Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung war seit der Gründung in den 1980er-Jahren ein unverzichtbarer Teil der Hamburger Politikwissenschaft. In seiner Retrospektive zeichnet Klaus Schlichte die Gründung durch Professor Klaus Jürgen Gantzel und die wichtigsten Forschungsbeiträge der Hamburger Kriegsursachenforschung nach – Beiträge für die akademische Aufarbeitung und politische Bekämpfung von Kriegsursachen.
Klaus Schlichte ist seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls „Internationale Beziehungen: Politik in der Weltgesellschaft“ am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien an der Universität Bremen. Von 1985 bis 1992 studierte Schlichte Politikwissenschaft, Philosophie, Afrikanistik und Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg, in den 1990er Jahren war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter von Klaus Jürgen Gantzel und Lehrbeauftragter am Institut.
Es soll kein Nachruf sein, auch wenn es um die „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ (AKUF) nicht gut bestellt ist. In zwei Jahren würde sie vierzig Jahre alt werden, aber auch jetzt hat sie Chancen, als längste Lehrveranstaltung der Welt in die Annalen der Wissenschaft einzugehen. Mit „Bologna“ sah es schon vor Jahren so aus, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen, aber dank Unterstützung aus dem Institut für Politikwissenschaft und der freiwilligen Zusatzarbeit vieler PolitikwissenschaftlerInnen in Hamburg hat sie den Anschlag auf die forschende Lehre überstanden, den die Gleichmacherei der Bologna-Reform bedeutete.
Als durchlaufende Veranstaltung der „forschenden Lehre“ wurde sie 1981 vom jetzigen Emeritus Klaus Jürgen Gantzel geschaffen. Um zu verstehen, was die AKUF war und ist, führt kein Weg um die Hauptperson herum:
Klaus Jürgen Gantzel, 1934 in einer Kaufmannsfamilie in Köln geboren, kam 1975 an die Universität Hamburg, um den Lehrstuhl „Internationale Beziehungen“ zu übernehmen. Er gehört zu der Generation von PolitikwissenschaftlerInnen, die den Zweiten Weltkrieg selbst erlebt haben. Und er erzählte davon im „Grundkurs I“ im damaligen Diplom-Studiengang, in einer Sitzung, die „Der Prof zum Anfassen“ hieß und die Idee von Bourdieus „Ein Selbstversuch“ vorwegnahm. Gantzel setzte darin seine wissenschaftliche Entwicklung in Beziehung zu seiner Biographie. Die brennenden Städte der letzten Kriegsmonate spielten darin offenbar eine prägende Rolle. Sein erstes Studium zum Diplom-Kaufmann genügte ihm in den 1960er Jahren nicht mehr, sein Interesse für die Politikwissenschaft war Teil einer allgemeinen Politisierung der Bundesrepublik. Mit Dieter Senghaas (geb. 1940), Ekkehart Krippendorf (1934-2018), Gilbert Ziebura (1924-1913) und vielen anderen war Gantzel Teil der in der deutschen Politikwissenschaft starken Fraktion von Antimilitaristen und Friedensbewegten, die in den 1960er Jahren politisiert wurden und als liberale Linke zu Professoren wurden. Besonders in der auch heute noch aktiven „Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung“ (AFK) hat sich diese Tradition nachhaltig in den deutschen Sozialwissenschaften verankert. Im IFSH in Hamburg, und in der „Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK) in Frankfurt am Main hat diese Forschungsrichtung zugleich große Forschungsinstitute entwickelt.
