Ulrich Thiele über Peter Niesen, Jeremy Bentham: Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Französischen Revolution (2013)

Peter Niesen ist seit 2013 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Politische Theorie an der Universität Hamburg und Mitglied des Bentham Committee am University College London. Zu seinen Forschungsgebieten zählen die Politische Philosophie der Aufklärung (Kant, Bentham), die Theorie verfassunggebender Gewalt jenseits des Staates sowie die politische Theorie des Mensch-Tier-Verhältnisses.

Ulrich Thiele ist Privatdozent an der Universität Heidelberg und dort als akademischer Mitarbeiter beschäftigt. Er ist einer der produktivsten Ideenhistoriker der Bundesrepublik. 2002 ist er an der Goethe Universität Frankfurt mit einer Arbeit über Carl Schmitts Sieyes-Rezeption habilitiert worden. Seine Geschichte politischer Ideen (2. Auflage, Marix 2014) zieht eine Linie von den Theorien des Gesellschaftsvertrags zum modernen Rechts- und Sozialstaat.


Peter Niesens Edition stellt uns einen hierzulande kaum bekannten, gleichwohl aber mit erheblichen Ressentiments behafteten Autor vor, dessen Bedeutung für politische Ideengeschichte jedenfalls im deutschsprachigen Raum erst allmählich zu Bewusstsein kommen dürfte. Präsentiert werden die wichtigsten politischen Schriften Benthams, die sich mittelbar oder unmittelbar auf die Französische Revolution beziehen. Zum überwiegenden Teil handelt es sich um direkte Interventionen des englischen Philosophen in die zeitgenössischen Pariser Debatten, die sich um Fragen der Verfassung, der Menschen- und Bürgerrechtserklärung, der Gewaltenteilung, des Kolonialismus und schließlich der Politischen Ökonomie drehten.  Diese spezielle Edition organisiert die Schriften in einer Weise, die geeignet ist, derartige Vorurteile zu diskreditieren. Schon die Einleitung, die über 60 Seiten umfasst, bietet neben gründlichen Interpretationen zusätzliche Informationen bezüglich der zeitgenössischen ideengeschichtlichen, gesellschaftlichen und politischen Hintergründe. Auch die neu übersetzten Bentham-Texte selbst sind reichhaltig und höchst informativ kommentiert.

Zum ersten Mal ist es überhaupt möglich, Benthams bedeutendste politische Schriften in deutscher Sprache, in der Übersetzung von Michael Adrian und Bettina Engels zu lesen. Das ist besonders wünschenswert, da hierzulande seit geraumer Zeit eine ausgedehnte Debatte stattfindet, die Wechselbeziehungen zwischen deutscher und französischer Rechtsphilosophie, besonders in Hinblick auf die Rezeption der Französischen Revolution thematisiert. Besonders die Rechtslehren Kants und Hegels auf der einen Seite und Rousseau und Sieyes auf der anderen wurden miteinander in Beziehung gesetzt. Die einzigen britischen Autoren, die mit der Politischen Theorie in Deutschland in Zusammenhang gebracht wurden, waren Edmund Burke, John Stuart Mill und allenfalls noch Blackstones Commentaries on the Laws of England. Eine erschöpfende Auseinandersetzung mit Benthams politischen Abhandlungen dagegen vermisst man bis heute. Jedoch lassen sich immerhin für die letzten Jahre erste Rezeptionsansätze verzeichnen. Breiter dagegen rezipierte man Benthams Beiträge zur Moralphilosophie, jedoch dies im Allgemeinen in Verbindung mit einer scharfen Zurückweisung seines Hedonismus, gegen den oft genug der Vorwurf eines instrumentalistisch verkürzten Moralverständnisse, demzufolge alles Handeln durch zu erwartende „Belohnungsmengen“ motiviert wird. Dabei übersieht man aber, dass selbst Kant gelegentlich von psychologischen Motiven („Triebfedern“) spricht, die Personen allererst dazu bewegen können, dem Kategorischen Imperativ gemäß zu handeln: Das wichtigste aller in Frage kommenden Stimuli sei die Steigerung der „Achtung für sich selbst“ – ein zutiefst utilitäres, das eigene Wohl betreffendes Motiv.

Wenn aus kantianischer Perspektive der utilitaristischen Moralphilosophie ein  prinzipienloser Relativismus vorgeworfen wird, so hat dies Konsequenzen für die weitere Rezeption. Man begegnet dann auch der Politischen Theorie Benthams mit dem Vorurteil, hier würden individuelle Freiheitsrechte einer hedonistischen Staatszwecklehre geopfert. So wird Benthams Plädoyer zugunsten einer „allmächtigen Gesetzgebung“ (87ff.) regelmäßig als hochriskant zurückgewiesen. Verfügt man doch hierzulande über die Erfahrung einer stabilen, verfassungsexpertokratisch eingehegten „konstitutionellen Demokratie“, auch wenn nicht wenige Urteile des Bundesverfassungsgerichts ihrerseits ein relativistisches bzw. dezisionistisches Grundrechtsverständnis offenbaren (insbesondere die Lebach- und Lüth-Urteile sowie die beiden konträren Kopftuch-Urteile von 2003 und 2015).

