Martin Heidegger, der tief in Süddeutschland verwurzelte Seinsphilosoph, trifft 1929 in Davos auf den Hamburger Kulturphilosophen Ernst Cassirer. Es ist ein konfliktreiches Treffen, das als Divoser Disput in die moderne Philosophiegeschichte eingeht und den Höhepunkt der Beziehung darstellt. Die Auseinandersetzung zwischen Cassirer und Heidegger hat jedoch eine wenig bekannte Vorgeschichte, die in Hamburg beginnt. Ohne sie wird das vermeintliche Großereignis nicht verständlich. Deshalb sei hier ausführlicher auf sie eingegangen.
Dr. Thomas Meyer lehrt an der Ludwigs-Maximilian-Universität München am Lehrstuhl für Philosophie unter den Schwerpunkten Ideengeschichte und jüdische Philosophie des 19./20. Jahrhundert sowie Kulturphilosophie. Er ist Biograph von Ernst Cassirer (Hamburg 2006) und ist in jüngerer Zeit mit Essays zu Hannah Arendt hervorgetreten, unter anderem in Arendts ‚Wir Flüchtlinge‘ und ‚Die Freiheit, frei zu sein‘ (beide Stuttgart 2018).
I.[1]
Ernst Cassirers erste persönliche Begegnung mit Martin Heidegger kann wohl auf das Jahr 1923 angesetzt werden. Der seit 1919 in Hamburg lehrende Philosoph lud seinen Freiburger Kollegen zu einem Vortrag in die Hansestadt ein, den die dortige Kant-Gesellschaft ausrichtete. Womöglich war Cassirer von seinem Marburger Lehrer Paul Natorp auf Heidegger aufmerksam gemacht, der wiederum über Edmund Husserl Kenntnis von Heidegger erhalten hatte.
Am 17. Dezember 1923 also sprach Heidegger vor der Hamburger Kant-Gesellschaft über „Aufgaben und Wege der phänomenologischen Forschung“. Zwei Tage später berichtete er seiner Frau in einer unveröffentlichten Postkarte von dem Aufenthalt in der Hansestadt: „Mein Vortrag ist gut abgelaufen. Großer Zuhörerkreis – nachher im kleinen Kreis Diskussion“. Mit Cassirer habe er über Rückkehrpläne nach Freiburg diskutiert und dabei Einblicke in die Berliner Entscheidungsprozesse erhalten.
Doch diese Mitteilung macht die Postkarte in keiner Weise interessant. Erstaunlich ist vielmehr dies: „Cassirer und andre Professoren die in meinem Vortrag waren, wollen mich im nächsten Herbst für eine Vorlesung in der Bibliothek Warburg haben, von der ich Dir erzählen werde. Vielleicht können wir da dann zusammen fahren.“ Damit war Heidegger zumindest für einen Moment im Zentrum der sich formierenden Hamburger Schule angekommen. Bislang wusste man von einem solchen Kontakt nichts.
In Hamburg wohnte Heidegger bei den engsten Freunden der Cassirer-Familie, dem Ehepaar Clara und William Stern. Deren Sohn Günther wiederum studierte seit 1921 bei Heidegger und würde später unter dem Namen Günther Anders berühmt. „Sterns lassen mich nicht los“, schrieb Heidegger über die beiden berühmten Kinderpsychologen.
Leider ist der Vortrag Heideggers nicht in seinem Nachlass auffindbar. Doch er selbst maß der Diskussion mit Cassirer in Hamburg so große Bedeutung zu, dass sie in dem ersten Hauptwerk „Sein und Zeit“ von 1927 ausdrücklich erwähnt wurde.
II.
