Siegfried Landshut (1897-1968) verstand sich als Politikwissenschaftler, bevor es das Fach überhaupt gab. Seinen beiden gescheiterten Hamburger Habilitationsversuchen mit den Schriften Kritik der Soziologie und Historisch-systematische Analyse des Begriffs des Ökonomischen folgten Vertreibung und Flucht in den Nahen Osten, über die Rainer Nicolaysen in seinem Beitrag berichtet hat. 1951 wurde Landshut auf den ersten politikwissenschaftlichen Lehrstuhl an der Universität Hamburg berufen, den er bis 1965 innehatte.
Wolfgang Knöbl (* 1963) ist seit 2015 Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) und seit 2017 Professor für Politische Soziologie und Gewaltforschung an der Leuphana Universität Lüneburg. Unter seiner Federführung veranstaltet das HIS seit 2018 die Siegfried Landshut Lectures und vergibt den Siegfried Landshut-Preis. Seine jüngste Monographie, gemeinsam mit Thomas Hoebel, ist Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie. Hamburg: Hamburger Edition, 2019.
Den Schriften Siegfried Landshuts soziologische Aktualität zusprechen zu wollen, dürfte nur wenigen sofort einleuchten – und dies aus verschiedenen Gründen. Denn nicht nur hat sich dieser von den Nationalsozialisten aus Hamburg vertriebene und dann nach dem Zweiten Weltkrieg an die Universität Hamburg zurückgekehrte Gelehrte immer zuallererst als Politikwissenschaftler verstanden, was sein Biograph Rainer Nicolaysen gegen alle Versuche der Vereinnahmung durch die Disziplin der Soziologie zurecht immer wieder betont hat.[i] Kennern der Geschichte der Sozialwissenschaften in der Weimarer Republik dürfte zudem im Gedächtnis geblieben sein, dass Landshut eben mit einer Schrift bekannt wurde, die den Titel „Kritik der Soziologie“ trug, so dass man schon allein deshalb Zweifel bezüglich der Relevanz von Landshuts Schriften für die heutige Soziologie anmelden könnte. Genau dies aber soll im Folgenden behauptet werden, was freilich bedeutet, dass man sich das Oeuvre Landshuts genau anschauen muss, denn nicht alles, was Landshut veröffentlichte, hat – wie könnte es auch anders sein – die Zeit überdauert.
Womit man vielleicht heute am wenigsten in der Soziologie anzufangen weiß, das ist das neoaristotelische Politikverständnis von Landshut, wie es wirkungsvoll zum Tragen kam, als er – seit 1951 an der Hamburger Universität etabliert – mit dazu beitrug, dass die Politikwissenschaft als Disziplin in Westdeutschland institutionalisiert werden konnte. Landshut hatte bereits in einem frühen Aufsatz aus dem Jahre 1925, in „Über einige Grundbegriffe der Politik“, eine Position bezogen, an der er sein Leben lang festhalten sollte, nämlich dass sich das Politische nicht über „Macht“ oder „Herrschaft“ definiert, sondern über die Zielsetzung der Gesellschaft. Erst „die Orientierung auf“ das „Miteinander-Zusammenleben“ in einer größeren Gemeinschaft stellt den „angemessenen Horizont“ bereit, „in dem vielleicht das orientierungslos gewordene politische Handeln eine Anweisung finden kann.“[ii] Landshut greift hier zurück auf ein Politikverständnis, das von der griechischen Antike bis in die frühe Neuzeit gültig war und das davon ausging, dass sich das, was als (angemessenes) politisches Handeln zu definieren sei, nur über ein Verständnis einer guten, auf den Tugenden von Bürgern basierenden Gemeinschaft erfassen lasse. Man kann diesen Versuch einer „Wiederentdeckung“ oder „Wiedergewinnung“ der Politik mit viel Sympathie gegenüberstehen – und als Kritikfolie für eine Auseinandersetzung mit moderneren Politikkonzeptionen ist er allemal nützlich und hilfreich. Doch gilt gleichzeitig auch, dass, erstens, Landshut selbst (wie übrigens die meisten Neo-Aristoteliker) wenig dazu beigetragen hat, die sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen zu untersuchen, vor deren Hintergrund dieses „alte“ Politikverständnis seine Plausibilität und unmittelbare Evidenz verloren hat und damit zu fragen, ob in modernen Gesellschaften darauf überhaupt noch umstandslos zurückgegriffen werden kann. Udo Bermbach, von 1971 an selbst Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg, hat zurecht darauf aufmerksam gemacht, dass Landshut schlicht daran scheitern musste, jene „‘Einheit der gesellschaftlichen Lebensführung‘“ in modernen Gesellschaften genauer zu definieren[iii], was er aber hätte tun müssen, um eben auch eine konkrete Vorstellung von Politik präsentieren zu können. Zweitens wird man, wenn man über die Wurzeln dieses neoaristotelischen Politikverständnisses genauer informiert sein will, heute eher auf Arbeiten von Wilhelm Hennis zurückgreifen, weil dieser 1963 (also ein Jahr, nachdem er Landshuts Kollege in Hamburg geworden war) mit „Politik und praktische Philosophie“[iv] eine mittlerweile klassische Untersuchung hierzu vorgelegt hat, die sehr viel konziser, als dies bei Landshut der Fall ist, den historischen Wandel der Semantik des Politischen nachzeichnet, selbst wenn man natürlich – worauf Jürgen Habermas aufmerksam macht – nicht übersehen kann, dass Landshut seine Argumente anders als Hennis auch aus den Frühschriften von Marx bezog.[v]
