahr 2017 zu einem der Brennpunkte der Normenforschung in den deutschsprachigen Internationalen Beziehungen entwickelt. Parallel zur IB-theoretisch klassisch liberalen Berliner Gruppe um Thomas Risse, Tanja Börzel und Co. sowie den Frankfurter Kritischen Theoretikerinnen um Nicole Deitelhoff, Lisbeth Zimmermann et al. ist Hamburg eine der Hauptstädte vor allem kritisch-konstruktivistischer sowie praxistheoretisch informierter Normenforschung in den Internationalen Beziehungen geworden. An der Helmut-Schmidt-Universität wird im IB-Team zur Rolle von Normen in der außen- und zwischenstaatlichen Politik gearbeitet, am IFSH wird neben Politikberatung und policy-Forschung ebenfalls theoretische Reflexion zum Phänomen internationaler Normen geleistet. Und last not least dieser sicherlich nicht erschöpfenden Liste steht die Arbeit am Fachgebiet Politikwissenschaft der Universität paradigmatisch für diesen Hamburger Zusammenhang. Die praxistheoretisch Forschenden um Antje Wiener im Bereich Global Governance befassen sich hier mit den Auswirkungen normativer Setzungen und ihrer Kontestation auf die Konstitution globaler Politik, genauer, mit der Rolle kultureller, sozialer und politischer Vorstellungen über das Normative wie Normale, welche sich im alltäglichen Prozess globaler Interaktionen und schließlich in Ordnung stiftenden Normen äußern. Nicht zuletzt auch in der Lehre, in der man zumindest an der Universität fast nicht um eine theoretische wie methodisch schulende Ausbildung im Feld der Normenforschung vorbeikommt, bildet sich dieser Schwerpunkt in den Hamburger Internationalen Beziehungen ab. Und ein Ende ist kaum in Sicht: Reger und weiter auszubauender Austausch mit gemeinsamen Workshops, Vorträgen und Kolloquien zwischen den einzelnen Akteurinnen und Institutionen besteht.
In diesem Feld also positioniert sich Elvira Roserts Dissertation, die jetzt als Monographie erschienen ist, und trägt mit ihrem normativen, klassisch „friedensforschenden“ Anspruch ganz zum ja auch unmittelbar politischen Projekt der Normenforschung bei. Die Aspiration, mit der eigenen Forschung zur Ermöglichung und tendenziellen Verwirklichung von friedlichem Zusammenleben in der internationalen Gemeinschaft beizutragen und dabei in der Forschung alle Akteurinnen als valide und legitime Diskursteilnehmerinnen zu Wort kommen zu lassen, reiht sich ein in die kritische und damit Machtstrukturen hinterfragende Seite der innerdisziplinären Debatte in den IB. Mit dieser Option für eine normative Grundlegung, dem letztlich demokratietheoretischen „all affected“-Grundsatz und dem möglicherweise parteilichen, jedoch wissenschaftlich-argumentativ begründeten Einstehen für die Stärke von internationalem Recht, das Aufrüstung, Konflikt und Krieg verhindern kann, liefert Roserts Beitrag bewusst weitere „Munition“ gegen die weiterhin oft dominanten Stränge der Internationalen Beziehungen, die auf die grundsätzliche Anarchie des internationalen Staatensystems und die Logik von Nullsummenspielen und Gefangenendilemmata eben gegen internationale Verständigung und Rechtssetzung pochen. Dabei ist umso spannender, dass Rosert sich explizit in einer nicht-normativen, positivistischen Epistemologie verortet, für sie also politisch-normative Ziele mit einer positivistischen Forschungsmethode zusammengehen.
Nun aber zum Werk selbst, das ich im Folgenden erst kurz in seinen wichtigsten Thesen, Motiven und methodisch untermauerten Argumenten rekonstruieren möchte, um dann zweitens die wichtigsten Beiträge hervorzuheben und drittens einige kritische sowie vor allem erweiternde Punkte anzudeuten.