Heidegger brachte sich mit „Sein und Zeit“ auch in Hamburg wieder ins Gespräch – Cassirer jedenfalls las das Werk sehr genau. Schließlich hatte er als Verfasser der „Philosophie der symbolischen Formen“ eine Kulturphilosophie etabliert, die auf den freien eigenschöpferischen Menschen setzte und ganz anders als Heidegger nicht die „Frage nach dem Sinn von Sein“, sondern die Problematisierung des „Seins“ seit Platon als wesentlich für sein eigenes Denken empfand. Einen Kollegen, der Cassirer um eine Rezension gebeten hatte, ließ er 1928 allerdings wissen: „Denn so wenig ich mich, rein ‚standpunktlich’ betrachtet, mit Heidegger eins weiss, so schätze ich doch sein Werk als eine höchst bedeutende Leistung, die überall in die Tiefe der philosophischen Probleme zurückdringt“. Im Übrigen müsse man den zweiten Teil der Untersuchung abwarten, um ein endgültiges Urteil abgeben zu können, doch zeichne sich schon jetzt ab, dass Kierkegaard der Schlüssel zu dem Buch sei. Wie wichtig Cassirer gerade „Sein und Zeit“ nahm, zeigt ebenso die Tatsache, dass er im gleichen Jahr in einem Privatseminar den Hamburger Philosophen Joachim Ritter über „Heideggers hermeneutische Phänomenologie und Existenzanalyse“ vortragen ließ. Heidegger wiederum hatte den zweiten Band der „Philosophie der symbolischen Formen“ in der angesehenen „Deutschen Literaturzeitung“ ausführlich kritisch gewürdigt. So sehr sich Heidegger von der Materialfülle des Bandes zum „Mythos“ beeindruckt zeigte, so enttäuscht war vom philosophischen Ergebnis: Die „Ursprungszusammenhänge“, denen sich die Philosophie widmen müsse, kämen bei dem Neukantianer „nicht ans Licht“, so das letztlich abweisende Urteil.
III.
Nachdem kurz hintereinander Heidegger und Cassirer in Frankfurt vorgetragen hatten – beide waren als Nachfolger von Max Scheler im Gespräch – kam es dann im März 1929 zu einer erneuten Begegnung. Dieses Mal in Davos. Heidegger schrieb gleich nach der Eröffnungsveranstaltung an seine Frau in einem bisher unbekannten Brief: „Cassirer ist auch da mit seiner Frau – sehr nette und vornehme Leute“. Außerdem registrierte er unter anderem die Anwesenheit des holländischen Philosophen Hendrik J. Pos und des französischen Germanisten Henri Lichtenberger, der die Kurse eröffnet hatte. Pos wird später von Heideggers Vorträgen so begeistert sein, dass er ihn für den März 1930 zu zwei Veranstaltungen nach Amsterdam einlädt.
Die Vorträge waren gemäß Vorgaben des Frankfurter Soziologen Gottfried Salomon-Delatours konzipiert worden, dem intellektuellen Kopf der Davoser „Hochschulkurse“, die 1929 zum zweiten Mal stattfanden. Cassirer stellte sich unter dem Titel „Grundprobleme der philosophischen Anthropologie“ dem neuerlichen Interesse an dieser wirkmächtig gewordenen Richtung der Philosophie, während Heidegger weitgehend frei über „Kants Kritik der reinen Vernunft und die Aufgabe einer Grundlegung der Metaphysik“ handelte.
Liest man die erhaltenen Mitschriften, dann sieht man, dass Heidegger in den zwei einstündigen und einer zweistündigen Sitzung eine Vorübung zu seinem späteren Buch „Kant und das Problem der Metaphysik“ lieferte, das noch im Sommer 1929 erschien.
Cassirer hatte sich intensiv vorbereitet, wie die ausgearbeiteten Vorträge eindrücklich belegen. Er stützte sich auf sehr exakt konzipierte Beiträge, die einen einzigartigen Einblick in seine Denkwerkstatt geben und die Ernsthaftigkeit dokumentieren, mit der er sich der Herausforderung in Davos stellte. Heideggers Versicherung jedenfalls, er habe in Davos „nichts gelernt“, kann nicht an Cassirers Argumenten gelegen haben.
Die von Cassirer „Heidegger-Vorlesungen“ genannten umfangreichen Aufzeichnungen laufen in vielerlei Hinsicht parallel zu dem im Entstehen begriffenen, letztlich unabgeschlossenen vierten Band der „Philosophie der symbolischen Formen“. Der Wuppertaler Philosoph Gerald Hartung hat darauf aufmerksam gemacht, dass Cassirer darin sein Symboldenken auf die philosophische Anthropologie hin ausweitete, da er, um eine genauere Bestimmung des menschlichen „Tuns“ gegenüber dem metaphysischen „Sein“ geben zu können, eine auf das tätige „Lebewesen“ bezogene spezifische Differenz gegenüber dem bloßen „Dasein“ erläutern musste. Deren inhaltliche Beschreibung sollte eine neue Anthropologie bieten.
