Olaf Asbach ist seit 2009 Universitätsprofessor für Politikwissenschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Ausgehend von seiner Heisenberg-Professur „Europa und Moderne“ erforscht er die ideengeschichtlichen Grundlagen der Herausbildung politischer Institutionen in Europa seit der Neuzeit. Die rezensierte Publikation steht repräsentativ für seinen Forschungsschwerpunkt zur Entstehung des modernen Europa und Europadenkens.
Maren Hofius ist ebenfalls seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur für Politikwissenschaft, insbesondere Global Governance. Sie forscht zu Prozessen der Gemeinschaftsbildung und Grenzpraktiken in den internationalen Beziehungen. Sie teilt mit Olaf Asbach das Interesse an den teils widersprüchlichen und sich durch Brüche kennzeichnenden Konstruktionsprozessen von Identität im Kontext der europäischen Integration.
Der Scheint trügt. ‚Europa‘ ist nicht das, was es zu sein scheint – zumindest entbehrt die Gleichsetzung ‚Europas‘ mit dem christlichen Abendland über viele Jahrhunderte jedweder realpolitischen Grundlage. Der Schein des natürlich gegebenen ‚Europas‘ basiert vielmehr auf einer Identitätspolitik, die nicht erst seit der Gegenwart, sondern bereits während der Renaissance ‚Europa‘ diskursiv zu fixieren versucht und ihm einen kulturellen Ursprung mit teleologischer Entwicklung zuschreibt. Wie ein roter Faden zieht sich diese Feststellung durch das 198-seitige Buch „Europa – Vom Mythos zur Imagined Community? Zur historischen Semantik ‚Europas‘ von der Antike bis ins 17. Jahrhundert“ von Olaf Asbach, das 2011 im Wehrhahn Verlag erschienen ist. ‘Europa‘ besitzt demnach keinen Wesenskern, der, wie so oft behauptet, seinen ontologischen Ursprung in der Antike findet. Vielmehr muss der Europabegriff selbst erst zu einer eigenständigen Leitkategorie erfunden werden, und das zunächst als zweckrationales Mittel, um den Einheitszusammenhang nach dem Niedergang der christlichen Ordnungsvorstellung zu ersetzen. Eine kulturelle Aufladung erfährt der Europabegriff erst gen Ende des 16. Jahrhunderts und gleicht zur Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert dennoch einem Paradoxon: ‚Europa‘ fungiert als imaginary oder Bedeutungshorizont, der einen hinreichend allgemeinen Orientierungsrahmen für die Pluralität an politischen Ordnungen auf dem europäischen Kontinent schafft. Jedoch kann er niemals endgültig definiert oder auf eine finite Anzahl von Eigenschaften reduziert werden. Frei nach Koselleck kann ‚Europa‘ als gelebtes Konzept nur interpretiert werden.
Natürlich, so zeigt es Asbach in seinem Buch auf, gibt es Begrifflichkeiten wie die durch Machiavelli ins Spiel gebrachte „Tapferkeit“ und den „Sinn für Freiheit“[i], die mit ‚Europa‘ als Alleinstellungsmerkmal gegenüber Asien und Afrika assoziiert werden; auch gibt es die durch Humanisten wie Enea Silvio Piccolomini geprägte Annahme einer „gemeinsamen Kultur“ ‚Europas‘, die im vorchristlichen Griechenland begründet sein soll[ii]. Dennoch macht Asbach unmissverständlich deutlich, dass diese eine Europaidee begründenden Charakteristika nicht bereits in der Antike angelegt wurden, sondern vielmehr Ergebnis einer „antikisierenden ‚Erinnerungsgemeinschaft‘“[iii] sind, in der „die Antikenrezeption eine konstitutive Bedeutung für die geistig-kulturelle Selbstbestimmung und […] für die Selbstverortung in Raum und Zeit“ erhält[iv]. Der Europabegriff selbst wird im 15. und 16. Jahrhundert nur „äußerst selten“ mit der Idee einer historisch gewachsenen Gemeinschaft in Verbindung gebracht wird[v]. Nur allmählich, so zeigt es Asbach über die historische Rekonstruktion des Begriffes, breitet sich der Begriffsnennung quantitativ aus und erlebt insbesondere durch die Ablösung von der christianitas als Bezugsrahmen einen stetig zunehmenden Bedeutungsgehalt.
