Detlef Nolte ist Professor an der Universität Hamburg und langjähriger stellvertretender Direktor des German Institute for Global and Area Studies (GIGA) Hamburg. Sein Schwerpunkt liegt in den Lateinamerikastudien, mit besonderem Augenmerk auf Demokratieschutz und demokratischem institutionellem Wandel. Er hat von 2006 bis 2018 das Lateinamerika-Institut am GIGA geleitet und den Studiengang Lateinamerikastudien an der Universität Hamburg mitgeprägt.
Laura von Allwörden hat sowohl ihr Bachelor- als auch ihr Master Studium der Politikwissenschaft an der Universität Hamburg absolviert. Seit September 2019 promoviert sie an der Universität Maastricht in dem Projekt „Who gets to live forever? The Decline and Death of International Organisations“.
Die Krise der internationalen Ordnung und ihr damit verbundener Wandel wird gegenwärtig verstärkt im politischen wie auch im wissenschaftlichen Diskurs diskutiert (Ikenberry 2017; Nye 2014). Um diesen Wandel und die damit einhergehenden (möglichen) Verschiebungen der Machthierarchien einordnen und aufschlüsseln zu können, versuchen Sozialwissenschaftler_innen verschiedene erklärende Parameter zu identifizieren und Konzepte zu entwickeln. Einen Beitrag hierzu leistet der Hamburger Politikwissenschaftler Detlef Nolte gemeinsam mit anderen Autor_innen in Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, indem versucht wird ein „analytisches Konzept zur Identifikation, Analyse und zum Vergleich von Staaten, die den Status einer regionalen Führungsmacht anstreben“ zu entwickeln und eine Abgrenzung zu bestehenden, alternativen Konzepten zu finden (Flemes, Nabers, Nolte 2012a: 12). Die Autor_innen halten als leitende These fest, dass „[die] Herausbildung der künftigen Weltordnung […] auch von der Durchsetzung und Verhinderung regionaler Führung und damit einhergehenden Konflikten abhängen [wird]“ (ibid: 13). Im Folgenden sehe ich von einer Zusammenfassung der Beiträge zu Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven ab und greife den Anspruch des Bandes auf, ein Konzept und eine Analyseform für die titelgebenden Begriffe vorzuschlagen. .
Auch wenn die Autor_innen sich der Schwierigkeiten ihres Unterfangens bewusst sind, wie sie abschließend festhalten, nämlich, „dass es sich bei den regionalen Führungsmächten um ein komplexes Thema handelt, das nur multidisziplinär und mittels unterschiedlicher theoretischer Ansätze umfassend behandelt werden kann“ (Flemes, Nabers, Nolte 2012b: 265), gilt es an dieser Stelle einen weiteren Schritt zurückzutreten, um sich der übergeordneten Problematik konzeptueller Einordnungen und der Frage nach der Angemessenheit, wenn nicht sogar Wahrheit, von Konzepten bewusst zu werden. Oftmals werden in den Wissenschaften, nicht nur in der Politikwissenschaft, Konzepte als „natürlich“ oder „gegeben“ begriffen. Sie sollen helfen, die Komplexität der Welt zu minimieren, oder zumindest zugänglicher zu machen. Vereinfacht gesagt, sollen sie helfen, die Welt zu verstehen. Dabei wird ihnen jedoch oft eben diese „Gegebenheit“ zugesprochen, die sie etablieren, sobald Konzepte in Sprache und Praktik ständig gebraucht und somit reproduziert werden. Dies führt zu dem erwähnten Verständnis ihrer Natürlichkeit, als seien Konzepte schon immer da gewesen, was nicht nur ihre kritische Hinterfragung häufig verhindert, sondern auch reale Implikationen und Konsequenzen für die durch das Konzept beschriebenen Kontexte, Themen oder Gegenstände, in diesem Fall von „regionalen Führungsmächten“, Staaten bedeutet. Eine Zuordnung durch Konzepte, eingegrenzt durch Sprache, die aber nicht von der Realität abzugrenzen ist und auch nicht abgegrenzt werden soll, da eben diese durch das implizite Wissen vermittelt durch Sprache organisiert werden soll, prästrukturiert menschliches und so auch politisches Handeln (Berenskoetter 2017: 154, Berenskoetter 2016: 1). In diesem Sinne werden durch Konzepte, besonders durch solche, die Staaten Machtgrade zusprechen, Machthierachien und so die internationale Ordnung produziert und reproduziert. Konzepte sind so ein Teil der komplexen Verkettung der Reproduktion der Welt in einem „Mantel der Vereinfachung“. Eine stete Bewusstwerdung über diese Komplexität und Konstruktion, also Nicht-Naturgegebenheit von Konzepten, sowie ihre De-Naturalisierung, sind notwendig, wenn man sie zu entwickeln oder zu gebrauchen versucht, um fundierte und kritische Interpretationen sowie Bewertungen vornehmen zu können (Anderl, Wallmeier 2018: 70). Im Einklang zu dieser Perspektive schreibt Dirk Nabers in seinem Beitrag Macht, Führung und Hegemonie:
„Sobald ein hegemonialer Diskurs auf dieser Basis institutionelle Prinzipien, Normen, Regeln und Verfahren generiert, schließt er alternative Bedeutungsmuster und Rahmenwerke für Akteursverhalten weitestgehend als illegitim, unmoralisch, irrational und, schließlich inkohärent aus“ (Nabers 2012: 134).