Am Beginn von Cassirers Ausführungen findet sich zunächst eine für ihn typische Überlegung: das neuerliche Interesse an der philosophischen Anthropologie, er nennt stellvertretend die Bereiche „Metaphysik (Scheler), Phänomenologie, kritischer Idealismus“, erkläre sich aus der Philosophiegeschichte. Immer wenn das Denken eine bestimmte „Reife“ erlangt habe, immer wenn die Philosophie in den „großen Epochen“ von „Scheidung und Entscheidung, der ‚Krisis’“ ihre Bestimmung gesucht habe, sei sie zur philosophischen Anthropologie zurückgekehrt. Cassirer konnte darin nur eine folgerichtige Konsequenz der Philosophie selbst erblicken, denn sie sei „wesentlich Selbstbestinnung“, die letztlich auf das „Problem der Frage nach dem Wesen des Menschen“ ziele.
Zur Untermauerung seiner These spannte er einen ersten Bogen, der von Empedokles und Heraklit über Platons Dialog „Theaitetos“ hin zu Augustinus’ „Wendung vom esse als dem Sein der Dinge zum Dasein zum Bewusstsein des Menschen“ reicht. Während die Renaissance noch auf dieser „Wendung“ fuße, bringe Kant eine neue Sicht der Anthropologie. Bei dem Königsberger ließen sich zwei Momente nachweisen, die als „polarer Gegensatz“ ernstgenommen werden müssten. Es herrsche die Opposition von „Immanenz und Transzendenz“ oder anders ausgedrückt: von „anthropologischer Relativität“ und „ethischer Unbedingtheit, dem Absoluten des kategorischen Imperativs“. Mit diesem „Ur-Gegensatz“ sieht Cassirer das „Wesen des Menschen am tiefsten gekennzeichnet“. Hier dürfe keine „dogmatisch-metaphysische“ Lösung auf den Plan treten, und die Spannung aufzuheben versuchen. Denn statt „gelöst“ könne der Gegensatz nur „erkannt“ werden.
Diese Einschätzung ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Cassirer Heideggers Restituierung der Ontologie für ein den Menschen verfehlendes Projekt hielt. Die von Heidegger angemahnten „Ursprungszusammenhänge“ waren für Cassirer jedenfalls ein hölzernes Eisen, denn „hinter“ den Menschen zurückzugehen, war für ihn lediglich Ausdruck einer Sehnsucht nach der überwundenen Ontologie.
Die stattdessen eingeschlagene Weg hin zu Kant, die Konstatierung einer philosophiegeschichtlichen Kontinuität und schließlich das Insistieren auf die Freiheit des sich seiner Grenzen bewussten Menschen, waren die klassischen Motive von Cassirers kulturphilosophischem Denken, mit denen er auch Heidegger konfrontierte. Nicht um „Kritik, geschweige eine Polemik“ ging es ihm im Folgenden, sondern darum, anhand der „Philosophie der symbolischen Formen“ die „Probleme“ von „Sprache, Raum und Tod“ vergleichend mit Heideggers Entwurf zu analysieren.
Dabei wurden die Unterschiede in den Ansätzen nunmehr auch von Cassirers Seite deutlich hervorgehoben. Immer wieder insistierte Cassirer auf einen Punkt, den er bei Heidegger gänzlich vermisste: nämlich grundsätzliche Reflexionen über die Notwendigkeit eines „allgemeinen Mediums“, das bloße Entgegensetzungen überwindend, zu neuen Einsichten führt. Sprache, Mythos, Religion und Wissenschaft seien solche „allgemeinen Medien“ oder „symbolischen Formen“. In ihnen finde eine ständige Vermittlung statt, die Wertsetzungen wie „uneigentlich“, „durchschnittlich“ und „eigentlich“ wenn nicht aufhöben, so doch in weniger scharfe Gegensätze als „verwurzelt“-„entwurzelt“ oder „Bodenhaftigkeit“-„Bodenlosigkeit“ überführten.
Doch es geht Cassirer noch um mehr. Auf zwei Seiten klärt er seinen Begriff der „Form“ mit der Absicht, das „Wesen des Menschen“ besser fassen zu können. Damit es zu der Vermittlung in einer „symbolischen Form“ komme, bedürfe es zunächst der Feststellung der „Distanz“ zwischen zwei Gliedern. „Ich“ und „Welt“ etwa seien durch Bewegungen der „Anziehung und Abstoßung“ gekennzeichnet. Das dann durch den Menschen in Gang gebrachte „Wechselspiel“ der beiden ermögliche erst einen „Blickpunkt“, einen „geistigen Horizont“, der die Funktion beispielsweise der Sprache innerhalb dieser Konstellation erkennen lasse. Die Sprache etabliere sich als „symbolische Form“, die durch die „Distanz-Setzung“ zwischen „Ich und der Welt“ notwendigerweise vermittle. Cassirer griff hier ohne weitere Namensnennung auf Hermann Cohens Idee der „Korrelation“ zurück und weitete sie zu einem Erklärungsmodell sämtlicher „symbolischer Formen“ aus.