Konzeptionell geht es Asbach augenscheinlich um die historische Semantik ‚Europas‘, um die Vergegenwärtigung, dass die Bedeutungszuschreibung und letzten Endes die temporäre Festschreibung des Europabegriffs nicht organisch, sondern idiosynkratrisch über den selektiven Rückgriff auf bereits bestehende diskursive Ressourcen und Denkfiguren verläuft. Ohne konkret benannt zu werden, kommt die von Asbach verwendete Methode einer Genealogie gleich, in der es ihm gerade nicht um die Darstellung einer linearen Begriffsgeschichte geht, sondern um die Kontingenz des Begriffs, dessen angebliche ‚historische Kontinuität‘ Ergebnis eines diskontinuierlichen Konstruktionsprozesses ist, der seinen Ausdruck vorwiegend in kartographischen, ikonographischen und allegorischen Repräsentationen findet[vi]. Hobsbawms „invention of tradition“ beim Nationenbau ähnelnd, erhält ‚Europa‘ laut Asbach erst seine sinnstiftende Einheit durch diskursive Praktiken, kurz das ‚Erschreiben‘ einer “Herkunft, Tradition und Geschichte“[vii]. Die imaginierte und normativ gewünschte Einheit ‚Europas‘ eilt der (wenn überhaupt) gelebten Einheit ‚Europas‘ demnach immer voraus: ‚Europas‘ „imaginierte Vergangenheit“ kann so zur „erhofften Zukunft“ werden[viii].
Mit dem Anspruch, die Semantik ‚Europas‘ bis zum 17. Jahrhundert historisch-kritisch zu rekonstruieren, ist demnach auch das grundlegende Anliegen verbunden, ‚Europa‘ selbst als Konzept zu begreifen und seine Entwicklung zum „Grundbegriff“ nachzuzeichnen, der diversen Akteuren einen Orientierungsrahmen bietet, in dem sie einen gemeinsamen Handlungszusammenhang als Gemeinschaft bilden können. Nach dem Historiker Koselleck, auf den sich Asbach beruft, stellen „Grundbegriffe“ jene Begriffe dar, deren Sinngehalte für unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig sind[ix]. Man könnte demnach folgern, sie seien zum Teil des Commonsense eines sich seinem Selbst bewussten Kollektivs geworden, der nicht mehr hinterfragt und als selbstverständlich angenommen wird.
Diese Schlussfolgerung liegt nahe und mag auf den ersten Blick und in Teilen für die Wende vom 17. zum 18. Jahrhunderts auch zutreffen. Und doch ist dies weit gefehlt. Ausgehend von der Antike über das Mittelalter bis hin zur Renaissance zeichnet Asbach ein weitaus komplexeres Bild der Verwendung des Europabegriffs, welches sich einer teleologischen Geschichtsschreibung ‚Europas‘ gänzlich entzieht: Während ‚Europa‘ nicht mehr als eine geographische Kategorie für die eigene Verortung der Griechen in der Welt und zu keinem Zeitpunkt Teil ihres Selbstverständnisses darstellte, nahm der Europabegriff auch im Mittelalter keine tragende Rolle in der Bewusstseinswerdung des ‚mittelalterlichen Europas‘ ein[x]. Ganz im Gegenteil, so Asbach, ist jenes Mittelalter vom politisch-theologischen Denken des Christentums als Ordnungsprinzip durchdrungen[xi], das ‚Europa‘ als eigenständigen Orientierungszusammenhang ausschließt[xii]. Würde man beispielsweise „die Ausbildung von räumlichen, materiellen und soziokulturellen Strukturen“ während des Mittelalters bereits als hinreichende Bedingung für die Herausbildung eines gelebten ‚Europas‘ annehmen, käme das laut Asbach einem „organizistisch verfahrenden Konstruktivismus“ gleich[xiii].