Auf der anderen Seite ruft das politische Legitimationskriterium allgemeiner Wohlfahrt (z.B. 130) reflexartig Assoziationen an autokratische Herrschaftsformen, insbesondere den Nationalsozialismus hervor, obwohl doch die gesamte Aufklärungsphilosophie (selbst Hobbes und eingeschränkt auch Kant) stets das Gemeinwohl zu den konstitutiven Legitimationsbedingungen politischer Herrschaft zählte. Denn aus dem Wohlfahrtskriterium für legitime politische Herrschaft als solchem folgt, wie Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit zeigt, schlechterdings nichts in Hinblick auf die normative Entscheidung für eine ungleiche oder eine gleiche Zuteilung von Rechten. Eben diese Konjunktion von Glückseligkeitszweck und Rechts(un)gleichheit wird aber regelmäßig unterstellt, wenn man gegen Benthams Nützlichkeitsprinzip den Kantischen Würdebegriff ins Feld führt, der die Unverfügbarkeit gleicher Freiheitsrechte im Gegensatz zu einem ökonomischen Rationalitätskriterium betont: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: AA, Bd. IV: 434; vgl. auch Rechtslehre § 37). Doch dieses Kritikperspektive wird durch die nun vorliegenden Texte mindestens problematisiert. So zerlegt Bentham etwa mit äußerster Präzision alle zu seiner Zeit gängigen Gemeinplätze, mittels derer eine geschlechterungleiche Zuteilung von politischen Partizipationsrechten legitimiert wurde (81ff.). Nur ein einziges, jedoch kontingentes Ausschlusskriterium lässt er noch gelten: die Fähigkeit, lesen zu können, weil an ihr die Möglichkeit einer umsichtigen Partizipation an politischen Diskursen hängt (79).

Die hier vorgestellten politischen Schriften Benthams enthalten etliche höchst originelle Ideen, die allesamt jedwede Ungleichverteilung von Rechten von vornherein ausschließen: Zum Beispiel sein Plädoyer zugunsten der Ausdehnung des passiven Wahlrechts auf Fremde (81). Niesens Kommentar zu diesem unkonventionellen Einfall Benthams eröffnet immerhin den Weg zu einer möglichen alternativen Deutung des Dritten Definitivartikels der Kantischen Friedensschrift, die sich von inter- bzw. supranationalen Perspektiven für die Institutionalisierung des Weltbürgerrechts absetzen würde. Dieses nationalstaatliche Modell internalisierter kosmopolitischer Rechte könnte sogar beanspruchen, konstruktiv nicht nur an Kant, sondern auch an Hannah Arendt These anzuknüpfen, nach der es nur ein einziges Menschenrecht geben kann: das auf Staatsbürgerschaft. Aus diesem Blickwinkel ist dann auch Benthams sprachanalytische Kritik des Begriffes der „Menschenrechte“ höchst aktuell, insofern dieser genaugenommen nur passend sei für Personen, „die sich noch im Naturzustand befinden“ (126), nicht aber für Personen, die diesem bereits entronnen sind.

Die allerwichtigste Benthamsche Innovation besteht jedoch in der rigorosen Zurückweisung konstitutioneller Limitationen der Gesetzgebung im Allgemeinen und verfassungsmäßiger Kodifikationen natürlicher Menschen- und Bürgerrechte im Besonderen. Beides löst beim deutschen Leser starke Dissonanzen aus, obwohl auch hierzulande eine bedeutende rechtstheoretische Tradition existiert, die die Notwendigkeit positiver Menschen- und Bürgerrechte in Frage stellt. Dies geschah jedoch nicht aus einer demokratischen Kritikperspektive: Ausgehend von Hegels Plädoyer zugunsten einer „organischen“ Verfassung, die fern von abstrakten Normativismen konkrete Institutionen stabilisieren sollte, übten seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Integrationslehre Rudolf Smends sowie die Staatslehre Carl Schmitts, die je auf ihre Weise Positivismuskritik betreiben, erheblichen  Einfluss auf die Verfassungsdiskurse der frühen Bundesrepublik aus. Ohne explizit auf Bentham bezogen zu sein, kann Hegels bekannte Kritik an der Französischen Déclaration als konservative Antwort auf Benthams urdemokratische Kritik an verfassungsrechtlichen Tabuzonen gelesen werden: „Abstraktionen in Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören“ (Hegel, Geschichte der Philosophie III, 331). Benthams ultrademokratische Kritik an verfassungsrechtlichen „Ewig­keits­klausel[n]“ (95, 98, 125) einerseits und erschwerten Änderungsverfahren andererseits (101ff.) zielt demgegenüber darauf ab, dass auf diese Weise der Wille der verfassunggebenden Generation asymmetrisch den Willen aller der folgenden Generationen bindet und somit deren legislative Lernprozesse jedenfalls teilweise blockiert.