Nicht beim Stichwort „Raum“, sondern bei der Behandlung des „Todes“ sah Cassirer wieder einen Grund gegeben, auf Heidegger einzugehen. Es war für Cassirer keine Frage, dass „Heideggers gesamte Erörterung auf das Todesproblem zentriert“ ist. Und mit einer sehr persönlichen Anmerkung fuhr er fort: „Aber ich will Ihnen zugleich gestehen, dass ich mich an dieses Problem nur mit Zögern und mit einer gewissen Befangenheit, mit einer inneren Scheu herantaste”. Diese Haltung mag Cassirer nicht überwinden. Und er sagt auch warum: Schon Goethe habe davor gewarnt, die „Urphänomene“, zu denen der Tod gehöre, weiter erklären zu wollen. Solche Phänomene müssten in ihrer „Einheit und Ganzheit“, so setzt Cassirer hinzu, in ihrer „erhabenen Schlichtheit“ gesehen werden, sonst drohe die „Gefahr des Zerschlagens“.
Wenn er sich dennoch auf den „Tod“ als philosophische Frage einlasse, dann um „Heideggers Buch gerecht zu werden“. Trotz der großen persönlichen Bedenken sprach er anschließend ein großes Lob für den Autor von „Sein und Zeit“ aus.
Doch im gleichen Atemzuge markierte er eine Differenz, die aus der „Richtung“ von Heideggers Todesverständnis resultiere. Um sie zu verdeutlichen, wählte Cassirer den „Weg der historischen Orientierung“. Sie beginnt wiederum bei Platon und reicht bis zu Pascal und Schiller. Die Grundaussage dieser vermeintlichen Traditionskette wurde dann zu Cassirers eigener Position: „Der Mensch ist das endliche Wesen, das seine Endlichkeit weiss – und das in diesem Wissen seine Endlichkeit überwindet, und seiner Unendlichkeit gewiss wird“.
Damit war das Feld eröffnet. Cassirer erinnerte Heidegger mit seinen Schlusssätzen an die in „Sein und Zeit“ gemachten Bemerkungen zu Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Im berühmten Paragraphen 6 über die notwendige „Destruktion“ der Philosophiegeschichte annoncierte Heidegger eine neuartige Kant-Interpretation, die aber bisher der Öffentlichkeit nicht vorlag. Zwar hatte er im Wintersemester 1926/27 genau über dieses Projekt eine umfassende Vorlesung abgehalten und zwei Mal in der Berliner Kant-Gesellschaft seine Ergebnisse vorgestellt, doch erst Davos sollte den Durchbruch bringen.
Die Mitschriften von Heideggers Beiträgen geben eindeutige Auskunft darüber, dass sein Versuch letztlich auf eine Lesart Kants hinauslief, die schon den späteren deutschen Idealismus kennzeichnete. Es war Dieter Henrich, der bereits 1955 in seinem bedeutenden Aufsatz „Einheit der Subjektivität“ anlässlich der Neuauflage von „Kant und das Problem der Metaphysik“ diese „Kontinuität der Problemstellung“ nachzeichnete. Ein weiterer, von Henrich schon benannter, wesentlicher Punkt wird durch die Vorträge akzentuiert: dass es Hegel war, mit dem die Auseinandersetzung um Kant geführt wurde. Nicht zuletzt Heideggers erst 2016 publizierter, in Den Haag und Amsterdam gehaltener Vortrag vom März 1930 mit dem bezeichnenden Titel „Hegel und das Problem der Metaphysik“ gibt darüber Aufschluss.
Damit ist schon etwas über die im Protokoll der Diskussion harsch hervortretenden Gegensätze zwischen Cassirer und Heidegger gesagt. Denn was dort in Rede und Gegenrede auf Unvereinbares hinausläuft, gestaltet sich in den Vorlesungen ambivalenter. Heidegger konnte sicherlich mancher Wertung Cassirers zustimmen, etwa der Würdigung des sogenannten „Todesproblems“, während die Assoziation mit Luther ihn gewiss verstört hatte. Aber umgekehrt gilt das nicht minder.