Mit ihrer Schrift verfolgt Rosert zwei hauptsächliche Ziele. Erstens möchte sie den zu bearbeitenden Fall der Streumunitionsnorm, also den Einsatz von Streumunition wie dann die Genese des Verbotsvertrages beleuchten, zweitens möchte sie auf konzeptueller Ebene eine Theorie der permissiven Effekte weiterentwickeln und in den theoretischen Fundus wissenschaftlicher Arbeiten über Normen in den Internationalen Beziehungen einpflegen. Da sie vor allem diesem zweiten, theoretischen Teil ihrer Arbeit Bedeutung über die Schrift hinaus zumisst, sei zum case, den sie in großer Genauigkeit einführt, nur folgendes gesagt:
Das puzzle, das Rosert zur Behandlung des Falles Streumunition motivierte, präsentiert sich wie folgt: Bereits in den 1970er-Jahren wurde ein Verbot von Streumunition in Politik, aktiver Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit diskutiert; der Vietnamkrieg, in dem mehr Streumunition als je zuvor eingesetzt worden war, hatte das Thema auf die Agenda gesetzt. Doch ein völkerrechtlicher Vertrag, der daraus hätte erwachsen können, wurde nie erreicht.[1] Ein ähnliches Bild ergab sich Ende der 1990er-Jahren. Wieder, diesmal im Kosovokrieg, sorgte der Einsatz von Streumunition, der wie Rosert beschreibt, kaum bestreitbar gegen zahlreiche Grundsätze des humanitären Völkerrechts verstieß,[2] für öffentliche Empörung, doch wieder wurde keine politisch-rechtliche Lösung für das Problem gefunden. Erst im neuen Jahrtausend, als in den Kriegen in Afghanistan und dem Irak sowie in weiteren Konflikten wiederum Streumunition eingesetzt wurde und wieder einige Länder einen erneuten Prozess zum Umgang mit Streumunition initiierten, zeichnete sich ein Erfolg ab – und tatsächlich: der sogenannte Oslo-Prozess führte zum Verbot des Einsatzes, der Produktion, der Lagerung sowie der Weitergabe von Streumunition und ging in einem 2008 finalisierten, von ursprünglich 49 Staaten unterzeichneten Vertrag auf. Nach Erreichung der erforderlichen 30 Ratifizierungen trat er 2010 auch völkerrechtlich bindend in Kraft.[3]
Doch die Frage nach dieser kurzen Rekapitulation bleibt und ist auch Roserts zentrale Forschungsfrage: Warum nicht früher? Warum konnte, wo doch zwei Mal – in den 1970er-Jahren im Zuge des Vietnamkriegs und in den 1990er-Jahren im Kosovokrieg – scheinbar alle Voraussetzungen für ein völkerrechtliches Verbot von Streumunition gegeben waren, dieses erst 40 Jahre und damit viele weitere Tote, Verletzte und Traumatisierte später, durchgesetzt werden?
Elvira Roserts theoretisch zu entwickelnder wie empirisch zu prüfender, bislang in der Analyse und Diagnose fehlender Erklärungsmechanismus sind die sogenannten permissiven Effekte. Permissive Effekte beschreiben, so Rosert, den negativen Einfluss einer Norm auf eine bestimmte andere Norm. Eine Norm A kann also durch ihre erfolgreiche Entstehung, Etablierung und Durchsetzung den gleichen Prozess für eine anderen Norm B direkt und negativ beeinflussen. Diese Arbeitsdefinition reichert Rosert mit einer beeindruckenden Fülle konzeptionellen Handwerkszeugs an. Mit unterschiedlichen Anleihen aus Theoretisierungen von Normentstehungsprozessen und -entrepreneurstrategien, policy-cycle-Ansätzen, agenda-setting-Modellen bis hin zu diskursanalytischen Versatzstücken uvm.[4] schafft sie es, die bislang weitgehend unterkonzeptualisierte Theorie der permissiven Effekte auszuformulieren. Durch all diese Ansätze, die dann durch process-tracing-Methoden sowie cross-case und within-case-Vergleiche zur Anwendung und Überprüfung kommen,[5] ziehen sich die zentralen Motive der Theorie der permissiven Effekte, die drei Dimensionen auf denen diese einsetzen: In der ersten attentionalen Dimension verliert eine Norm durch die permissiven Effekte einer anderen den Kampf um die eh schon begrenzte Aufmerksamkeit in öffentlichen Arenen, Debattenräumen und Politikzirkeln, in der zweiten konstitutiven Dimension wird eine von permissiven Effekten betroffene Norm durch ex-negativo Legitimierung verhindert: wird ein anderes Verhalten durch Normsetzung verboten, bedeutet dies im vermeintlich logischen Umkehrschluss, dass das nicht-regulierte Verhalten normativ auch wünschenswert sei. Die Blockade auf der attentionalen Ebene und die ex-negativo Legitimierung auf der konstitutiven Ebene münden schließlich in der regulativen Dimension, in der ein Verhalten unreguliert und eben nicht normrelevant bleibt. Letztendlich bewirken permissive Effekte zwar nicht das explizite Erlauben eines Verhaltens, allerdings das erlaubt lassen. [6]