Wenn es kontinuierliche, die Jahrhunderte überdauernde Muster zu identifizieren gilt, dann sind es die ineinander wirkenden Mechanismen, mithilfe derer ‚Europa‘ nicht nur zu einem geographischen Vorstellungsraum, sondern letztlich im 18. Jahrhundert auch zu einer politischen Ordnungskategorie mit einheitsstiftender Wirkung geschaffen wird. Diese Mechanismen findet man einerseits in den produktive Aneignungsprozessen des Europabegriffs, die sich in der inter-textuellen Verkopplung bereits existierender, aber vormals nur lose miteinander verbundener Beschreibungen zeigen; andererseits sind es die Modi der Differenzbildung sowie die Abgrenzung gegenüber ‚anderen‘ Akteuren und Objekten, die die Grundlage für die den europäischen Kontinent bewohnenden Völker legen, sich des Selbst bewusst zu werden und ‚Europa‘ als den ‚eigenen‘ soziokulturellen Bezugsraum wahrzunehmen. So nehmen bereits die Griechen eine dichotome Selbst- und Fremdwahrnehmung durch ein ‚Wir‘ („zivilisiert“) gegen ‚die Perser‘ („barbarisch“) vor, auch wenn das ‚Wir‘ der Griechen keineswegs mit ‚Europa‘ als Leitkategorie in Zusammenhang steht[xiv]. Auch nach Zusammenbruch des oströmischen Reichs verhilft der Topos der ‚Türkengefahr‘[xv] die Christenheit gegenüber ‚Ungläubigen‘ zu einen, auch wenn die Christenheit zu keinem Zeitpunkt auf den europäischen Kontinent geographisch beschränkt ist, sondern Kraft der Vorstellung die gesamte Welt umfasst. Unabhängig also von diesen fehlenden objektiven Übereinstimmungen mit ‚Europa‘ stellen diese Differenzbildungen eine ermöglichende Struktur für spätere Abgrenzungen oder Trennlinien dar. Das dichotome Abgrenzungsschema der Griechen „zivilisiert“ vs. „barbarisch“ stellt bspw. eine Voraussetzung für die spätere Trennlinie „europäisch“ vs. „nicht-europäisch“ dar, bei der „europäisch“ verstärkt mit dem christlichen Abendland in Verbindung gebracht wird. Die Essentialisierung eines homogenen christlichen Abendlands funktioniert demnach vorwiegend über die Differenzbildung zwischen dem Selbst und Anderen, die dann auch zur kulturellen Aufwertung des Eigenen und Abwertung des Anderen führt. Ein Wesen ‚Europas‘ lässt sich demnach nur durch Antagonismen des imaginierten ‚Innen‘ und ‚Außen‘ konstruieren, wobei das Außen immer über die inneren Konflikte und Unterschiede hinwegtäuschen soll. Sucht man nach dem Wesenskern ‚Europas‘, so Asbach, findet man keine einheitlichen Bedeutungszuschreibungen, sondern nur eine Vielzahl von politischen Ordnungen auf dem europäischen Kontinent, die qua Europabegriff legitimiert werden und somit eine gemeinsame Klammer erhalten[xvi].
Dieses funktionale Fazit könnte Leser*innen schnell desillusioniert zurücklassen, scheint der Europabegriff nun bedeutungsleer und rein zweckmäßig durch interessengeleitete Akteure eingesetzt zu werden. Dies jedoch nur, wenn wir den zweiten, weit wichtigeren Punkt von Asbach in seinem Fazit außer Acht lassen. Durch die stete Zunahme der bloßen Verwendung des Europabegriffs gewinnt auch seine Rolle als Chiffre für ein handlungsanleitendes Organisationsprinzip an Bedeutung. Wie Asbach prägnant darlegt, können mithilfe des Europabegriffs „die Vielfalt, die Differenzen und die Widersprüche [der einzelnen Akteure] zum Konstitutions-, Existenz- und Produktionsprinzip Europas erklärt werden“[xvii]. Weniger als ontologisch fixierter Gegenstand oder Raum denn als konstitutive Regel für kooperative Praxis auf dem europäischen Kontinent muss ‚Europa‘ zur Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert demnach verstanden werden. Rückgebunden an Asbachs Vorschlag, ‚Europa‘ als geschichtlichen „Grundbegriff“ zu fassen, kann man festhalten, dass ‚Europa‘ zwar durchaus zum Ende des 17. Jahrhunderts zum Konzept geworden ist, Europa aber nie sein kann, da es sich jeder ontologischen Definition und Fixierung entzieht. Wie Nietzsche bereits schrieb, “it is only that which has no history, which can be defined”[xviii]. Vielmehr zeichnet sich ein Grundbegriff dadurch aus, dass er in der Praxis essentiell umstritten ist und bleibt[xix] – sonst würde er nicht in Verwendung sein. Die Selbstverständlichkeit eines Konzepts ist somit stets begrenzt und seine sinn- und identitätsstiftende Wirkung bewährt sich nur in der Praxis.
