William Stern ist eine prägende Figur in der Geschichte der Universität Hamburg. Unter anderem war er an der Gründung der Universität im Jahr 1919 beteiligt und Inhaber des ersten Lehrstuhls für Philosophie und Psychologie. Clara Stern veröffentlichte gemeinsam mit William Stern zwei Monographien auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie. Für ihre Studie „Die Kindersprache“ rekonstruierten die Sterns die Sprachentwicklung ihrer Kinder, zu denen Günther Stern, der spätere Philosoph Günther Anders, gehörte.
Angelika Golegos und Christos Makrodimitris sind Absolventen des Masterstudiengangs Mehrsprachigkeit und Bildung/MOTION an der Universität Hamburg. Derzeit promoviert Christos Makrodimitris an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Angelika Golegos an der Universität Konstanz.
Das Ehepaar William und Clara Stern zog 1916 in die Hansestadt, als William den dortigen Lehrstuhl für Psychologie am Allgemeinen Vorlesungswesen übernahm. Drei Jahre später war er maßgeblich am Aufbau der Universität Hamburg beteiligt und erhielt die erste Professur für Philosophie und Psychologie. Seine hervorragenden fachlichen Leistungen spiegelten sich ebenfalls in seine Wahl zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1931 wider. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere wurde er 1933 auf Grund seiner jüdischen Herkunft in den Ruhestand versetzt und verließ Hamburg. Zusammen mit seiner Frau ging er in die USA ins Exil und lehrte bis zu seinem Tod 1938 als Gastprofessor an der Duke University in Durham. Im Gegensatz zu William hat Clara Stern (geb. Joseephy) keine akademische Ausbildung genossen, was unter Berücksichtigung der damaligen Lage der Frau nicht weiter verwundern darf. Trotzdem erwies sie sich als kompetente Partnerin in der Forschungstätigkeit von William zur kindlichen Entwicklung und verfasste die daraus entstandenen Monographien als Koautorin, in der hier behandelten sogar als Erstautorin. Clara starb in den USA wenige Jahre nach ihrem Ehemann.
Aus der Ehe zwischen William und Clara gingen drei Kinder hervor, der Reihenfolge nach: Hilde, Günther und Eva. Hilde, die aufgrund ihrer zweiten Ehe mit dem Nachnamen Marchwitza bekannt ist, hat unter anderem als Berufsberaterin in Hamburg gearbeitet und wurde während der NS-Zeit wegen ihrer politischen Tätigkeit inhaftiert. Günther hat sich nach seinem Studium an der Universität Hamburg als Philosoph und Schriftsteller ausgezeichnet, wobei er in seinen Veröffentlichungen das Pseudonym Günther Anders verwendete. Das jüngste Kind der Sterns, Eva Michaelis-Stern, engagierte sich für die Rettung von Kindern jüdischer Herkunft im nationalsozialistischen Deutschland und erwirkte die sichere Aufbewahrung der Manuskripte ihrer Eltern.
Obgleich man William primär große Leistungen in der Psychologie, Philosophie wie auch Pädagogik zuschreibt, so hat er mit seiner Frau einen entscheidenden Beitrag für die Sprachwissenschaft geleistet. Bevor die Familie Stern nach Hamburg zog, veröffentlichten Clara und William 1907 das Werk: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Ausgehend von der Annahme, die „Kindersprachkunde [sei] eine empirische Wissenschaft und [ließe] sich nicht allein mit literarischem Material begründen“ (S. 8)[1], haben die Sterns die Äußerungen ihrer drei Kinder von Geburt an über viele Jahre hinweg akribisch dokumentiert. Sie begannen mit den ersten Lautproduktionen und verfolgten ihren Entwicklungsverlauf bis zur Beherrschung der Vollsprache mit Eintritt ins Schulalter. Diese bereits recht umfangreichen Daten ergänzten sie durch die von weiteren Personen bereitgestellten Aufzeichnungen deutschsprachiger und nicht deutschsprachiger Kinder. Dadurch entstand eine für jene Zeit ungewöhnlich reiche Sammlung natürlichen Materials.