Wenn Heidegger sagte: „Kants ‚Kritik’ ist die erste Grundlegung der Metaphysik in der abendländische Geschichte; Kant gewinnt so reine lebendige Kommunikation mit Plato und Aristoteles“, dann entsprach zumindest der zweite Teil des Satzes exakt Cassirers Programm der Kontinuität in der Philosophiegeschichte. Die Schlussfolgerung hingegen, das „Problem der Metaphysik ist also das Problem eines endlichen Wesens. Die Endlichkeit ist das zentrale Problem der ‚Kritik’“, markierte exakt die Trennlinie zu Cassirers Idee vom „Unendlichen“.
Auch Heideggers Fragenkatalog richtete sich in wichtigen Punkten am Programm des Neukantianers aus: „Wie kann ein Seiendes (Mensch) im vorhinein etwas erkennen, was er nicht selbst ist – . Wie kann ein Seiendes sich selbst übersteigen? Wie ist Transcendenz möglich?“. Der emphatische Schluss in Davos jedoch, wonach es die „Aufgabe der Philosophie“ sei, die „Leidenschaft des Eingangs in das Dasein, in das metaphysische Wesen der Existenz“ zu wecken, konnte nicht zum Schulterschluss zwischen einer auf symbolischen Formen basierenden philosophischen Anthropologie und einer auf der Destruktion der bisherigen Philosophiegeschichte gewonnenen neuen Ontologie führen.
Cassirer sprach genau das Gemeinsame in seinem Eröffnungsstatement in der Diskussion an, wenn er fragte: „Wer ist der Gegner, an den Heidegger sich gewandt hat?“. Tatsächlich liegt hier eine besondere Pointe: In den Vorträgen führte Heidegger ein Zwiegespräch mit dem vom Idealismus Hegels überformten Kant, und erst in der Diskussion fasste er den kritischen Idealismus der Neukantianer Cohen und Cassirer direkt ins Auge.
Man hat häufig und durchaus mit guten Gründen diesen von Heidegger scharf herausgestellten Unterschied zwischen Cassirers und dem eigenen Ansatz als Ausgangspunkt für die Einschätzung der „Arbeitsgemeinschaft“ gewählt. Man könnte den Beginn des Konflikts auch in das Erscheinungsjahr des Jahrhundertwerkes „Sein und Zeit“ verlegen, denn bereits 1927 finden sich dort deutliche Abgrenzungen zu dem späteren Mitdiskutanten. Im Paragraphen 18 etwa führt Heidegger den von Cassirer favorisierten „Funktionsbegriff“ wieder auf die klassische Vorstellung von Substanz zurück, die der Hamburger Philosoph ja gerade am Leitfaden moderner mathematischer Einsichten überwinden wollte. Und von der Idee einer Philosophie der „symbolischen Formen“ samt möglicher „’kulturphilosophischer Aspirationen’“ distanziert sich Heidegger in seinen Reflexionen zur Sprache in aller Klarheit.
Doch viele Interpretationen beziehen noch einen zweiten Aspekt mit ein, indem sie die zeitlichen Abläufe durchbrechen und Heideggers zeitweiliges politisches und philosophisches Engagement für den Nationalsozialismus auf Davos rückprojizieren. Das seit 1973 veröffentlichte Protokoll der „Arbeitsgemeinschaft“ wird dann entweder zum Ausdruck von Heideggers denkerischer „Krise“, die ihn schließlich in die Irre gehen ließ, oder zum Dokument eines Antihumanismus, der sich wahlweise direkt gegen Cassirer oder dessen 1918 verstorbenen Lehrer Hermann Cohen wendet.