„Von Europa zur Europäischen Union“
Aus der Perspektive der Internationalen Beziehungen und der EU Studies liegt die Stärke des Buches gänzlich in der Methode der Genealogie, die die Identitätspolitik um den Europabegriff sichtbar macht. So wird deutlich, wie die verschiedenen Mechanismen der Abgrenzung und die Vorstellung eines europäischen Ursprungs noch bis ins heutige ‚Europa‘ hineinwirken[xx]. Das Werk lässt sich folglich problemlos an die zahlreichen Publikationen innerhalb der primär konstruktivistisch oder post-strukturell geprägten Debatte der Internationalen Beziehungen und EU Studies über den konstruierten Wesensgehalt des kontemporären ‚Europas‘ und seiner identitätsstiftenden Wirkung für die Völker des europäischen Kontinents anschließen.
Vielmehr noch findet diese Debatte jedoch Widerhall in Bezug auf die Europäische Union (EU), welche spätestens seit der Maastricht-Periode als der politische und sozio-kulturell aufgeladene Inbegriff ‚Europas‘ gilt und somit nicht nur die Grenzen von ‚Europa‘ einer zusätzlichen Politisierung unterwirft, sondern auch die Frage, was eine oder die ‚Europäische Identität‘ ausmacht, zunehmend für sich entscheidet: Was ‚Europa‘ bedeutet, spielt sich also vorwiegend im Rahmen einer EU-Mitgliedschaft ab[xxi]. Niemals zuvor war die EU politisierter als heute, was darauf schließen lässt, dass sie von den EU-Bürgern im Alltag erfahren, gelebt und somit nicht nur imaginiert wird. Damit ist sie jenseits eines rein gedachten ‚Europas‘ (‚Europe pensée‘) gerückt und weit mehr Teil eines gelebten Europas (‚Europe vécue‘)[xxii].
Anders als häufig angenommen, deutet die Politisierung der EU also weniger auf die fehlende Relevanz der EU hin, sondern vielmehr auf die wachsende Autorität der EU als politische Ordnung jenseits des Nationalstaats, in der der langangenommene „permissive consensus“ eines elitengesteuerten Projekts einem produktiven, möglicherweise sogar „constraining dissensus“ gewichen ist[xxiii]. Politisierung einer politischen Entität impliziert folglich, dass ihre Ordnung, geplante und getroffene Entscheidungen sowie der Entscheidungsprozess selbst Objekte der öffentlichen Diskussion sind[xxiv] und somit zunehmend von den betroffenen Stakeholdern kontestiert werden können[xxv].
Der Prozess der Politisierung trägt demgemäß ein Janus-Gesicht: Durch die Verlagerung von Governance-Prozessen in Foren jenseits des Staates kann er Legitimitätskonflikte schüren oder aufbrechen lassen, birgt aber auch das Potenzial der Sinnvermittlung, der Verständigung durch tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und letztlich der Identitätsbildung jenseits des Nationalstaats.