Doch Benthams Konstitutionalismus-Kritik geht noch einen Schritt weiter: Im Gegensatz zu den amerikanischen, französischen und deutschen Verfassungs­theorien bestreitet er die Bindungswirkung höherrangiger Verfassungsgesetze gegenüber einfachen Gesetzen aus zwei Gründen: Zunächst führt er das methodologische Argument ins Feld, dass die einfache Gesetzgebung etwas prinzipiell anderes sei als die deduktive Ableitung von besonderen Sätzen aus allgemeinen Verfassungsartikeln. Vielmehr handele es sich bei der einfachen Gesetzgebung um induktive Lernprozesse, in denen Zusammenhänge zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen allererst durch Hypothesenbildung und -prüfung ermittelt werden müssten (128). Aus dieser grundsätzlichen Kritik an Subsumtionslogiken der Rechtsfortbildung als solcher folgt schon zwingend eine grundsätzliche Zurückweisung richterlicher Normenkontrolle. Ein weiterer Kritikansatz gegenüber höherrangigem Verfassungsrecht geht sprachanalytisch vor: Die meisten Verfassungsartikel, besonders aber die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verwenden den Ausdruck „kann nicht“ bzw. „können nicht“, signifikanterweise ohne zwischen einer physischen Unmöglichkeit oder einem moralischen bzw. rechtlichen Verbot zu unterscheiden (131f.). Hätte man stattdessen den Ausdruck „sollte nicht“ verwendet, so wäre klargestellt, dass es sich um vage Empfehlungen an den Gesetzgeber und nicht um inhaltlich präzise Vollzugsbefehle handelte, deren buchstabengetreue Ausführung von neutraler Seiten geprüft werden könnte (128).

Lange vor Carl Schmitts radikalem Dezisionismus kritisierte Bentham ein naives Verständnis der Beziehung zwischen Verfassungsnormen und Legislative, indem er das rechtsschöpfende Wesen der Gesetzgebung betonte. Keinesfalls handele es sich um eine bloße Subsumtion einer besonderen unter eine allgemeine Norm: Eine Einsicht, die sogar Hans Kelsen geteilt hatte. Denn auch Kelsen zufolge ist es ausgeschlossen, dass eine abstrakte materiale Verfassungsnorm den Inhalt einer korrespondierenden Gesetzesnorm vollständig determiniert. Nach Kelsens Reiner Rechtslehre geschieht auf jeder Stufe der Rechtskonkretisierung immer zugleich Rechtsanwendung und Rechtsschöpfung, denn das Ermessen des Normanwenders sei durch die jeweils höhere Norm sowohl gebunden als auch frei. Schon aufgrund dieses normlogischen Hiatus zwischen abstrakter Verfassungsnorm und konkreter Gesetzesnorm (128) kann nach Bentham die Legislative unmöglich als Exekution von Verfassungsnormen angesehen werden. Folglich müsse man das Projekt einer externen institutionellen Kontrolle der Gesetzgebung – wie es etwa die Jury Constitutionnaire in Emmanuel Sieyes’ Entwürfen seit 1795 hätte leisten sollen – endgültig aufgeben. Doch auch ohne einen institutionellen Hüter der Verfassung ist nach Bentham eine letzte Verteidigungslinie bürgerlicher Freiheit gegen etwaige Despotietendenzen der Legislative vorhanden: Ganz in der Tradition Lockes stehend sieht  er in der kritischen Öffentlichkeit deliberierender Citoyens die zwar nicht institutionalisierbare, aber dennoch hocheffektive Gegenkraft der Normadressaten (z.B. 127) – eine urdemokratische Kernidee, die sich sowohl beim Zeitgenossen Kant findet, als auch in ihrer systematischen Entfaltung in Gestalt der deliberativen Demokratietheorie. Die einzige institutionell verwirklichbare Voraussetzung hierfür sei die rechtliche Garantie vollständig unlimitierter Redefreiheit.  Bedenkt man die Subtilität und Originalität des politischen Denkens Benthams, so ist der Umstand äußerst rätselhaft, dass bis vor kurzem jedenfalls in Deutschland kein Interesse an einer Edition der politischen Schriften bestand. Mir scheint am ehesten noch die Annahme plausibel, dass die paradigmatische Selbstverständlichkeit unseres konstitutionalistischen, letztlich expertokratischen Verfassungsverständnisses im Verein mit antiutilitaristischen Klischees dies bislang verhinderte.

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