Florian Grotz über Winfried Steffani, Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien (1979)

Winfried Steffani (1927-2000) lehrte von 1967 bis 1990 als Nachfolger von Wilhelm Hennis Politikwissenschaft an der Universität Hamburg. In seiner vor 40 Jahren erschienenen Aufsatzsammlung über parlamentarische und präsidentielle Demokratie hat er konzeptionelle Unterscheidungen getroffen, die für die Vergleichende Regierungslehre wegweisend waren. Daher gilt das Buch noch heute als ein Schlüsselwerk der Teildisziplin.

Florian Grotz ist seit 2013 Inhaber des Lehrstuhls für Politikwissenschaft, insbesondere Vergleichende Regierungslehre an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg. Nach einem Studium der Politikwissenschaft, Slawistik und Philosophie an der Universität Heidelberg wurde er dort 1999 promoviert und habilitierte sich 2007 an der Freien Universität Berlin.


Wenn man Standardwerke der Vergleichenden Regierungslehre benennen soll, kommen einem vor allem monographische Abhandlungen in den Sinn. Also beispielsweise Robert Dahls „Polyarchie“ (1971), Arend Lijpharts „Democracies“ (1984), George Tsebelis‘ „Veto Players“ (2002) oder – im deutschsprachigen Raum – Klaus von Beymes „Parlamentarische Regierungssysteme in Europa“ (1970) und Dieter Nohlens „Wahlrecht und Parteiensystem“ (1986). Doch auch hier wird die Regel durch mindestens eine Ausnahme bestätigt: „Parlamentarische und präsidentielle Demokratie“ von Winfried Steffani. Dieser 1979 erschienene Band vereint unterschiedliche Aufsätze zu „strukturellen Aspekten westlicher Demokratien“. Empirisch konzentriert er sich fast ausschließlich auf die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien und die USA. Zudem wurden 13 seiner 15 Beiträge schon vorher publiziert. Dennoch gilt die Aufsatzsammlung bis heute als Schlüsselwerk der Teildisziplin.

Mit Ausnahme seiner Dissertation über die Untersuchungsausschüsse im Preußischen Landtag hat Winfried Steffani keine Monographie hinterlassen. Er war vielmehr ein Meister der kleinen Form – ein ausgezeichneter Stilist mit ungewöhnlichem Gespür für politisch-institutionelle Archetypen, die in komplexen historischen Fällen verborgen sind. Insbesondere seine konzeptionellen Unterscheidungen haben aufgrund ihrer logischen Stringenz, theoretischen Plausibilität und pointierten Darstellung Maßstäbe gesetzt. In seiner Schrift von 1979 sind es vor allem zwei Begriffspaare, die ihren bleibenden Stellenwert begründen.

Zum einen ist es der Gegensatz von Rede- und Arbeitsparlament. Steffani entfaltet ihn in einem der beiden unveröffentlichten Aufsätze auf gerade einmal zweieinhalb Seiten. Um seine zentralen Funktionen in der repräsentativen Demokratie zu erfüllen, muss sich ein Parlament einerseits der Öffentlichkeit als politische Arena präsentieren, in der die Volksvertreter um die „großen Linien und Probleme“ (1979: 97) ringen („Redeparlament“). Andererseits müssen die parlamentsinternen Strukturen und Verfahren so organisiert sein, dass sie zu sachlich angemessenen Entscheidungen führen („Arbeitsparlament“). Hier gewinnt das Parlament „den Charakter einer betont politischen Spezialbürokratie […, die] die Experten der Exekutive in höchst intensiver und kenntnisreicher Weise um Rede und Auskunft ersuch[t und deren] Tätigkeiten und Vorhaben bis zu Detailfragen und Einzelposten hin überprüf[t]“ (ebd.). In empirisch vergleichender Perspektive ist es besonders interessant, wie einzelne Parlamente zwischen diesen idealtypischen Polen verortet werden können. Steffanis Charakterisierung des Deutschen Bundestages als „arbeitendes Redeparlament“ (1979: 338) kann man nach wie vor unterschreiben.

Zum anderen beruht die wissenschaftliche Bedeutung der Aufsatzsammlung auf der Unterscheidung zwischen parlamentarischen und präsidentiellen Regierungssystemen. Steffani macht sie an einem verfassungsrechtlichen Kriterium fest: der „Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament“ (1979: 45). Die Entdeckung, dass die Möglichkeit des Parlaments, ein Misstrauensvotum gegen die Regierung zu stellen, die exekutiv-legislativen Beziehungen grundlegend prägt, ist heutzutage ein kaum hinterfragtes Gemeingut. Wenn man den zweiten (unveröffentlichten) Aufsatz aus „Parlamentarische und präsidentielle Demokratie“ liest, wird indes deutlich, dass dies Ende der 1970er Jahre keineswegs selbstverständlich war. Obwohl nach wie vor über die Definition semi-präsidentieller Zwischenformen kontrovers diskutiert wird (die Steffani selbst kategorisch abgelehnt hat): die politische Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament bleibt ein zentrales Kriterium zur Unterscheidung demokratischer Regierungssysteme. Insofern stehen die Vertreterinnen und Vertreter der international vergleichenden Politikwissenschaft noch immer auf Steffanis Schultern, selbst wenn sie „Parlamentarische und präsidentielle Demokratie“ nie gelesen oder zitiert haben.


Horst, Patrick 2014: Winfried Steffani (1927-2000), in: Jesse, Eckhard/Liebold, Sebastian (Hrsg.): Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Baden-Baden: Nomos, 725-738.

Steffani, Winfried 1960: Die Untersuchungsausschüsse des Preußischen Landtages zur Zeit der Weimarer Republik: ein Beitrag zur Entwicklung, Funktion und politischen Bedeutung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Düsseldorf: Droste Verlag.

Steffani, Winfried 1979: Parlamentarische und präsidentielle Demokratie. Strukturelle Aspekte westlicher Demokratien. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert