Jürgen Habermas, geb. am 18. Juni 1929 in Düsseldorf, ist emeritierter Professor für Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Hauptwerken zählen die Theorie des kommunikativen Handelns (1981), Faktizität und Geltung (1992) und Auch eine Geschichte der Philosophie (im Erscheinen, 2019). Habermas ist 1961 in Marburg mit seiner Arbeit zum Strukturwandel der Öffentlichkeit in Politikwissenschaft habilitiert worden; die Initiative zur Verleihung der Ehrendoktorwürde des damaligen Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg 1989 ging vom Institut für Politische Wissenschaft aus.
Peter Niesen ist seit 2013 Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, an der Universität Hamburg. Er war 2007 Gründungsmitglied des Exzellenzclusters „Herausbildung normativer Ordnungen“. Zu seinen neueren Veröffentlichungen zählt “Reframing civil disobedience: Constituent power as a language of transnational protest“, Journal of International Political Theory (2019). 1990 war Niesen Tutor zu einem Seminar von Jürgen Habermas über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen.
Bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahr 2001 dankte Jürgen Habermas seinem Laudator Jan Philipp Reemtsma für dessen nicht unkritische Bemerkungen und äußert sich erleichtert über das geglückte Wagnis, das eine Laudatio aus der Distanz immer darstelle. Als ihm vor wenigen Wochen, am 25. Mai 2019 das Cambridge Habermas Lexicon überreicht wurde, lobte er das Projekt, da es nicht von Schülern oder engen Weggefährten konzipiert worden, sondern aus kritischer Distanz heraus entstanden sei. Auch in der Dankesrede, die Habermas anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg im Jahr 1989 gehalten hat, spielt das Motiv der kritischen Distanz eine tragende Rolle.
Tatsächlich distanziert sich Habermas nicht weniger als dreimal, bevor er sich endlich in die mit der Verleihung der Ehrendoktorwürde ausgedrückte Anerkennung schickt. Zunächst distanziert er sich von der Form der Ehrung als solcher, die ihm angesichts eines historisch kompromittierten Ehrbegriffs zutiefst suspekt erscheint. Gerade an derjenigen Universität, „wo man vor 20 Jahren den Muff unter den Talaren entdeckte“, bestehe die Gefahr, dass die Verleihung einer Ehrendoktorwürde als verbrauchtes Ritual erscheine. Mit der Ablehnung diskreditierter Ehrpraktiken gehe aber, so Habermas, keineswegs einher, dass die bleibende Bedeutung ritualisierten Sprechens entfallen müsse. Es wäre voreilig, in dieser positiven Bezugnahme auf rituelle Kommunikationsformen bereits spätere Debatten über Rationalitätspotentiale, die in religiöser Sprache verkapselt sind,[1] angelegt zu sehen. Das Ritual der akademischen Ehrung hat hier, wie wir sehen werden, eine andere, funktionale Bedeutung.
Im nächsten Schritt macht Habermas auf die Distanz zwischen dem Sinn von Wissenschaft als Ort anhaltender kritischer Auseinandersetzung und dem entgegengesetzten Moment der Ehrung aufmerksam, ganz als ob diese den Geehrten gegen Kritik in Schutz nehme. Weil das Wissenschaftssystem „auf die Bestreitung von Aussagen, aufs Widersprechen spezialisiert“ sei, könne akademischer Bestandsschutz qua Ehrung in einem Milieu, das sich der anhaltenden Überprüfung verschrieben hat, keinen Platz haben. Die Dankesrede spiegelt hier Habermas‘ lebenslange und vorrangige Loyalität gegenüber der Universität als einem System, das sich in Kritik und Metakritik erneuert und das der modernen Gesellschaft Zerrissenheit und Dissens, nicht aber monothematische Geschlossenheit schulde.