Das Thema Krieg stand schon im Mittelpunkt von Gantzels Werk, als er nach Hamburg kam. „System und Akteur“, seine Habilitationsschrift von 1972, ist eine Kritik der gängigen Theorien der Kriegsursachen. Auch ein Sammelband über die Ursachen des Ersten Weltkriegs stammt aus dieser Zeit. In den Folgejahren entstanden aber auch Werke zu anderen Themen, so zum Beispiel Beiträge zum Kolonialismus, zur Geschichte des Hamburger „Instituts für Internationale Angelegenheiten“ – hervorgegangen aus dem 1923 gegründeten „Institut für Auswärtige Politik“ in Hamburg, eines der ersten Friedensforschungsinstitute weltweit. Dieses Institut leitete Gantzel bald, zusammen mit dem Völkerrechtler und späteren Wissenschaftssenator und Zweiten Bürgermeister Hamburgs, Ingo von Münch.
Der Haupteffekt von Gantzels Wirken am IPW war jedoch ein anderer: Durch ihn entstand die einmalige Kombination von empirischer Kriegsforschung mit sozialtheoretischem Tiefgang. Gantzel brachte schon 1975 ein internationales Netzwerk mit anderen Kriegsursachenforschern mit, das jenseits methodischer Dogmen und politischer Grenzen funktionierte. David Singer (Ann Arbor, Michigan), Peter Wallensteen (Uppsala) und besonders der Ungar Istvan Kende gehörten dazu.
Die Zusammenarbeit mit Kende war am folgenreichsten: Dass ein Dozent aus dem kommunistischen Ungarn als Gastprofessor an der Universität Hamburg unterrichtete, zeugte nicht nur von der Liberalität der Universität, sondern zog auch Studierende an, die sich für die Kriegsursachenforschung zu interessieren begannen. Von Kende stammt auch die Kriegsdefinition, die die Arbeit der Hamburger Kriegsursachenforscher vom Mainstream bis heute unterscheidet: Statt einer quantitativen Grenze von immer umstrittenen Opferzahlen und der Beschränkung auf zwischenstaatliche Gewalt schlug Kende eine qualitative Kriegsdefinition vor, die viel weitreichendere Beobachtungen möglich machte und auch innerstaatliche Kriege umfasste. Krieg war bei Kende als bewaffneter Massenkonflikt definiert, bei dem nur einer Konfliktbeteiligten ein staatlicher Akteur sein musste, solange die Gegner mit erkennbarer Strategie und kontinuierlich operierten. Für rigide Methodenlehrer ist das ein Gräuel, aber bei etwa 220 Kriegen nach 1945 waren über die Jahre Diskussionen über Zweifelsfälle möglich.
Die AKUF konnte mit dieser sehr offenen Definition das globale Kriegsgeschehen viel angemessener erfassen und beschreiben. Dadurch wurde schon bei Kende etwas sichtbar, was in der Kriegsforschung später unter der Bezeichnung „Neue Kriege“ für eine Neuheit gehalten wurde. Kende und die AKUF wussten bereits in den 1980er Jahren dass der innerstaatliche Krieg nach 1945 der dominante Typ war.
Die AKUF konnte auch früh zeigen, dass die westlichen Staaten als Interventen daran auch schon vor dem Ende des Ost-West-Konflikts heftig beteiligt waren und es bis heute über ihre Interventionen sind. Und in der AKUF war durch die schnell wachsende regionale Expertise auch schnell klar, dass man den Formeln von „neuen Kriegen“, „transnationalem Terrorismus“ und „Staatszerfall“ ebenso kritisch gegenübertreten musste wie den früheren Simplifizierungen, als alle Kriege Afrikas, Asiens oder Lateinamerikas nur als „Stellvertreterkriege“ der Supermächte angesehen wurden, ohne die massiven sozialen Verwerfungen in ihrer kriegsursächlichen Wirkung zu erkennen.
Gantzels Gespür für kreative ForscherInnen und seine Liberalität zogen schnell junge Leute an, die mit ihm die kritische Friedensforschung betrieben. Sie erreichten, dass der DFG-Sammelschwerpunkt für Publikationen zur „Friedens- und Konfliktforschung“ an der Universität Hamburg angesiedelt wurde. Und sie füllten mit Gantzel die „Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung“, die als Dach für eine Reihe von Drittmittelprojekten zu Militarisierungsdynamiken, zu Fragen der Außenpolitik und zur kritischen Rüstungsforschung diente. Peter Lock, Ulrike Borchardt, Michael Brzoska und Volker Böge waren Hauptträger dieser umfangreichen Forschung.