Und tatsächlich bewährt sich diese theoretische Grundlegung für Rosert bei der Überprüfung anhand des Falls der so lange gescheiterten Streumunitionsverbotsnorm. In den 1970er-Jahren etwa überlagerte die schließlich auch erfolgreiche Verbotskampagne gegen die Kriegswaffe Napalm die Kampagne gegen Streumunition. Letztere konnte zwar bis in offizielle internationale Gremien gepusht werden und genoss bis zuletzt hohe öffentliche Aufmerksamkeit, doch als das politische Kapital für völkerrechtliche Verbote von bestimmten Kriegswaffen zu schwinden begann, entschieden sich die relevanten, vor allem staatlichen Akteure dazu, die Streumunitionsnorm fallen zu lassen und sich auf das Napalmverbot zu konzentrieren. Ein ähnliches Bild, wie beschrieben, ergab sich wohl auch in den 1990er und frühen 2000er-Jahren, als es die allgemeinen Anstrengungen gegen „explosive Kampfmittelrückstände“ waren, die die explizite Behandlung und Verbannung von Streumunition noch deutlich früher im Normentstehungsprozess mit permissiven Effekten belegten. Der Erfolg in den späten 2000er-Jahren speiste sich dann, so Rosert, neben weiteren Erklärungsfaktoren u.a. auch daraus, dass keine weitere, strukturell wie inhaltlich ähnliche Norm im Entstehen war, die Akteur*innen also keine substanziellen permissiven Effekte zu befürchten hatten.[7]
Neben der methodischen Sorgfalt, die den Fall der Streumunitionsverbotsnorm erfolgreich bearbeitet und substanziell informieren kann, beeindruckt Roserts Schrift vor allem auch im theoretischen Beitrag, zu allererst in ihrer Konzeptualisierung der permissiven Effekte. Ihr gelingt es, einen klaren und systematischen Blick auf die hochkomplexen Theorien und ja auch real-politisch stark verworrenen Normentstehungsprozesse im globalen Raum zu werfen und entdeckt gleichzeitig doch theoretische Lücken, die sie mit einer vielfältig angereicherten Theorie permissiver Effekte füllt. In erster Linie überzeugend ist, wie sie es schafft – auf theoretischer wie empirischer Ebene – eine Norm als einzigartig und hoch kontingent, teilweise idiosynkratisch zu erfassen und sie doch als Teil eines Ganzen, einer umfassenden normativen Ordnung, in der unterschiedliche, aber parallel laufende Prozesse sich wechselseitig beeinflussen, zu denken und zu untersuchen. Dies liefert den wichtigsten und weitreichendsten Beitrag für das weite Feld der konstruktivistischen Normenforschung, welches sich allzu oft in einzelnen Fällen und Normen verliert, und dabei den Blick für eine stets einflussreiche politische Gesamtkonstellation verliert.
Interessant bleibt, wie Roserts Theorie der permissiven Effekte weitere Anwendung und auch theoretische Weiterentwicklung finden und erfahren kann. Gerade eine Diskussion mit explizit praxistheoretischen Ansprüchen verspricht fruchtbare Erkenntnisse. Denn klar ist, dass Rosert an einigen Stellen ihrer Arbeit in einer klassisch liberal-konstruktivistischen und damit bereits auch kritisierten Normdefinition und -konzeptionalisierung verharrt. Normen werden für Rosert – das ist in ihrem Forschungsdesign deutlich – erst dann wirklich relevant, wenn sie juridischen (völkerrechtlichen) Status erreichen und damit tendenziell auch erst dann, wenn handfeste, vor allem staatlich gedeckte Gewalt für ihre Durchsetzung zur Verfügung steht. Dagegen fassen die angesprochenen praxistheoretischen Ansätze Normen viel weiter und substanzieller. Sie begreifen sie als grundsätzliche Facette überstaatlicher Politik mit legalen, aber eben auch tiefliegender politischen, sozialen oder gar größtenteils impliziten kulturellen Qualitäten. Nimmt man diese Perspektive ernst, ließe sich fragen, ob man tatsächlich von einer Nicht-Entstehung von Normen sprechen kann oder ob nicht viel eher die Bewegung einer – dann konzeptionell weitergefassten – Norm wie dem angestrebten Verbot von Streumunition forschend nachverfolgt werden kann, durch zahlreiche lokale und globale Arenen und über zahlreiche stakeholder hinweg. Ihre legale Festsetzung in völkerrechtlichen Rahmenbedingungen ist dann lediglich ein weiterer – wenn natürlich auch einschneidender – Schritt in der Entwicklung einer Norm, die so aber möglicherweise noch tiefgehender nachvollzogen werden kann. Dem Motiv der permissiven Effekte tut dies freilich keinen Abbruch, auf eine Weiterentwicklung in theoretischer sowie Ausweitung in empirischer Absicht und somit einen weiterhin regen Austausch in der „Normennebenhauptstadt“ Hamburg ist zu hoffen – dann auch ganz ohne permissive Effekte.
[1] Elvira Rosert (2019) Die Nicht-Entstehung internationaler Normen. Permissive Effekte in der humanitären Rüstungskontrolle, Wiesbaden: Springer VS, S. 70-75.
[2] ebd., S. 65-68: Streumunition verstößt beispielsweise gegen den Grundsatz, dass in kriegerischen Handlungen lediglich militärische Ziele anzugreifen sind. Etwa 98% der Betroffenen von Streumunition sind dagegen Zivilist*innen, die vor allem unter Blindgängern, welche noch Jahrzehnte nach Beendigung der Kriegshandlungen scharf und damit tödlich oder schwer verletzend sind, leiden.
[3] Ebd., S. 78-81.
[4] Vgl. ebd., Kapitel 4, insbesondere S. 133-149.
[5] vgl. ebd., Kapitel 5, zum methodischen Design insbesondere S. 236-238.
[6] Ebd., S.204f.
[7] Ebd., S. 383-385.