Die Äußerungen der Kinder wurden in tagebuchartiger Form festgehalten. Die Sterns verzichteten weitestgehend auf experimentelle Erhebungsmethoden, da sie ausschließlich am Verfolgen des natürlichen Erwerbsprozesses unter vollem Respekt der kindlichen Psyche interessiert waren. Die Kinder sollten sich nie beobachtet fühlen, sondern frei entfalten können. Wenn etwa eines der Kinder einem Elternteil eine Geschichte erzählte, schrieb der andere Elternteil diese nach Möglichkeit im Nebenzimmer zuhörend mit. Die Autoren setzten keine anspruchsvollen Experimente ein, wie erzwungenes Zahlenlernen und Farbenbenennen durch wiederholtes Vorsprechen und Abfragen. Sie führten lediglich simple Experimente durch und dies in relativ begrenztem Umfang. So haben sie zum Beispiel ihre Kinder gelegentlich dazu motiviert, die von ihnen vorgesprochenen Laute oder Wörter nachzuahmen. Außerdem haben sie durch Fragen versucht, zu ermitteln, wie die Kinder abstrakte Verben wie „denken“ interpretieren, oder sie haben geprüft, ob die Kinder ihnen explizit beigebrachte Vokabeln wirklich aufnehmen und länger beibehalten können. Im Zentrum der Datensammlung stand jedoch immer die spontane und ungesteuerte Sprachproduktion.
Die tiefgreifende Analyse des zusammengestellten Materials verrät neben der psychologischen Expertise der Autoren auch ein breites Wissen in der Sprachwissenschaft. Obwohl sich beide wiederholt als Nicht-Linguisten bezeichnen, wird der Leser von deren scharfsinnigen Beobachtungen sowie Schlussfolgerungen überrascht. So wird beispielsweise die Lautbildung im Laufe der ersten Spracherwerbsjahre mit bemerkenswerter fachlicher Kompetenz dargestellt. Dabei werden in der früheren Literatur eingeführte Fachtermini sogar kritisch betrachtet und auf ihre Gültigkeit hin hinterfragt. Darüber hinaus werden im gesamten Werk Fragen aufgeworfen, die bis heute intensiv diskutiert werden und noch lange nicht als abschließend geklärt gelten. Mitunter wird auf Unterschiede der Sprachentwicklung je nach Geburtsreihenfolge bei Geschwistern sowie auf die gegenseitige Einflussnahme von Zwillingskindern eingegangen. Die Daten der drei Kinder Sterns legen zum Beispiel die Vermutung nahe, dass die Zweitgeborenen in einem früheren Alter das Personalpronomen ich zur Selbstbezeichnung verwenden als die Erstgeborenen. Man bedenke, dass Eltern in der Interaktion mit ihren Kindern die eigene Sprache stark vereinfachen und unter anderem das abstrakte Personalpronomen weniger häufig verwenden. So wird ein Satz wie „Ich lese dir was vor.“ durch „Papa liest dir was vor.“ ersetzt. Daraus resultierend neigen Erstgeborene dazu, sich selbst mit ihrem Namen zu bezeichnen, lange bevor sie zum Personalpronomen wechseln, d. h. „Anna will Kuchen.“ erscheint früher als „Ich will Kuchen.“. Zweitgeborene dagegen verkürzen diese Phase, da sie in ihrem Input Äußerungen ihrer Geschwister wie etwa „Ich auch!“ oft hören und nachahmen.