Die dritte ausgedrückte Distanzierung gilt schließlich der ehrenden Institution:
„Aber aufs Ganze gesehen verbinden mich mit Ihrer Universität keineswegs besonders enge persönliche oder wissenschaftliche Kontakte. Das bedaure ich in der Hinsicht, aber in unserem Zusammenhang ist es nicht nur von Nachteil. Die bestehende Distanz spricht dafür, daß Sie sich bei Ihrer Entscheidung nicht von falschen Loyalitäten haben leiten lassen.“[2]
In der Tat gab es keine intensiven Verbindungen nach Hamburg, mit Ausnahme der engen familiären Bindungen seiner aus Nienstedten stammenden Frau Dr. Ute Habermas-Wesselhöft. Gute publizistische Kontakte bestanden damals zur Wochenzeitung Die ZEIT. Dass Habermas seinen berühmt gewordenen Vortrag „Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“, der 1986 den Historikerstreit eröffnete, zunächst in der Hamburger Landesvertretung in Bonn hielt,[3] war wohl dem Zufall geschuldet. Herbert Schnädelbach, seinerzeit Professor für Philosophie an der Universität Hamburg, dessen Frankfurter Habilitation Habermas nach dem Tod Adornos betreut hatte, sollte gesprächsweise den Kontakt herstellen, nachdem die Entscheidung über die Ehrendoktorwürde gefallen, aber noch nicht publik gemacht worden war.[4] In einem langjährigen Hamburger Arbeitskreis zur Politischen Theorie hatten sich unter anderem Rainer Schmalz-Bruns, Frank Nullmeier, Thomas Saretzki und Udo Bermbach der Theorie des kommunikativen Handelns gewidmet. Publikationen, die Habermas‘ Werk dauerhaft für die Politikwissenschaft erschlossen, gingen daraus aber erst später hervor.[5] Auch das Hamburger Abendblatt fremdelte angesichts der Ehrung zunächst, nahm den Geehrten dann aber unter der Überschrift „Ein Mann, der radikal und redlich ist“ in die ehrbare Kaufmannsgesellschaft auf.[6]
Erst nach der ausführlichen Vergewisserung, dass eine Ehrenpromotion noch einen Platz haben kann im 20. Jahrhundert, im Wissenschaftssystem, im Verhältnis unter Gelehrten, die einander fremd sind und bleiben sollen, nimmt der Geehrte „das Moment der Anerkennung, welches sich in dieser Urkunde materialisiert“, freudig an. Um zu verstehen, wie Habermas die dreifache Distanzierung überwindet, ist ein Hinweis auf die Schlüsselpassage seiner Rede hilfreich, auf die bereits Stefan Müller-Dohm in seiner Biografie von 2014 aufmerksam gemacht hat. So heißt es bei Habermas an die Adresse der Universität und mit Blick auf die eigene Person: „Sie zeichnen jemanden aus, dessen wissenschaftliche Position alles andere als unumstritten ist.“[7] Wenn Habermas sich vor allem als umstritten begreift, dann benennt er nicht nur das Risiko, dass die Hamburger sich vertan haben könnten. Er bestimmt vielmehr eine Funktion, die Ehrungen in einem wohl nachmetaphysischen, damit aber noch nicht post-rituellen Wissenschaftssystem noch haben können.