Nicht die im engeren Sinne politische Theorie Landshuts wird und soll also die heutige Soziologie rezipieren. Was an Landshut aus soziologischer Sicht vielleicht aktueller ist als je zuvor, das sind seine beiden Habilitationsschriften, mit denen er in seinen Hamburger Jahren vor 1933 universitär scheiterte: Die erste Habilitationsschrift, aus der dann sein schon genanntes Buch „Kritik der Soziologie“ hervorgehen sollte, wurde aufgrund des massiven Widerstandes des späteren nationalsozialistischen Soziologen Andreas Walther 1928 zurückgezogen; Landshuts zweite Habilitationsschrift, „Historisch-systematische Analyse des Begriffs des Ökonomischen“, wurde erst postum veröffentlicht, auch deshalb, weil das gesamte Habilitationsverfahren aufgrund der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 nicht mehr zum formellen Abschluss gebracht werden konnte und die Schrift damit gewissermaßen sinnlos geworden war. Warum nun sind gerade diese beiden frühen Hamburger Arbeiten soziologisch so interessant?
Worauf schon des öfteren hingewiesen worden ist, war der Buchtitel „Kritik der Soziologie“ von Landshut nicht selbst gewählt worden[vi], auch wenn das Buch vielleicht, als es 1929 erschien, gerade deshalb so besonders aufmerksam rezipiert wurde. In Wahrheit ging es aber Landshut natürlich nicht um eine Kritik dieses Faches: Weder hegte er – wie noch etwa Wilhelm Dilthey – gegenüber dieser Disziplin einen ausgesprochenen Positivismusverdacht, noch wollte er – wie etwa Georg von Below – mit allen Mitteln die Etablierung der Soziologie als Einzelwissenschaft verhindern.[vii] Was ihn vielmehr in jener „Kritik der Soziologie“ umtrieb, war eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Wissenschaftsverständnis der Sozialwissenschaften, wie er es eben auch in den Schriften von Max Weber oder von Ferdinand Tönnies vorfand und das er kritisch reflektierte. Drei Aspekte waren ihm dabei besonders wichtig, Aspekte, die auch heute noch absolut zentral sind oder zumindest zentral sein sollten für ein angemessenes Selbstverständnis der Sozialwissenschaften:
1) Landshut kritisierte die Orientierungslosigkeit der Soziologie hinsichtlich ihrer ureigenen Fragestellung, wobei er nicht zuletzt auf ein Selbstmissverständnis Max Webers aufmerksam machte, der zumindest in seinen wissenschaftstheoretischen Schriften einem rein subjektivistischen Wissenschaftsverständnis huldigte und über seine neukantianisch inspirierte Rede von der unendlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit vergaß, systematisch nach der geschichtlichen Problematik der Soziologie zu fragen. Weber – so Landshut – war also allzu schnell bereit, den historischen Sachcharakter der Soziologie als neuer Disziplin zu ignorieren.[viii] Anders formuliert: Die Frage nach dem geschichtlichen Ort soziologischen Fragens sei von Weber und den anderen Gründungsvätern der Disziplin (nicht jedoch von Marx) ausgeblendet worden. Landshut stieß hier auf eine Frage, wie sie ein Jahrzehnt später in der US-amerikanischen Soziologie formuliert worden ist, eine gegen die Überspezialisierung der Disziplin gerichtete Frage, die eben auch heute noch aktuell ist: „Knowledge for What?“[ix]. Aber allein dabei beließ es Landshut nicht. Ebenso wie eine stärkere Orientierung an praktischen Fragen hat Landshut von Sozialwissenschaftlern eingefordert, dass sie den geschichtlichen Standort, an dem wissenschaftliche Probleme formuliert werden, reflektieren müssten. Heute – und belehrt von postkolonialen Debatten – würde man vermutlich sagen, nicht nur den geschichtlichen, sondern auch den geographischen oder kulturellen Standort gilt es zu beleuchten, weil man ansonsten Gefahr läuft, Fragerichtungen zu verfolgen und Antworten zu geben, die entweder höchst irrelevant oder höchst partikular sind. Landshut war also wie wenige andere in der damaligen Zeit bereit, die Selbstreflektion der Sozialwissenschaften im Hinblick auf ihr Tun voranzutreiben.