Weit mehr als im Buch ringt Heidegger in Davos mit methodischen Fragen, mit Überlegungen zur Wiederbelebung verschütteter Elemente einer noch zu schreibenden Geschichte des Seins, letztlich mit Fragen der Interpretation der Tradition. „Interpretation soll uns den philosophierenden Kant näher bringen, der ins Unbekannte stößt, am Abgrund wandernd. Diese Wanderung am Abgrund müssen wir mitmachen. Um den Abgrund zu sehen, müssen wir in die Höhe dürfen: dies ist die Interpretation. Die scheinbare Neuheit ist nur ein Altes“. Es ist leicht, solche Sätze in einer Geschichte der destruktiven Radikalität einzuordnen, um sie dann mit der Rektoratsrede zu verknüpfen. Die eingängigen „politischen“ Lesarten finden zudem Unterstützung durch die Äußerungen verschiedener Teilnehmer, die zumeist ihre Sympathie mit Heidegger ausdrückten. Cassirer habe „etwas pastoral“ vorgetragen, fand Rudolf Carnap. Er sei gar kein Philosoph, ließ Leo Strauss viele Jahre später wissen, so dass man auf Heideggers Seite habe stehen müssen. „Vertauschte Fronten“ eben, wie Franz Rosenzweig kurz vor seinem Tode 1929 bereits formulierte. Und Emmanuel Levinas bemühte 1987 gar den Vergleich zwischen der Schaffung der Welt und ihrem Ende, um sich, allerdings mit großem Bedauern, gegen den „uninspirierten“ Cassirer zu wenden. Ganz anders Hans Blumenberg, der über Davos durch seinen Lehrer Erich Rothacker Informationen aus erster Hand besaß. Der große Ideenhistoriker fühlte sich in seiner Analyse der „Arbeitsgemeinschaft“ an den Streit zwischen Luther und Zwingli über die Präsenzart Jesu im Abendmahl erinnert. Eine Deutung, die Blumenberg dann in eine klare Parteinahme für Cassirer überführte.
Cassirer, der manches an Heideggers Kant-Buch kritisierte, anderes überraschend zustimmend aufnahm, konnte sehr wohl zwischen dem Gemeinsamen und dem Trennenden unterscheiden. Es waren die Übereinstimmungen, die Cassirer interessierten.
So gegensätzlich die Deutungen sind, in ihnen scheint auch deshalb ein Körnchen Wahrheit zu stecken, weil die Einschätzung der Begegnung von Cassirer und Heidegger bis heute noch immer mehr von Gerüchten als von gesichertem Wissen geprägt ist. Was in Davos „wirklich“ geschah, worüber die beiden Protagonisten in ihren Vorträgen sprachen, ja, wie es zu dem Treffen der beiden Philosophen überhaupt kam, ist dabei nahezu völlig aus dem Blick geraten. Daran änderte auch die Publikation von Cassirers Vorträgen in Davos nichts, die im Hamburger Meiner Verlag im Rahmen der Nachlass-Edition erschienen ist. Es ist müßig zu fragen, ob bei einem anderen Verlauf der Geschichte die beiden Philosophen einander näher gekommen wären. In Davos jedenfalls herrschte Konsens darüber, dass die Maxime „agree to disagee“ durch Heideggers rabulistisches Vokabular keinen Abbruch erlitt. Nicht ohne Grund ging ein Exemplar von „Kant und das Problem der Metaphysik“ mit der Widmung „In Erinnerung an die gemeinsamen Tage in Davos“ an Cassirer. Und auch das letzte Treffen der beiden in Freiburg 1932, wo Cassirer eine Fassung seinen berühmten Textes „Das Problem Jean-Jacques Rousseau“ in Anwesenheit unter anderem von Edmund Husserl, Jonas Cohn, Wolfgang Schadewaldt und Gerhard Ritter vortrug, verlief in kollegialer Harmonie. Noch im Titel klingt dabei Davos herüber.
Die Geschichte von Ernst Cassirer und Martin Heidegger zwischen 1923 und 1932 zeigt die Möglichkeiten und Grenzen von philosophischer Kommunikation – nicht mehr und nicht weniger. Ab 1933 dann sieht Cassirer Heidegger auf der Seite derer, die die Demokratie erst geschwächt, dann verraten haben. Heidegger hingegen wird den ersten ausländischen Besuchern nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges seine Ausgabe der Schriften Kants stolz in die Hand drücken – es ist die Ausgabe Ernst Cassirers. Cassirer ist zu diesem Zeitpunkt im New Yorker Exil sprichwörtlich an gebrochenem Herzen verstorben.
[1] Nochmals für Henning Ritter. – Eine erste Version dieses Textes erschien 2006 in der FAZ. Seitdem erschienen nicht nur die in Davos gehaltenen Vorträge Cassirers, sondern auch zahlreiche Bände innerhalb der kritischen Edition seiner Schriften aus dem Nachlass. Im Falle Heideggers haben die Publikationen der sogenannten „Schwarzen Hefte“ eine heftige, bis heute andauernde Kontroverse ausgelöst. Wenn der Text hier dennoch nur geringfügig überarbeitet erscheint, so weil die neuen historischen Erkenntnisse den seinerzeitigen Wissensstand nicht korrigieren. Heidegger ist, wie Cassirer, nie mehr auf das Davoser Disputation zurückgekommen.