Vor diesem Hintergrund lässt sich der Verweis von Nolte et. al, dass generell ein verbreiteter Dissens über die Verwendung der Begriffe zu Regionalmächten in den Sozialwissenschaften besteht, einerseits tiefer begreifen und andererseits auch als weitaus gravierender bewerten denn als bloße Randnotiz (Flemes, Nabers, Nolte 2012a: 11). So besteht eine hohe Diversität an Konzepten, wie „(neue) regionale Führungsmächte“, „Führungsmächte“, „Ankerländer“, „Schwellenländer“, „Drivers“, „Emerging Powers“ oder „Intermediate Powers“, also all jene, die einen regionalen Führungsanspruch und Machtanstieg aufweisen, die zwar individuell definiert werden, jedoch durch ihre Überschneidungen teils austauschbar verwendet werden, und somit nicht eindeutig voneinander abgegrenzt werden können (Flemes, Nabers, Nolte 2012a: 11; Nolte 2012: 23). Schwierigkeiten hierbei bereitet vor allem die nicht einheitliche Definition von Macht (Nolte 2012: 22). Aber eben gerade diese ist die Grundlage zur Konzeptualisierung „regionaler Führungsmacht“ innerhalb einer bestimmten Region und wiederum zur Einordnung in der gesamten internationalen Ordnung (ibid.). Um Macht „sichtbar“ machen zu können, wird sie vorrangig anhand materieller Ressourcen bei der Definition von „Führungsmächten“ gemessen. Jedoch kritisieren die Autor_innen zurecht, dass bei der isolierten Evaluation individueller Staaten und deren Ressourcen zur Feststellung ihrer regionalen Macht oft die Analyse des Verhältnisses von Macht und politischer Führung, also auch das Verhältnis zu anderen Staaten sowie der internationalen Ordnung und so die Komplexität dieser Verhältnisse zu gering gewichtet bleibt (Flemes, Nabers, Nolte 2012a: 13). Außerdem wird oft davon ausgegangen, dass jede Region „automatisch eine regionale Führungsmacht aufweist“, jedoch sei dies eine empirische Frage (Nolte 2012: 36), und somit nicht pauschal haltbar.
Im selben Band schreibt Nadine Godehardt über die Schwierigkeit der Konzeptualisierung von Regionen, dass
„[t]rotz der anhaltenden Diskussion über die Regionen in den Internationalen Beziehungen […] weder der Begriff der Region ‚eindeutig’ konzeptionalisiert noch die Region als eine eigenständige Analyseebene oder regionale Dimension eingeführt worden [sind]“ (Godehardt 2012: 55).
Die Feststellung über die Komplexität der Definition von Macht und der arbiträren Klarheit von Regionen verdeutlicht hier umso mehr die nicht vorhandene Natürlichkeit von Konzepten, in diesem Kontext dem der „regionalen Führungsmacht“. An dieser Stelle möchte ich es den Autor_innen gleichtun und auf John Agnew verweisen, der die Komplexität von „Regionen“, und so auch Konzepten generell, auf ihrer Konstruktion begründet und so auf das Spannungsverhältnis von Macht, Akteuren und Regionen hinweist:
„It also leads to the unfortunate opposition (…) between those who claim the mantle ‘real’ for their regions and those who regard all regions as mere interventions of an observer whose definitions say more about the political-social position of that observer that the phenonema the regions purport to classify.“ (Agnew 1999: 92 in Godehardt 2012: 60)
Auch Katzenstein und Hemmer (2002: 57), auf die von Nolte verwiesen wird, begreifen Regionen als politische Konstruktionen und nicht als durch Geographie vorgegebene Einheiten (in Nolte 2012: 43). Melanie Hanif resümiert zum Konzept der „regionalen Führungsmacht“ aufgrund der diversen Spannungsverhältnisse der Aspekte, die in diesem Konzept gebündelt werden, dass es sich vorrangig um einen „vielfach konnotierten zusammengesetzten Ausdruck“ mit „konzeptionellen Unschärfen“ und nicht um eine „umfassende Kategorie“ handeln kann (Hanif 2012: 100).