Die „Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung“ 1981 gegründet, existierte bis vor kurzem. Sie dürfte eines der ältesten Seminare der „forschenden Lehre“ sein. Sicher mehr als hundert Examensarbeiten und mehrere Dutzend Promotionen sind in diesem Umfeld entstanden, und 1992 wurde Klaus Jürgen Gantzel zum ersten Preisträger des neugeschaffenen „Fischer-Appelt-Preises“ der Universität Hamburg für besondere Verdienste in Forschung und Lehre.
Im „Medium der solidarischen Kritik“ (O-Ton Gantzel) diskutierte die AKUF alle zwei Wochen neue bewaffnete Konflikte. Jeder Fall wurde einer eingehenden Diskussion unterzogen, die gründliche Recherche in mehreren Sprachen zu einem solchen Fall war der Initiationsritus für Neumitglieder. Nicht ein bloßer numerischer Wert, sondern die genaue inhaltliche Auseinandersetzung mit jedem Konflikt wurde durch die qualitative Definition Kendes erforderlich. Die Daten, die Gantzel mit Mitarbeitern 1986 und 1995 über das Kriegsgeschehen nach 1945 veröffentlichte, standen deshalb auf einer viel breiteren Basis als die der KollegInnen, die in Uppsala oder Ann Arbor an anderen Kriegsdatensätzen arbeiteten.
Und noch etwas anderes zeichnete die AKUF aus: Sie war nicht bloße Datenhuberei, sondern ein Ort der Theoriediskussion. Von Jens Siegelberg (1994) stammte der wohl wichtigste Beitrag dazu, der an Gantzels Weltgesellschaftsansatz anknüpfte. Siegelberg schlug vor, die Geschichte von Kapitalismus und Kriegsgeschehen zu parallelisieren, historische Differenzierungen einzuführen und ein sachlogisches Modell ursächlicher Prozesse zu entwickeln. Zahlreiche Arbeiten mit regionaler Differenzierung dieser Prozesse schlossen sich an. Die Orientierung an einer historischen Soziologie der Politik, die sich von Karl Marx und Pierre Bourdieu ebenso informieren lässt wie von Max Weber, Hannah Arendt oder Norbert Elias hat sich in der AKUF auch weit über Gantzels Emeritierung (1999) und Siegelbergs Weggang von der Universität Hamburg erhalten.
Die Bologna-Reform mit ihrer stark verschulenden Umsetzung in Deutschland brachte die AKUF schon um in den Nullerjahren in Bedrängnis, aber durch viel Engagement und auch unbezahlte Arbeit erhielt sich wenigstens der jährliche Bericht über das globale Kriegsgeschehen bis 2017 am Leben. Mehrjährige Lehrveranstaltungen mit flexiblen Aufgaben und thematisch wechselnden Diskussionen stehen der Projektlogik der Wissenschaftspolitik und den kurz getakteten Studienverläufen in Modulen eher entgegen. So ist es erstaunlich, dass sich die AKUF fast zwanzig Jahre über Gantzels Emeritierung erhalten hat.
Zugleich wirken Gantzel und die AKUF bis heute: Mehrere Generationen von ForscherInnen sind aus dieser „forschenden Lehre“ hervorgegangen und arbeiten heute im In- und Ausland an Universitäten und Forschungseinrichtungen, die meisten immer noch auch zu Fragen von Krieg und Frieden. Aus dem Arbeitszusammenhang der AKUF ist so ein internationales Netzwerk von WissenschaftlerInnen entstanden, die eine kritische, soziologisch-historisch orientierte Politikwissenschaft vertreten und mit weit differenzierter regionaler Expertise zu allen Weltregionen unter anderem in Odense (Dietrich Jung), Oslo (Kirsti Stuvøy), Durham (Jutta Bakonyi) Prag (Jens Siegelberg), Monrovia (Felix Gerdes), Brüssel (Stephan Hensell), Aberystwyth (Berit Bliesemann) und Melbourne (Volker Böge) lehren und forschen.