Die Politisierung der EU und die damit einhergehende Identitätspolitik lässt sich spätestens im „least likely case“ (oder mausert er sich nun zum „most likely case“?) des Brexit-Prozesses des Vereinigten Königreichs beobachten, in Zuge dessen die EU durch die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs zunehmend zum Gegenstand der Auseinandersetzung geworden ist. Während die Bürger des Landes ihre gespaltene Meinung zur EU bereits durch den knappen Ausgang des Brexit-Referendums unter Beweis stellten, hat der langwierige und bisher ungelöste Scheidungsprozess zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich offenbart, welche Politisierungskraft der Prozess als solcher trägt und sowohl eine noch nie dagewesene Mobilisierung des integrationsfreundlichen Leave-Lagers als auch ein erneutes Erstarken des EU-skeptischen Lagers nach sich zieht. Die Begriffe „Leaver“ und „Remainer“ sind gar zu einer hoch-emotionalen Identitätskategorie geworden ist, die – anders als früher – intrinsisch mit der EU als politische Ordnung verbunden ist, egal ob im negativen oder positiven Sinn[xxvi].
Abseits des Brexit-Dramas fordert die allgemeine Zunahme von rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien, die innerhalb der EU Einzug in nationale Parlamente erhalten und z.T. Regierungsverantwortung übernommen haben, die EU als ordnungspolitische Instanz heraus, weil jene Parteien die EU-Autorität durch ihre demokratiefeindliche sowie antipluralistische Politik anfechten und ihre normativen Grundpfeiler wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte durch Nicht-Einhaltung von EU-Recht schmerzlich untergraben.
Die wohl prominentesten Beispiele sind Polen und Ungarn, die nun beide – neben mehreren EU- Vertragsverletzungsverfahren – einem sogenannten Artikel-7-EUV-Verfahren der EU unterzogen worden sind, indem in einem ersten Schritt festzustellen ist, ob die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EU-Vertrag genannten Werte durch den jeweiligen Mitgliedstaat besteht. Ganz im Gegenteil zu dieser EU-feindlichen Stimmung, die neben Parteien auch von europaweiten Bewegungen wie der Identitären Bewegung geschürt wird, zeigen sich auch EU-freundliche Gegenbewegungen, die entweder im Form von pan-europäischen Bürgerinitiativen wie Pulse of Europe oder neuen transnationalen Bewegungen/Parteien wie DiEM25 oder nationalen Parteien wie jene vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ins Leben gerufene La République En Marche den Erhalt der EU, wenn auch durch institutionelle Reformen, explizit zum Schwerpunkt ihres Programms machen.
Was bedeuten diese kontemporären Entwicklungen im Lichte des von Olaf Asbach verfassten Buchs zur historischen Semantik ‚Europas‘ und der Möglichkeit Europas, als Bedeutungshorizont zu fungieren? Zunächst verweisen die Entwicklungen auf multiple, widerstreitende Visionen von politischer Ordnung der EU, die keinesfalls nur auf zwei gegenüberliegende Pole im Sinne von das Europa der Nationalstaaten vs. die Vereinigten Staaten von Europa zu reduzieren, sondern genau in dem Spektrum zwischen diesen beiden Polen ausfindig zu machen sind. Auch wenn bspw. Macrons Vorstoß eines „souveränen Europas“ offenkundig supranationale Elemente aufweist und vorwiegend als Gegenentwurf zu Renationalisierungsbekundungen rechtsnationaler Parteien oder Allianzen verstanden wird, so kann man seinen Vorschlag nicht als das Ende des souveränen Frankreichs, sondern auch als seine Verlängerung verstehen. Selbst bei einem so prominenten framing wie dem Macrons bestehen demnach Interpretationsspielräume, die (möglicherweise intendiert) verschiedene Visionen politischer Ordnung innerhalb der EU zulassen. Das mag glühende Anhänger eines vereinten Europas, einer ‚immer engeren Union der europäischen Völker‘ stören, überraschen tut es nicht.
Auch normativ gesehen sollte uns diese Feststellung einer fehlenden Einigkeit über die zukünftige Gestalt und Funktion der EU nicht stören – solange über ihre Gestalt und Funktion überhaupt gestritten wird. Dies führt zum zentralsten Punkt, nämlich zum Stellenwert von Narrativen für den sozialen Zusammenhalt (oder Zerfall) im Allgemeinen und im EU-weiten Wettbewerb um normative Ordnungsvorstellungen in und von der EU im Besonderen. Dieser Punkt soll als Ergänzung zu Asbachs Nachzeichnung der Erfindung ‚Europas‘ durch die Zuschreibung einer Geschichte verstanden werden, da Narrative zwar in Asbachs Buch Erwähnung finden, aber nicht prominent platziert werden. Narrative stellen jedoch ein zentrales Medium dar, mittels dessen Sinnhaftigkeit generiert, aber auch hinterfragt werden kann.