Trotz dieser Kritik, der sich Nolte auch bewusst ist, versucht er, eine Definition „regionaler Führungsmächte“ zu geben, die auf drei Ebenen aufbaut: erstens der Anspruch auf Führung und Einfluss, zweitens ideologische und materielle Ressourcen zur Ausübung dieser Machtprojektion und drittens Aktivitäten und Ergebnisse, die den tatsächlichen (großen) Einfluss belegen (Nolte 2012: 35). Letzteres ist vor allem abhängig von der Akzeptanz und Anerkennung durch die anderen betroffenen regionalen Akteure (ibid. 31). Ob eine wirkliche Anerkennung durch die Betroffenen jedoch tatsächlich eine Bedingung darstellt, ist zu bezweifeln. Es wird zwar deutlich, dass ohne jene externe Wahrnehmung von Macht keine reale Machtprojektion erfolgt. Denn „power is a potentiality, not an actuality – indeed a potentiality that may never be actualised“ (Lukes 2005: 478, in Hanif 2012: 133). Jedoch stellt jede Art externer Wahrnehmung eine Reflexion beziehungsweise Reproduktion von Macht und Status dar. Ein Staat kann zwar, wie in Ebene eins gefordert, einen Machtanspruch stellen, dieser kann aber nur durch die externe Reproduktion des Machtstatus gewährt und so durchsetzbar gemacht werden. Ob diese Reproduktion auf Akzeptanz oder Unterdrückung beziehungsweise Anfechtung aufbaut, ist aus meiner Perspektive nicht vollends relevant. Relevant wird diese Unterscheidung erst bei der empirischen Kontextualisierung und normativen Bewertung der Machtformen.
Festzuhalten bleibt, dass die Autor_innen gleichzeitig einerseits die Schwierigkeiten zur Konzeptualisierung von Macht allgemein und in diesem Fall zur „regionalen Führungsmächten“ verdeutlichen und anderseits durchaus einschlägige Definitionen zu eben diesen entwickeln und festhalten. Den Autor_innen gelingt es, einen reflektierten Ansatz zu entwerfen – welcher jedoch an Tiefenschärfe vermissen lässt. Da der Begriff der „regionalen Mächten“ die komplexen Konzepte Macht und Region kombiniert, welche jeweils als mehrschichtig zu begreifen sind, ist zu erwarten, dass dieses Problem auch bei vergleichbaren Versuchen auftreten wird. Macht und Regionen ergeben sich nicht aus materiellen, definitiven Ressourcen oder Grenzen. Sie sind das abstrakte Resultat aus normativen, ideologischen, kulturellen, historischen, emotionalen, kollektiven wie auch individuellen Kontexten und Interaktionen, deren Erforschung wohl nie vollkommen abgeschlossen werden kann.
Referenzen
Anderl, Felix and Wallmeier, Philip (2018): Modi der Kritik des Internationalen Regierens. Ein Plädoyer für immanente Kritik. Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 25 (1), pp. 65-89.
Berenskoetter, Felix (2016): Unpacking Concepts in Berenskoetter, Felix (2016): Concepts in world politics. London [a.o.]: SAGE, pp. 1-20.
Berenskoetter, Felix (2017): Approaches to Concept Analysis. Millennium: Journal of International Studies. 2017, Vol. 45(2), pp. 151–173.
Flemes, Daniel; Nabers, Dirk; Nolte, Detlef (2012a): Einleitung in Nolte, Detlef et. al (2012): Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, Baden-Baden: Nomos, S. 11-16.
Flemes, Daniel; Nabers, Dirk; Nolte, Detlef (2012b): Weiterführende Forschungsperspektiven in Nolte, Detlef et. al (2012): Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, Baden-Baden: Nomos, S. 265-268.
Godehardt, Nadine (2012): Regionen und regionale Ordnungen in den Internationalen Beziehungen in Nolte, Detlef et. al (2012): Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, Baden-Baden: Nomos, S. 53-71.
Hanif, Melanie (2012): Zum Stand der Debatte um das Machtkonzept im Forschungskontext regionaler Führungsmächte in Nolte, Detlef et. al (2012): Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, Baden-Baden: Nomos, S. 99-118.
Ikenberry, G. John (2014): The Illusion of Geopolitics: The Enduring Power of the Liberal Order. Foreign Affairs 93, p. 80-90.
Nabers, Dirk (2012): Macht, Führung und Hegemonie in Nolte, Detlef et. al (2012): Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, Baden-Baden: Nomos, S. 119-136.
Nolte, Detlef (2012): Regionale Führungsmächte: Analysekonzepte und Forschungsfragen in Nolte, Detlef et. al (2012): Macht, Führung und Regionale Ordnung: Theorien und Forschungsperspektiven, Baden-Baden: Nomos, S. 17-52.
Nye, Joseph (2017): Will the Liberal Order Survive? The History of an Idea, Foreign Affairs, Jan/Feb, p. 10-16.