2) Landshut wendete sich auch scharf gegen die in der Soziologie, etwa bei Ferdinand Tönnies, zu findenden scharfen begrifflichen Dichotomisierungen, die dieser Disziplin dann unter der Hand oft dazu dienen, Entwicklungsverläufe zu formulieren nach dem Motto: von der Gemeinschaft zur Gesellschaft. Er ruft stattdessen dazu auf, all diese Dichotomien zu historisieren[x], sind diese doch in einem bestimmten historischen Kontext entstanden, was es dann nicht erlaube, sie gewissermaßen als zeitlose Grundbegriffe zu behandeln. Vor dieser Gefahr sei gerade eine nominalistische Begriffsbildung, wie sie etwa in aller Schärfe und Prägnanz von Max Weber vorangetrieben wurde, nicht gefeit[xi], weil aufgrund der genannten Konstruktionsweise der Begrifflichkeit allzu schnell vergessen werde, wie es zur je besonderen Ausprägung des Begriffes überhaupt kam, welche Kontexte hier eine Rolle spielten, so dass aus Idealtypen nur allzu schnell Realtypen würden, die als zeitlose Instrumente fungieren. – Man dürfte nicht fehlgehen in der Annahme, dass heutige Prozessbegriffe, wie sie in der Soziologie beheimatet sind und die auf eben solchen begrifflichen Dichotomisierungen aufsitzen (sakral – säkular: Säkularisierung; traditional – modern: Modernisierung etc.) gerade deshalb immer problematischer werden, weil die von Landshut eingeforderte historisierende begriffliche Reflexion nie ernsthaft stattgefunden hat.
3) Landshut machte in seiner „Kritik der Soziologie“ auch deutlich, dass sich Disziplinen nicht über Methoden definieren. Disziplinen erwachsen aus einer – das lernte Landshut von Marx[xii] – praktischen Fragestellung, die räumlich und zeitlich kontextualisiert ist. Nicht ein methodisch spezifisches und sauberes Vorgehen charakterisiert in erster Linie eine (gute) soziologische Arbeit, sondern eine interessante Fragestellung, mithin eine, die laut Landshut notwendig darin bestand, soziale und politische Phänomene vor dem Hintergrund der zentralen Dialektik von Freiheit und Gleichheit zu untersuchen.[xiii] Obsolet dürfte die damals von Landshut ausgemachte Zentralfrage der Gesellschaftswissenschaften heute nicht sein, ob sie genau so noch gestellt werden kann und muss, darüber lässt sich wohl trefflich streiten. Aber Landshuts Soziologiekritik kann auch heute noch dazu dienen, den gängigen Methoden- und Theoriefetischismus in der Disziplin zu hinterfragen, der darauf hindeutet, dass man nicht mehr an den das Fach bewegenden Sachfragen interessiert und daran orientiert ist, sondern am bürokratischen und reflexionslosen Abarbeiten von irgendwelchen einmal gefundenen oder vorgegebenen Problemen, wie wichtig oder unwichtig diese auch immer sein mögen.