Was Habermas an der Ehrung einleuchtet, ist, dass sie sich wie ein schützender Panzer vor die vielfach angegriffene Person lege. Sie erneuere die Erinnerung an eine notwendige Unterstellung, die im Streit immer mitgeführt werden müsse, in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen aber keineswegs immer respektiert werde, nämlich die Unterscheidung zwischen Person und Sache: „Auch ein argumentativer Streit geht manchmal an die Nieren. In solchen Momenten kommt uns zu Bewußtsein, daß der Streit um die richtigen Aussagen nur solange, wie sich die Personen gegenseitig achten, vorbehaltlos geführt werden kann.“ Im Brief an den damaligen Fachbereichssprecher Gerhard Ahrens, in dem er die ihm angetragene Ehrung annimmt, wird Habermas noch deutlicher. Er sieht die eigene Umstrittenheit geradenwegs aus einem Umstand hervorgehen, den die Hamburger in ihrer Ehrung besonders würdigen: seiner Doppelexistenz als Gesellschaftstheoretiker und öffentlicher Intellektueller. Umstrittenheit bewirke, dass man „mit den eigenen Produktionen nie ganz glücklich wird. In diesen Selbstzweifeln sieht man sich noch bestärkt, sobald man sich als Intellektueller an öffentlichen Kontroversen beteiligt und dann die Erfahrung macht, daß sich in der politischen Öffentlichkeit die Kritik an der Sache oft [mit] der Kritik an der Person verquickt.“[8]
Im Rückblick ist Habermas im Handgemenge der Kritik kaum als der zeitlose Klassiker wiederzuerkennen, als der er heute erscheint. Seine Selbstwahrnehmung steht noch im Zeichen der erbitterten Auseinandersetzungen des Historikerstreits (1986/87), dem der Streit über das Erbe der Aufklärung im Philosophischen Diskurs der Moderne (1985) vorangegangen war. Beide hatten Habermas massive, anhaltende Angriffe durch die Frankfurter Allgemeine Zeitung eingetragen, die am Hochschulort Frankfurt eine hoch angespannte lokale Atmosphäre erzeugten. Andererseits hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft auch bereits ihrem 1986 erstmals verliehenen Leibniz-Preis Renommee zu verschaffen gewusst, indem sie unter der ersten Kohorte von Preisträgern auch Habermas auszeichnete.
Die Hamburger Dankesrede zeichnet das Bild eines Wissenschaftlers, der mitten im Streit steht, der auch persönliche Angriffe einstecken muss und der zu diesem Zeitpunkt noch nicht damit rechnen kann, dass sein Werk 30 Jahre später im Kanon des philosophischen und politischen Denkens verankert sein wird. „Umso dankbarer bin ich Ihnen und Ihren Kollegen dafür, daß ich mich für einen zeremoniellen Augenblick von diesen Skrupeln entlastet fühlen darf.“[9] Vor diesem Hintergrund gewinnt die Unterwerfung unter die ihrer wörtlichen Bedeutung entkernte Zeremonie einen spezifischen Sinn. Wenn die Würdigung eine Berechtigung haben kann, dann nicht diejenige, die kritische Auseinandersetzung stillzustellen oder einen Zustand der Umstrittenheit hinter sich zu lassen. Das überlebte Ritual hat den Sinn, einen anderen Gehalt zu transportieren, der sich „direkter Rede spröde entzieht“. Es ist die Achtung vor der verletzlichen Person, die als materielles Substrat allen Auseinandersetzungen zugrunde liegt, und die durch die Ehrung als die eigentliche Produktivkraft wissenschaftlicher Innovation in Schutz genommen wird.
[1] Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt am Main 2001.
[2] Dankesrede vom 14. Dezember 1989, mit Dank für die Überlassung an das Habermas-Archiv der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
[3] Die ZEIT vom 11. Juli 1986. Vgl. Gunter Hofmann, Denker in der Arena, in: Die ZEIT v. 16. Juni 1989.
[4] Brief von Fachbereichssprecher Gerhard Ahrens an das Universitätspräsidium vom 9. Juni 1989, Universitätsarchiv. Mit Dank an Stella Lüneberg für Forschungsassistenz.
[5] Vgl. Rainer Schmalz-Bruns, Reflexive Demokratie, Baden-Baden 1994; Thomas Saretzki, Wie unterscheiden sich Argumentieren und Verhandeln? in: Volker von Prittwitz (Hg.): Verhandeln und Argumentieren, Opladen 1996, S. 19–39.
[6] Hamburger Abendblatt v. 15. Dezember 1989, S. 5; vgl. auch Hamburger Abendblatt vom 16./17. Juni 1989, S. 71.
[7] Stefan Müller Dohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014, S. 327.
[8] Brief an Gerhard Ahrens v. 12. Juni 1989, Universitätsarchiv.
[9] Ebd.