Neben dem eng gefassten Wettkampf um Deutungshoheit durch Entscheidungsträger*innen in politischen Arenen eröffnen Narrative die Möglichkeit für alle Betroffenen, der sozialen und kulturellen Ordnung, die der institutionell gefestigten politischen Ordnung zugrunde liegt, aktiv Sinn zuzuschreiben und sich so die politische Ordnung kreativ anzueignen. Narrative über die EU bspw. können demnach, müssen es aber in keinem Fall, ein stabilisierendes, gar demokratisierendes Element darstellen, indem formale Institutionen im Alltag der Betroffenen in Erzählungen zur Anwendung kommen und somit selbstverständlich in Gebrauch sind.
Schaffen die EU-Institutionen es, den narrativen Wettbewerb nicht den populistischen und nationalistischen Parteien zu überlassen, sondern die Pluralität an EU-Narrativen sich zu Nutze zu machen, kann die EU eine neue Legitimierung durch kollektives Erzählen erfahren. Somit kann bspw. einer rechtsnationalistischen Allianz wie der des italienischen Lega-Parteivorsitzenden Matteo Salvinis – derzeitiger Name „Europäische Allianz der Völker und Nationen“ – jener „common-sense“ entzogen werden, den sie vorgibt zu beherbergen[xxvii].
Narrative oder Erzählungen sind seit Menschengedenken ein Medium des Verstehens und der Sinnstiftung, sodass das Erzählen eine universelle Praxis darstellt[xxviii]. Menschen versuchen die Welt weniger durch rationale Argumente zu verstehen, als durch glaubhafte narrative Strukturen ex-post zu rationalisieren; Phänomene und Objekte, die zunächst unbegreiflich erscheinen, werden gewöhnlich durch die Erzählstruktur von Anfang, Mitte und Ende in einen für das Individuum oder Gruppen intelligiblen Zusammenhang gesetzt und somit durch ein Narrativ erfahrbar und fassbar. Dabei muss eine Erzählung keinen direkten Realitätsbezug aufweisen.
Unabhängig also des Wahrheitsanspruchs schaffen sie Orientierung und Ordnung, beispielsweise durch Selektion aus einer täglichen Flut von Informationen oder Reduzierung von Komplexität in politischen Entscheidungsfindungsprozessen. Auch mit Bezug auf politische Gemeinschaften nehmen Erzählungen eine zentrale Stellung ein, da sie geteilte Bedeutungs- und Erwartungshorizonte schaffen, Normativität durch Moralisierung der Realität vermitteln und Mitgliedern Erklärungen liefern, wer sie sind und warum sie zusammengehören[xxix]. Durch ihre dynamische Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schreiben sie Gemeinschaften häufig einen Ursprung als auch ein Ziel zu, was bspw. als Lösung eines bestehenden Problems idealisiert wird. Die Sinnhaftigkeit einer Gemeinschaft wird also mit einem Zielbewusstsein gepaart, welches die Mitglieder einer Gemeinschaft dazu anhält, am politischen Projekt festzuhalten.
Ähnlich wie der Grundbegriff nach Koselleck können, ja müssen politische Narrative als Ort von Kontestation und kreativen Bedeutungswandels verstanden werden[xxx]; ohne ihre Flexibilität, Ambiguität und Polyphonie würden sie sich der veränderten Lebensrealität einer Gemeinschaft nicht anpassen können und ihre Suggestivkraft verlieren[xxxi]. Gerade in Bezug auf eine politische Gemeinschaft wie die EU, die sich im Status eines permanenten Werdens befindet, stellen Narrative eine zentrale Ressource dar, mittels derer bestimmte Autoritäts- und Legitimitätskonflikte ausgetragen und somit Entscheidungsverfahren und Handlungsfähigkeit einzelner Akteure und Institutionen entweder anerkannt und aberkannt werden können[xxxii].