Aus Landshuts zweiter Habilitationsschrift „Historisch-systematische Analyse des Begriffs des Ökonomischen“ lässt sich schließlich noch ein weiterer systematischer Punkt gewinnen, der die zuletzt genannten drei Aspekte ergänzt. Auch wenn diese Schrift heute schwerlich als ein Gründungstext etwa der Wirtschaftssoziologie wird gelten können, ist sie nichts desto trotz gerade deshalb so interessant, weil Landshut aufgrund seiner historisierenden Vorgehensweise bestimmte differenzierungstheoretische Grundannahmen der Soziologie, konkret jene These von der Ausdifferenzierung der Wirtschaft, fundamental problematisiert. Landshut sieht sehr wohl, dass sich ökonomische Verflechtungen in modernen Gesellschaften nicht mehr so einfach handlungstheoretisch einholen lassen: Den Markt geisteswissenschaftlich analysieren zu wollen, hält er für ein aussichtsloses Unterfangen, zu opak sind die Marktstrukturen und -kräfte geworden, die sich hinter dem Rücken der Akteure herausgebildet haben. Dies aber heißt für ihn eben nicht – und das macht erneut Landshuts Aktualität aus –, dass es eine allgemeine, zeitlose Wissenschaft von der Wirtschaft geben könne.[xiv] Der Markt ist immer schon historisch konstituiert, befindet sich damit immer auch schon im Wandel, womit er der These vom Vorherrschen zeitloser Gesetze in der Ökonomie vehement widerspricht. Auch wenn Landshuts Position mit Blick auf die Ökonomie nicht immer konsistent ist[xv], so schärfen seine Reflexionen (im Übrigen auch die theoretischen Probleme, auf die er stößt und die er nicht lösen kann) bei den heutigen LeserInnen das Bewusstsein dafür, dass Soziologie nicht anders als eine historische Wissenschaft betrieben werden kann und soll.
Nicht zuletzt deshalb hat sich das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) dazu entschlossen, den Siegfried-Landshut-Preis ins Leben zu rufen, der im Jahr 2018 dem britisch-amerikanischen Soziologen Michael Mann[xvi] verliehen wurde und der 2019 an den US-Amerikaner George Steinmetz gehen wird.[xvii] Die damit verbundenen Landshut-Lectures rufen dabei Problematiken auf, an denen Landshut zeitlebens gearbeitet hat.
[i] Rainer Nicolaysen, Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie. Frankfurt/Main 1997.
[ii] Siegfried Landshut, „Über einige Grundbegriffe der Politik“ (1925), in: Siegfried Landshut. Politik. Grundbegriffe und Analysen. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk in zwei Bänden. Band I (herausgegeben von Rainer Nicolaysen). Berlin 2004, S. 327-394, hier S. 328.
[iii] Udo Bermbach, „Einige Fragen zu Landshuts Politikverständnis“, in: Rainer Nicolaysen (Hg.), Polis und Moderne. Siegfried Landshut in heutiger Sicht. Berlin und Hamburg 2000, S. 165-173, hier S. 172.
[iv] Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft. Neuwied am Rhein 1963.
[v] Jürgen Habermas, „Eine persönliche Bemerkung zur Rezeption der Schriften von Siegfried Landshut“, in: Politik 100×100 (https://politik100x100.blogs.uni-hamburg.de/habermas-bemerkung-landshut/ )
[vi] Der Titel war vom Verlag vorgeschlagen worden.
[vii] Vgl. etwa Erhard Stölting, Akademische Soziologie in der Weimarer Republik. Berlin 1986, S. 94ff.
[viii] Siegfried Landshut, „Kritik der Soziologie – Freiheit und Gleichheit als Ursprungsproblem der Soziologie“, in: Siegfried Landshut. Politik. Grundbegriffe und Analysen. Band I, S. 43-188, hier S. 52ff.
[ix] Robert S. Lynd, Knowledge for What? The Place of Social Science in American Culture, New York 1964 [1939].
[x] Landshut, „Kritik der Soziologie“, S. 64f.
[xi] Ibid., S. 78ff.
[xii] Ibid., S. 120.
[xiii] Ibid., S. 185.
[xiv] Landshut, „Historisch-systematische Analyse des Begriffs des Ökonomischen“, in: Siegfried Landshut. Politik. Grundbegriffe und Analysen. Band I, S. 189-290, hier S. 284f.
[xv] Birger Priddat, „Der Begriff des Ökonomischen bei Siegfried Landshut“, in: Nicolaysen (Hg.), Polis und Moderne, S. 147-163.
[xvi] Vgl. https://www.his-online.de/das-institut/siegfried-landshut-preis/
[xvii] Der Siegfried Landshut Preis wird am 28. Januar 2020 am Hamburger Institut für Sozialforschung (Mittelweg 36) verliehen (Beginn 19.00 Uhr) verbunden mit einem Vortrag von George Steinmetz zum Thema „Soziologie und Kolonialismus: Die Beziehung zwischen Wissen und Politik“. Eine zweite Vorlesung von Steinmetz wird am 30. Januar 2020 stattfinden, ebenfalls um 19 Uhr.