Herr Meyer schreibt, dass Ernst Cassirers erste Begegnung mit Martin Heidegger in das Jahr 1923 fiel. Cassirer allerdings lud nicht seinen Freiburger, sondern vielmehr seinen Marburger Kollegen zu einem Vortrag in die Hansestadt ein, denn Heideggers Vortrag „Aufgaben und Wege der phänomenologischen Forschung“ erwuchs aus seiner Ws 1923/24 an der Marburger Universität gehaltenen Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“ (1994 hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann). Weiter schreibt Herr Meyer, dass Heidegger mit Cassirer Rückkehrpläne nach Freiburg diskutiert habe. Warum hätte Heidegger über Freiburger Rückkehrpläne diskutieren sollen, wenn er bereits in Freiburg ist?
Herr Meyer schreibt, dass „Heidegger [in § 6 „Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie“ von »Sein und Zeit«] eine neuartige Kant-Interpretation“ annonciert habe. Heidegger sagt an dieser Stelle: „Wovor Kant hier [„Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ KrV B 180 f.] gleisam zurückweicht, das muß thematisch und grundsätzlich ans Licht gebracht werden, wenn anders der Ausdruck »Sein« einen ausweisbaren Sinn haben soll.“ (SuZ 23) Sodann schreibt Herr Meyer, Heidegger hätte „im Wintersemester 1926/27 genau über dieses Projekt [einer neuartigen Kant-Interpretation] eine umfassende Vorlesung abgehalten“. Laut Helmuth Vetters »Grundriss Heidegger« (Ein Handbuch zu Leben und Werk. Hamburg 2014. S. 391) lässt sich für das Ws 1926/27 zwar eine in Marburg gehaltene Vorlesung „Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant“ (2006 v. Helmuth Vetter als Bd. 23 d. Gesamtausgabe ediert) nachweisen, dass Heidegger aber „über dieses Projekt [einer Kant-Interpretation] eine umfassende Vorlesung abgehalten“ habe, entspricht nicht dem Textbefund. Heideggers Vorlesung umfasst in der von Helmuth Vetter edierten Gestalt mit Beilagen 242 Seiten, von denen sich aber nur die S. 203–204 („Übergang zu Kant“) und die S. 234–242 („zu S. 204 [Beilagen zu »Kant«]) ausdrücklich mit Kant beschäftigen, mithin beschäftigen sich 11 von 242 Seiten mit Kant. Dieser rein quantitative Befund lässt es nicht zu, von einer „umfassende[n] Vorlesung“ Heideggers, in der er „eine neuartige Kant-Interpretation“ annonciert habe, zu sprechen.
Muss aber der Titel, den Heidegger dieser Vorlesung aus dem Ws 1926/27 gegeben hat, nicht in äußerster Weise befremden, wenn in ihr, deren philosophische Anzeige (man hätte eine philosophiegeschichtliche Anzeige erwartet) sie „als phänomenologische Ontologie“ (Heidegger Vetter 2006 S. 1) ausweist, in fünf Abschnitten Thomas von Aquin, René Descartes, Baruch de Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff und seine Schule, aber nicht Kant, behandelt werden? Zu dieser sofort in die Augen stechenden Diskrepanz von Ankündigung und Ausführung seiner Vorlesung bemerkt Heidegger: „Diese Vorlesung [ist] das erste durch sogenannte Unterrrichtsnotwendigkeiten geforderte ›übliche‹ Übersichtskolleg. Trotzdem wird versucht, die Hauptzüge der Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant zu entwickeln.“ (Heidegger Vetter 2006 S. 243) Helmuth Vetter kommentiert die Notwendigkeit, vor die sich Heidegger als Universitäts-Lehrer in dieser Zeit gestellt sieht, ein Übersichtskolleg, das den Anspruch der Umfassendheit gar nicht erheben muss, abhalten zu müssen, wie folgt: „Für beide Vorlesungen [diese und die Vorlesung „Die Grundbegriffe der antiken Philosophie“ aus dem Ss 1926] gilt, daß ihre Ausarbeitung in die Zeit der Niederschrift bzw. des Abschlusses von »Sein und Zeit« fällt.“ (Heidegger Vetter 2006 S. 244)