Forschende „Ex-AKUF“-Mitglieder findet man aber auch an der Führungsakademie der Bundeswehr (Philipp Münch), in Bremen (Klaus Schlichte), Essen (Karen Jaehrling) und in Hamburg (Sabine Kurtenbach). Unzählige andere frühere Mitglieder der AKUF sind für internationale Organisationen, in Dokumentationsabteilungen, in Ministerien oder in der Erwachsenenbildung tätig.
Die Bildung solch produktiver und langfristig angelegter Forschungszusammenhänge wie die AKUF zu thematisch konzentrierter Forschung wird von der deutschen Wissenschaftspolitik heute eher unterbunden als gefördert. Die Projektlogik sorgt für Kurzfristigkeit, und die Exzellenzinitiative konzentriert die Mittel auf wenige Plätze statt in der Breite für pluralistische Forschung zu sorgen. Gegenwärtig entdeckt man die Form des „Forschungsseminars“ an den deutschen Universitäten gerade wieder, nachdem man sie mit den Bologna-Reformen unmöglich gemacht hatte. Ob das „die AKUF“ wieder belebt, ist ungewiss.
Literatur:
Gantzel, Klaus Jürgen 1972: System und Akteur. Beiträge zur vergleichenden Kriegsursachenforschung, Düsseldorf: Bertelsmann.
Gantzel, Klaus Jürgen (Hg.) 1975: Herrschaft und Befreiung in der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus Verlag.
Gantzel, Klaus Jürgen /Meyer-Stamer, Jörg 1986: Die Kriege nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1984. Daten und erste Analysen, München: Weltforum Verlag.
Gantzel, Klaus Jürgen /Schwinghammer, Torsten 1995: Kriege der Welt. Ein systematisches Register der kriegerischen Konflikte, 1985-1992, Münster u.a.: Lit-Verlag.
Siegelberg, Jens 1994: Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft, Münster u.a.: Lit-Verlag.
Was bezeichnen wir als „Krieg“?
Sind Waffen das ausschlaggebende?
Oder ist es irgendeine Form von verschuldeter Gefährdung des Lebens vieler?
Verdursten lassen?
Verhungern lassen?
Vergewaltigung?
Wenn all das willkürlich viele bedroht?
Könnte auch die absichtliche Notlage anderer sein?
Das verleugnen des Klimawandels? Dagegen handeln?
Was Sie, sehr geehrte Frau Vondrous, alles unter Krieg subsumieren wollen, entstammt einem Bauchgefühl, journalistischer Polemik oder einer ungenauen Ethik. Als Wissenschaftler braucht man hinweichend genaue Begriffe, was für gesellschaftliche Phänomene meist schwieriger ist als für naturwissenschaftliche. Wenn all das, was Sie anführen, „Krieg“ sein soll, dann geraten Sie in ein Gewaltchaos, in dem jeder Versuch, Krieg im definierten Sinne – als eine Form von Gewalt – zu verhindern, in Handlungsunfähigkeit; dann hilft nur noch, wild um sich zu schlagen. Antikriegsforschung und Friedenspolitik bedürfen zunächst vernunftgesteuerter und differenzierender Begrifflichkeit. Dazu gibt es – aus wissenschaftlicher Sicht – keine Alternative. Sehen Sie sich bloß einmal an, welcher Unfug, ja welch zynische, menschenrechtsverachtende politische Heuchelei mit dem Begriff „Terror“ betrieben wird, von Trump, Erdogan, Netanjahu, Assad und vielen anderen „Führern“, nämlich als scheinheiliger Legitimationsversuch für eigene Gewaltanwendung!
Prof.em.K.J.Gantzel, Hamburg