Vielmehr noch nehmen Narrative eine richtungsweisende Funktion für politische Prozesse ein, wo Uneinigkeit über den Verlauf der Integration einer Gemeinschaft wie der EU oder eine ontologische Unsicherheit über das Selbst einer Entität insbesondere durch endogen oder exogen herbeigeführte Krisen besteht. Ausgehend vom Krisendiskurs der EU ab der weltweiten Finanzkrise 2007/08 konkurrieren seitdem eine Vielzahl von Narrativen um die hegemoniale Stellung in der EU. Während global betrachtet die liberale Ordnung als Metanarrativ zunehmend in Frage gestellt wird, ist es das schwächelnde Metanarrativ der friedensstiftenden EU, welches innerhalb der EU an Strahlkraft verloren hat. Einzeln durchaus widersprüchliche Weltanschauungen vereinend, konkurrieren laut Manners & Murray (2016) derzeit sechs unterschiedliche Narrative (das Friedens- oder Nobel-Narrativ, das sogenannte New Narrative, das Narrativ des Ökonomischen Europas, das des Sozialen Europas, jenes des Grünen Europas sowie das des Globalen Europas)[xxxiii].
Für mehrere Jahre als wenig überzeugend, weil unglaubwürdig abgetan, könnte sich das Grüne Europa als jenes Narrativ entwickeln, das in der Lage ist, eine kollektive Energie per Bottom-Up-Ansatz zu entwickeln und so die EU als intermediären und vermittelnden Akteur im globalen Kampf gegen den Klimawandel neu legitimiert. Die nun global, jedoch dezentral agierende und ursprünglich rein von Schüler*innen organisierte Fridays-for-Future-Bewegung schafft es, sich einen gesellschaftlichen Konsens über den Klimaschutz zu Nutze zu machen und sofortiges politisches Handeln seitens nationaler und EU-Entscheidungträge*innen einzufordern. Neben einzelnen authentischen Protagonistinnen wie Greta Thunberg und Luisa Neubauer erhält die Bewegung ihre „Durchschlagskraft“ insbesondere durch ihr „Narrativ der ‚Doppelten Zukunft‘“, wie Thomas Schlemmer vom Institut für Zeitgeschichte in München beobachtet: „Es geht nicht nur um die Zukunft des Planeten, sondern auch um die eigene Zukunft“ [xxxiv].
Die Bewegung verknüpft also die Frage des Klimaschutzes mit der Generationengerechtigkeit und bettet das Thema in einen zeitlichen Horizont von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Diagnose der derzeit ‚größten Krise der Menschheit‘ erfordert eine nie dagewesene Dringlichkeit des Handelns; diese entsteht durch den Verweis auf untätige Generationen in der Vergangenheit und wird somit von der nachkommenden Generation selbst ‚in die Hand‘ genommen. Dieses Handeln legitimiert sich durch die Norm der Generationengerechtigkeit, welche wissenschaftlich begründet ist, aber eine affektive Dimension besitzt, die starke Mobilisierungskraft in sich trägt.
Die EU ist bisher eine schlechte Erzählerin gewesen, insbesondere, weil sie durch top-down Initiativen versucht hat, das eine, sogenannte „New Narrative“, für den Zusammenhalt in der EU zu bestimmen[xxxv]. Sie täte gut daran, der nun nachfolgenden und politischen Generation in ihrem Anliegen zuzuhören und ihren Forderungen nachzukommen. Dies könnte den sozialen Zusammenhang innerhalb der EU stärken und eine, wenn auch nicht die einzige Vision für die zukünftige EU sein. Zumindest wäre sie entgegen der Narrative der neuen ‚sovereigntists‘ vorwärtsgewandt und nicht einer erfundenen Tradition des kulturell homogenen ‚Europas‘ verankert. Es lohnt sich, über die Zukunft der EU zu streiten.
[i] Asbach O (2011) Europa – Vom Mythos zur Imagined Community? Zur historischen Semantik ‚Europas‘ von der Antike bis ins 17. Jahrhundert. Hannover: Wehrhahn Verlag. S. 142.
[ii] ebd., 140-41.
[iii] ebd., 138.
[iv] ebd., 134.
[v] ebd., 138.
[vi] vgl. ebd., 116.
[vii] ebd., 114.