In der Tat, der Duktus der Vorlesung Heideggers aus dem Ws 1926/27 weist eindeutig auf ein Beschäftigt-Sein und auf ein In-Atem-Gehalten-Sein mit der Frage nach dem Sinn von Sein, wie dieselbe in Heideggers erstem Hauptwerk 1927 ihre bedeutsame Inauguration fand, hin, anstatt, wie Herr Meyer meint, dass sie das Projekt einer neuartigen Kant-Interpretation darbiete, denn der letzte und abschließende § 48 dieser Vorlesung ist „Überleitung zum Problem des Ansatzes der Seinsfrage“ (Heidegger Vetter 2006 S. 205) überschrieben. Der letzte Satz dieses Paragraphen, mithin der letzte Satz der Vorlesung, lautet: „Frage nach dem Sein in der Philosophie, nach dem Seienden in den positiven Wissenschaften – in der Existenz verwurzelt?“ (Heidegger Vetter 2006 S. 205)
Aus dem Dargelegten kann geschlossen werden, dass Heidegger in gar keiner Weise, wie Herr Meyer insinuiert, in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre (1926–1930), in denen seine beiden Schriften »Sein und Zeit« (1927) und »Kant und das Problem der Metaphysik« (1929) erschienen sind, eine neu- oder anders-, als bisher geübte, artige Kant-Interpretation, die die offenkundigen Mängel der neukantianischen Interpretation Kants auszugleichen sucht, anzubieten. Diese von Herrn Meyer verfochtene These irrt in grundlegender Weise, denn sie berücksichtigt nicht, dass Heidegger an Kant eine ebenso radikale, und bisher unerhörte, Kritik übt, wie er radikale Kritik an der Philosophie, eingeschlossen derjenigen Ernst Cassirers, geübt hat, insofern dieselbe es in ihrer Metaphysik-Verfallenheit verabsäumt habe, die Frage nach dem Sein, die die einzig relevante für sie zu sein hat, zu stellen.
An dem Beispiel Kant lässt sich Heideggers radikale Kritik an der gesamten bisherigen Philosophie anhand der Beilagen, die er seiner Vorlesung aus dem Ws 1926/27 mitgegeben hat, darstellen, die unter der eingeklammerten Überschrift „Schematismus-Problem“ (Heidegger Vetter 2006 S. 239–242) stehen und die sich auf Kant beziehen. Eingangs dieses Abschnittes zitiert Heidegger Erich Adickes als einen für Kants nachgelassenes Schrifttum führenden Forscher, der in seiner Ausgabe der »Kritik der reinen Vernunft« (Berlin 1889) gesagt hat, „nach meiner Ansicht ist dem Abschnitt über den Schematismus gar kein wissenschaftlicher Wert beizumessen, da er nur aus systematischen Gründen später in dem ›kurzen Abriß‹ eingesetzt ist“ (Heidegger Vetter 2006 S. 239). (Heideggers Adickes-Zitat ist von Vetter irrtümlich, mit der Angabe „Adickes, 338, 1918, Kantstudien“, nachgewiesen worden. Es müsste, wie in Bd. 21: Logik. Die Frage nach der Wahrheit. Marburger Vorlesung Ws 1925/26. Hrsg. v. Walter Biemel. S. 358 steht, „1989. S. 171 Anm.“ lauten.) Dieser fundamentalen Kritik Erich Adickes‘ an Kant schließt Heidegger sich an. Jedoch fügt er hinzu: „Aber auf der anderen Seite genügt es auch nicht, nun ebenso dogmatisch und blind einfach die Wichtigkeit des Schematismus zu betonen, sondern es kommt auf das Verständnis der Phänomene an, auf die Kant stößt und die er in keiner Weise bewältigte.“ (Heidegger Vetter 2006 S. 239)
Mit dieser einerseits von der gelehrten Kant-Philologie übernommenen, andererseits von Heidegger eigenständig geübten Kritik an Kant ist derjenige Punkt, dem Heidegger in seiner Marburger Vorlesung aus dem Ws 1925/26 „Logik. Die Frage nach der Wahrheit“ (1976 v. Walter Biemel als Bd. 21 d. Gesamtausgabe ediert) bereits in der Nennung des Schematismus der Verstandesbegriffe, beginnend mit S. 194, endend mit S. 408, einen überaus breiten Raum eingeräumt hat, benannt, auf den allein es Heidegger ankommt, der, um in der Sprache, die er Mitte der dreißiger Jahre wählte, zu bleiben, als ein phänomenologischer Punkt hermeneutischer Exegese bezeichnet werden kann, denn Heidegger ist in dieser Zeit vor allem um ein rechtes „Verständnis der Phänomene“ (Heidegger Vetter 2006 S. 239) bemüht, nicht um eine neuartige Kant-Interpretation.