Beobachtungen solcher Art machen deutlich, wie eng die Sterns Sprache mit psychosozialen Faktoren verbunden sehen. Für sie fungiert der Spracherwerb als ein Fenster zum Gesamtentfaltungsprozess der kindlichen Psyche. Den Anfang alles Sprechens sehen sie in dem inneren Verlangen nach sozialer Interaktion mit den Bezugspersonen. Die Brücke zwischen Sprache und Psyche zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Analyse. So wird etwa davon ausgegangen, dass Kinder zunächst ihr eigenes Befinden zum Ausdruck bringen, bevor sie sich mit konstatierenden Aussagen befassen. Dies spiegelt sich zum Beispiel in der Verwendung der ersten Adjektive wider, die immer in Bezug auf innere Zustände stehen: müde, hungrig, erfreut. Erst dem folgend gewinnen Adjektive für Merkmalbeschreibungen von Gegenständen an Bedeutung: groß, schön, dunkel. Somit bewegt sich der Spracherwerb gemeinsam mit der Entwicklung der eigenen Person, in diesem Fall vom egozentrischen Denken hin zu einer objektiveren Wahrnehmung der Außenwelt.
Nicht minder beeindruckend als die aufgeführten Erklärungen wirkt das methodologische Vorgehen der Autoren. Die Daten werden in zweifacher Weise analysiert. Einerseits wird die sprachliche Entwicklung in ihrem chronologischen Verlauf dargestellt, andererseits werden detaillierte Beschreibungen des kindlichen Sprachstandes zu verschiedenen Altersstufen vorgenommen. In beiden Fällen werden Überblickstabellen erstellt, die nicht nur die Produktionen der eigenen Kinder, sondern auch die aus anderen Studien berücksichtigen. Um Vergleiche zwischen den jeweiligen Ergebnissen zu ermöglichen, werden gelegentlich sogar statistische Verfahren herangezogen. Allerdings sind die Sterns bedacht, keine voreiligen Generalisierungen zu treffen. Sie betonen wiederholt, dass jedes Kind ein Individuum ist, sich somit zwar allgemeine Tendenzen, aber keine absolutistischen Erwerbsstufen bestimmen lassen. Weiterhin reflektieren sie kritisch, dass die beobachteten Kinder überwiegend aus der gebildeten Mittelschicht stammen. Ob sich Kinder aus anderen Schichten ähnlich verhalten, müsse in weiteren Studien geklärt werden. Damit wird ein noch heute aktuelles Defizit in der Spracherwerbsforschung bereits vor so vielen Jahren aufgeworfen.
Allerdings finden sich im Werk auch manche Positionen, an deren Gültigkeit heutige Linguisten Zweifel äußern würden. Vor allem die Unterscheidung der Sprachen der Welt in primitive und höhere, wobei Letztere vorwiegend die Indogermanischen einschließen und eine höhere Komplexität als Erste aufwiesen, hat inzwischen erheblich an Legitimation verloren und fällt eher negativ ins Auge.
Abgesehen von vereinzelten Ansichten dieser Art, die ohnehin nicht den thematischen Schwerpunkt der Monographie betreffen, lassen sich keine nennenswerten Schwachstellen in der Erhebung wie Analyse der gesammelten Daten feststellen. Folglich handelt es sich um ein Werk, dass immer noch auf Grund seiner herausragenden Aufarbeitung der kindlichen Sprachentwicklung von großem Interesse für Linguisten sowie Nicht-Linguisten ist. Dies bestätigt ebenfalls der häufige Verweis auf den großen Fundus der Sterns in der aktuellen Literatur zu Spracherwerbsschritten bei Kindern. Den wichtigsten Beitrag des Werkes sehen wir darin, dass es die Kindersprache als eine eigenständige Variante wertschätzt, welche eigenen Regeln auf ihrem Weg zur Vollsprache folgt und nicht durch die Perspektive der Erwachsenen zu interpretieren ist. Die Sprache der Kinder erachten die Sterns weder als eine fehlerhafte Sprachform, noch als eine Vereinfachung der Erwachsenensprache. Vielmehr sehen sie in ihren Abweichungen von der Vollsprache Belege für die kindliche Wahrnehmung und Bewertung der Welt. Somit entdeckt der durch die Seiten des Buches wandernde Leser mit den Worten von Clara und William Stern, „wie das für uns so abgegriffene Mittel der Sprache im Kinde ein Weltbild von anschaulichster Farbigkeit hervorzurufen vermag“ (S. 418).
[1] Stern, Clara & Stern, William. ([1907] 1965). Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung (4. Aufl.). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.