[viii] vgl. ebd., 115.
[ix] ebd., 163.
[x] ebd., 65-66.
[xi] ebd., 74.
[xii] ebd., 82.
[xiii] ebd., 87.
[xiv] ebd., 59.
[xv] ebd., 102.
[xvi] ebd., 166.
[xvii] ebd., 166.
[xviii] Zitiert in Berenskoetter F (2017) Approaches to Concept Analysis. Millennium: Journal of International Studies 45(2): 151–173, S. 159.
[xix] Gallie WB (1955) Essentially Contested Concepts. Proceedings of the Aristotelian Society 56: 167–198.
[xx] Das wohl jüngste Negativbeispiel stellt die paneuropäische Identitäre Bewegung dar, die sich auf die Antike als Europas kulturellen ‚Ursprung‘ beruft und ein klares dichotomes Abgrenzungsschema zwischen europäischer Christenheit und Islam verwendet, um seine ‚Abschottungspolitik‘ zu legimitieren.
[xxi] Siehe hierzu paradigmatisch die 1999 erschienene Sonderausgabe The Social Construction of Europe von Christiansen et al. im Journal of European Public Policy; siehe ebenfalls Herrmann RK, Risse T and Brewer MB (eds) (2004) Transnational identities: Becoming European in the EU. Lanham, Md.: Rowman & Littlefield
[xxii] Dieser Begriff geht auf René Girault’s ursprüngliche Unterscheidung zwischen Europe pensée, Europe voulue sowie Europe vécue zurück, die auch in Asbachs Buch Anwendung findet. Ich beziehe mich auf Kaelble H (2009) Identification with Europe and politicization of the EU since the 1980s. In: Checkel JT and Katzenstein PJ (eds) European identity: Cambridge, UK, New York: Cambridge University Press, pp. 193–212.
[xxiii] Hooghe L and Marks G (2009) A Postfunctionalist Theory of European Integration: From Permissive Consensus to Constraining Dissensus. British Journal of Political Science 39(1): 1.
[xxiv] Rauh C and Zürn M (2014) Zur Politisierung der EU in der Krise. In: Heidenreich M (ed.) Krise der europäischen Vergesellschaftung? Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, pp. 121–145, S. 125.
[xxv] Vgl. Wiener A (2014) A Theory of Contestation. Berlin: Springer.
[xxvi] Der aussichtsreiche Erfolg der neu gegründeten Brexit party für die anstehenden Europawahlen sollte hier nicht als Erfolg und Dominanz des Brexit– bzw. Leave-Lagers missverstanden werden
[xxvii] Donadio R (2019) A New European Political Bloc Wants to Dismantle Europe. The Atlantic, 4 April. Available at: https://www.theatlantic.com/international/archive/2019/04/far-right-euroskeptic-alliance-wants-dismantle-europe/586702/.
[xxviii] Koschorke A (2012) Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: S. Fischer, S. 16.
[xxix] Zur Moralisierung in Narrativen siehe White 1980: 18; White H (1980) The Value of Narrativity in the Representation of Reality. Critical Inquiry 7(1): 5–27.
[xxx] Patterson M and Renwick Monroe K (1998) Narrative in Political Science. Annual Review of Political Science 1(1): 315–331, S. 321.
[xxxi] op. cit. Fußnote 28, S. 21.
[xxxii] Gadinger F, Jarzebski S and Yildiz T (2014) Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie. In: Gadinger F, Jarzebski S and Yildiz T (eds) Politische Narrative: Konzepte – Analysen – Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer VS, pp. 3–38., S. 10.
[xxxiii] Manners I and Murray P (2016) The End of a Noble Narrative? European Integration Narratives after the Nobel Peace Prize. JCMS: Journal of Common Market Studies 54(1): 185–202.
[xxxiv] Marks MK (2019) „Fridays for Future“: Was die Bewegung so erfolgreich macht. Tagesschau.de, 17 Mai. Available at: https://www.tagesschau.de/inland/hintergrund-erfolg-f4f-101.html.
[xxxv] Vgl. Kaiser W (2017) One narrative or several? Politics, cultural elites, and citizens in constructing a ‘New Narrative for Europe’. National Identities 19(2): 215–230.